Hat Paulus das Christentum entscheidend geprägt und bewußt Mythen erfunden?
Nietzsche war, wie sein Freund Overbeck, ein kritischer Theologe, der Ansicht, dass es Paulus war, der das Christentum begründet hat und nicht Jesus.
Wenn ich sage "die Verfasser", dann beziehe ich mich auf das Werk: Price, Robert M. 2012. The amazing colossal apostle: the search for the historical Paul. Salt Lake City: Signature Books.
Wir haben 13 Briefe, die den Namen von Paulus tragen. Sechs davon gelten im theologischen Mainstream als Fälschungen, die im Namen des Paulus verfasst worden sind, aber nicht von ihm stammen können.
Zu groß sind die stilistischen und inhaltlichen Unterschiede. Theologen nennen dies nicht Fälschungen, obwohl man dies schon in der Antike unterschied, da es recht häufig vorkam, dass Ideen unter fremdem Namen veröffentlich wurden.
Der wissenschaftliche Ausdruck dafür ist "pseudoepigraphisch". Man nahm an, dass es sich um "Paulusschüler" handelte, ein Indiz oder Beleg dafür gibt es jedoch nicht.
Price nimmt die Kritik der frühen Radikalkritiker auf, die schon bemerkt hatten, dass auch die als "echt" geltenden Paulusbriefe mehr als einen Autor gehabt haben müssen.
Tatsächlich kann man die unterschiedlichen Stile und Inhalte der beiden Autoren recht sauber voneinander trennen: Es gibt so etwas wie einen gnostischen Ur-Paulus, und einen katholischen Autor, der die gnostischen Ansichten des Paulus "katholisiert".
Der katholische Autor der Paulusbriefe kann seine Anmerkungen nicht im ersten Jahrhundert geschrieben haben, Price verdächtig Polycarb (69–156, er galt als der erste Bischof der katholischen Kirche) als den katholischen Autor.
In den Paulusbriefen spiegelt sich die Auseinandersetzung zwischen der Kirche Markions und der entstehenden katholischen Kirche wieder.
Markion hat Mitte des zweiten Jahrhunderts die Paulusbriefe "entdeckt" und quasi aus dem Ärmel gezaubert.
Niemand hatte zuvor von Paulus gehört, obwohl er doch angeblich weit gereist war und mit den Philosophen seiner Zeit diskutiert haben soll.
In den angeschriebene Gemeinden sind die Briefe jedenfalls nicht überliefert worden, auch dort kannte niemand einen Paulus.
Vollendet wird die "Katholisierung" des Paulus dann in der Apostelgeschichte, die vom selben anonymen Autor wie das Lukasevangelium verfasst wurde.
Der als Lukas bezeichnete Autor nimmt keine Rücksicht auf den gnostischen Ur-Paulus, sondern verdreht alle seine Lehren ins Katholische.
Die wüsteste Märchengeschichte des Neuen Testaments"!
Detering weist nach, dass die Geschichte des Paulus nach der Biographie des Simon Magus gestrickt worden ist, siehe: Detering, Hermann. 1995. Der gefälschte Paulus: das Urchristentum im Zwielicht. 1. Aufl. Düsseldorf: Patmos. Der "Erzketzer" Simon Magus lieferte das Vorbild für Paulus.
Der Einfluss des markionitischen Ur-Paulus auf das Christentum ist eher gering, hier hat sich die katholische Auffassung weitgehend durchgesetzt. Das geschah sicher zum Guten der katholischen Kirche, wenn man Macht und Einfluss denn als "gut" bezeichnen will.
Man kann sagen, dass die katholische Kirche sich im Streit mit Markion über die Fälschung und Verfälschung der Paulusbriefe durchgesetzt hat.
Schon Markion beklagt sich darüber, dass von den Paulusbriefen von einem anderen Autor verlängerte, verfälschte Fassungen in Umlauf seien.
Man hatte im Urchristentum keine eigene Schrift, nur das Alte Testament, und es gab keinerlei Skrupel, Briefe und Geschichten nach eigenem Gusto zu fälschen, oder gleich ganz neue Erfindungen zu präsentieren.
Bis ins Mittelalter hinein war die Kirche die Hauptquelle sämtlicher Fälschungen, einige Klöster hatten gut florierende Fälscherwerkstätten.
Das war bewährte theologische Arbeit. Anzunehmen, dass dies im 2. Jahrhundert anders war als, sagen wir mal, im 8. Jahrhundert, als die "Konstantinische Schenkung" von der katholischen Kirche verbreitet wurde, ist äußerst naiv.
In der katholischen Kirche galt immer "der Zweck heiligt die Mittel", und schon in den Paulusbriefen finden wir ähnliche Aussagen: Wenn es dem Glauben dient ist alles erlaubt.
Fromme Geschichten wurden im großen Umfang erfunden und in Umlauf gebracht. In Moss, Candida R. 2013. The myth of persecution: how early Christians invented a Story of Martyrdom. 1st ed. New York: HarperOne, weist die Autorin akribisch nach, dass die ganze Geschichte der Christenverfolgung und alle Märtyrergeschichten größtenteils freie Erfindungen sind.
Für die Verbreitung des "wahren Glaubens" ist jede Fälschung, jede Lüge, erlaubt.
Mehr Beispiele für diese durchgängig ausgeübte Praxis finden wir bei Deschner in der "Kriminalgeschichte des Christentum".
Man kann also sagen, dass die katholische Kirche ihren eigenen Mythos erfunden und u. a. über die Fälschungen und Verfälschungen der Paulusbriefe durchgesetzt hat.
Ob das dem Glauben gedient hat, kann man sicher mit "Ja" beantworten, ob es "gut" war ist eine andere Frage.
Wenn man etwas für wahr hält, daran glaubt, ist es dann gut, dies mit Lügen und Betrug durchzusetzen, weil man keine Belege und Indizien für seine Ansichten hat?