Die letzte Tür – der Haupteingang des Krankenhauses – fliegt unter Andys Schulterstoß auf und das Einbrechen der Dunkelheit lässt alles noch angsteinflößender erscheinen. Mit Kiras gebrochenem Körper im Arm stürmt er über den Parkplatz. Für Kira dehnt sich die Zeit wie Sirup. Jeder Schritt ihres Vaters lässt ihre Rippen in den Verband krallen, als würden Messer durch ihr Fleisch gleiten. Durch den Schleier der Schmerzen fixiert sie sein Gesicht: kalt, maskenhaft, als wäre er aus Stein gemeißelt. Seine Pupillen sind zu schmalen Schlitzen verengt, die Mundwinkel nach unten gezogen, als kämpfe er gegen ein Grinsen. Seine weißen, strähnigen Haare kleben an der schweißnassen Stirn, während er den Kopf ruckartig hin und her wirft, um die Sicht freizuhalten. Im Mondlicht wirkt sein glattrasierter Kiefer wie ein Eisenblock – kantig, spitz.
Das Auto rast durch die Nacht, Andy zielstrebig am Steuer, Kira liegt auf dem Rücksitz. Die Reifen quietschen bei jeder Kurve, die Scheinwerfer blenden entgegenkommende Autos, doch Andy tritt das Gaspedal durch. Kiras Kopf prallt fast gegen die Autotür. Die Stadt verschwindet hinter ihnen, ersetzt von schroffen Bergen und Wäldern, die wie schwarze Riesen in den Himmel ragen. Keine Lichter, keine Häuser – nur die Finsternis, die sie verschlingt, und eine bescheidene Hütte, die wie ein vergessener Zufluchtsort am Rand des Nichts auftaucht.
Als er sie in die Hütte trägt, knarzen die Dielen unter seinen schweren Schritten. Der Raum ist erfüllt von einem sanften Holzduft und dem frischen Geruch von gewischten Bodens, der Kira wie eine vertraute Umarmung umhüllt. Es ist offensichtlich, dass Andy vor dem Besuch im Krankenhaus hier ordentlich sauber gemacht hat und mit dem Ziel ins Krankenhaus gefahren ist, um Kira hierher zu verschleppen. Auf einem Bettgestell sinkt Kira in ein gemachtes Krankenbett.
Dieser Ort ist Kira nicht unbekannt. Genau hier, in dieser Hütte, in diesem Bett, lag ihre Mutter. Sie hatte viel gelitten und Kira war oft an ihrer Seite und weinte mit ihr. Es war absehbar, wie sich der Zustand der Mutter immer verschlechterte; sie spuckte immer häufiger Blut und wurde schwächer und blass. Sie war Kiras Anker, die beste Freundin und die beste Mutter. Zwischen ihnen gab es nie Streit, nur Zusammenhalt und Ermutigung, als wäre die Mutter-Tochter-Beziehung nur in einer Utopie möglich. Dieser harmonische Zusammenhalt ließ beide ihre Kräfte bündeln. Ihr strahlendes Lächeln erwärmte Kiras Herz, weshalb Kira immer jede Gelegenheit nutzte, um ihrer Mutter dieses Lächeln mit scherzhaften Sprüchen zu entlocken. Die Mutter dagegen wusste, bei welcher Gelegenheit sie ihre albernen Tanzeinlagen vorführen konnte, um Kira bei schlechter Laune aus der Reserve zu bringen. Das alles führte zu einer Überidealisierung der Mutter. Es gab gewiss diese schönen Zeiten.
Ihre Mutter litt an Krebs, und auch ihr versuchte der Vater zu helfen, leider ohne Erfolg. Im Gegenteil, der Krebs der Mutter hat sich immer weiter ausgebreitet. Andy hatte oft Medikamente eingesetzt, für die es keine wissenschaftliche Evidenz gab, dass sie gegen Krebs helfen könnten. Wissentlich darüber breitet sich weiter die Angst in Kira aus. Sie glaubt nicht, dass ihr Vater sie heilen kann, denn genau das hat er ihrer Mutter damals auch versprochen. Es fühlt sich an wie ein Déjà-vu, nur dieses Mal ist Kira an der Stelle ihrer Mutter, mit dem Unterschied, dass sie niemanden hat, der ihr zur Seite steht und mit ihr zusammen weint.