Grundsicherung mit verschärften Sanktionen für Arbeitssuchende statt Bürgergeld?
Das Bürgergeld wurde seit seiner Einführung im Jahr 2023 immer wieder kontrovers diskutiert. Die vermutlich künftige Regierung aus Union und SPD plant laut Koalitionsvertrag eine umfassende Reform des Bürgergelds. „Wir werden Vermittlungshürden beseitigen, Mitwirkungspflichten und Sanktionen im Sinne des Prinzips Fördern und Fordern verschärfen“, heißt es darin. Das bisherige System soll zu einer „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ umgestaltet werden. Ziel ist es, die Rechte und Pflichten für beide Seiten verbindlicher zu regeln.
Konkret geplant sind verschärfte Sanktionen und Kontrollen, sodass Leistungskürzungen schneller greifen können. Wer als arbeitsfähige Person zumutbare Arbeit wiederholt ablehnt, muss als sogenannter „Arbeitsverweigerer“ mit einem vollständigen Leistungsentzug rechnen. Künftig müssen sich die Leistungsbeziehenden ferner aktiver um Arbeit bemühen. Dafür soll eine monatliche Meldepflicht beim Jobcenter eingeführt werden. Insofern soll auch die Definition zumutbarer Arbeit verschärft werden, Personen müssen etwa längere Pendelzeiten akzeptieren. Die Möglichkeit, Ersparnisse zu behalten, soll zudem zeitlich stärker begrenzt werden.
Die Bürgergeld-Reform steht in der Kritik. Die monatliche Meldepflicht und die strengeren Zumutbarkeitsregeln werden als bürokratisch und potenziell stigmatisierend kritisiert. Sozialverbände und Gewerkschaften warnen vor einer sozialen Härte, da die verschärften Sanktionen und der mögliche vollständige Leistungsentzug existenzbedrohend sein könnten. Sie verweisen auf das Bundesverfassungsgericht, das eine vollständige Leistungsstreichung nur in absoluten Ausnahmefällen für zulässig hält. Die Jusos und weitere Teile der SPD lehnen die Rückabwicklungspläne zum Bürgergeld ab. Sie kritisieren, dass die Reform eine Abkehr von sozialdemokratischen Grundwerten darstellt und die soziale Absicherung für Bedürftige gefährde.
Bürgergeld vor dem Aus. Kommende Regierungskoalition plant Verschärfung bei Sanktionen.
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32 Antworten
Die neue Koalition gibt sich wirklich alle Mühe, den Ärmsten das Leben noch schwerer zu machen. Der mehrfache Millionär Merz wird natürlich nie in die unangenehme Lage kommen, selbst auf Bürgergeld oder Grundsicherung angewiesen zu sein, und in der Spitzenpolitik ist er da keine Ausnahmeerscheinung - nach dem Ende ihrer Karriere können Politiker ganz leicht in Konzernspitzen wechseln und umgekehrt.
Wer selbst lohnabhängig ist und diese Politik unterstützt, hat sich ganz schön verarschen lassen, und das aus mehreren Gründen.
Erst einmal lenkt die ganze Debatte um angeblich faule Bürgergeldempfänger von den tatsächlichen Dimensionen der Geldbeträge und von den eigentlichen Problemen dieser Gesellschaft ab.
In Deutschland leben 5,5 Millionen Menschen von Bürgergeld. Von diesen können fast 3 Millionen Menschen gar nicht arbeiten, etwa weil sie minderjährig oder krank sind oder weil sie Angehörige pflegen müssen - unbezahlt natürlich. Eine weitere Million arbeitet bereits, aber kann von ihrem Hungerlohn nicht über die Runden kommen - wo bleibt da der Aufschrei? Nur der Rest von 1,5 Millionen Menschen kann überhaupt an den Arbeitsmarkt vermittelt werden, und die meisten suchen bereits aktiv nach einer Arbeit und müssen nicht dazu gezwungen werden. Zwei Drittel dieser Gruppe besitzen jedoch keine Berufsausbildung und kommen damit für die meisten Jobs nicht infrage.
Jetzt sollen aber gerade die Mittel für die Weiterbildung dieser Arbeitslosen beschnitten werden, während der Staat Unsummen für Rüstung und Krieg ausgibt. Die Schuldenbremse wurde speziell für Rüstungsausgaben ausgesetzt, die Zinsen dieser Schulden werden aus dem laufenden Haushalt gedeckt. Das geht übrigens auch zulasten anderer Bereiche, wie öffentlichem Nahverkehr, Gesundheitsversorgung, Schulen, Universitäten, BAföG, Familienunterstützung, Sozialwohnungen, Frauenhäusern etc. Arbeitslosenunterstützung ist kein isoliertes Thema.
Durch sogenannten Sozialbetrug, also das nicht berechtigte Beziehen von Leistungen, gehen dem Staatshaushalt pro Jahr etwa 270 Millionen Euro verloren, was ständig skandalisiert wrid. Im Vergleich: Allein durch Steuerhinterziehung vor allem der Reichen und Superreichen gehen dem Staatshaushalt 100 Milliarden Euro jährlich verloren, also die 370-fache Summe! Trotzdem wird das medial kaum aufgearbeitet, weil es sich leichter nach unten treten lässt als die Mächtigen dieser Gesellschaft anzutasten. Gemeinsam mit der Aussetzung der Schuldenbremse für Rüstung wurde übrigens ein Sondervermögen von 900 Milliarden Euro für die Bundeswehr, also für Krieg und organisierten Massenmord, gestattet, ausgeschrieben auch 900.000.000.000€. Wir alle zahlen dafür die Rechnung.
Zweitens schwächen die geplanten Reformen die ohnehin schon schlechte Position der Arbeitslosen gegenüber den Ämtern. Die Leute können immer leichter in schlecht bezahlte Jobs mit langen Pendelwegen und miserablen Arbeitsbedingungen gepresst werden. Um eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt geht es hier nicht, denn lange hält man es in solchen Jobs nicht aus und wird dann wieder arbeitslos. Und arbeitslos kann übrigens jeder schneller werden, als man denkt, gerade mit der sich abzeichnenden globalen Rezession. Wer heute noch auf Bürgergeldempfänger schimpft, wird morgen womöglich selbst hautnah erleben, wie sich die Schikanen vom Amt anfühlen.
Drittens: Wem nützt die Reform überhaupt? Nicht den Arbeitslosen, nicht dem Staatshaushalt, sondern den Unternehmen, die von den Ämtern einen stetigen Strom von nahezu rechtslosen Arbeitslosen geschickt bekommen, die die schlimmsten Knebelverträge nicht mehr ablehnen dürfen. Wie wird sich das auf das Lohnniveau der Festangestellten in diesen Branchen auswirken? Natürlich wird es ihre Verhandlungsposition schwächen, wenn das Unternehmen noch leichter auf Arbeitslose als Niedriglöhner zurückgreifen kann. Auch den bereits Beschäftigten drohen also konkrete Nachteile durch die Reformen.
Die Widersprüche in dieser Gesellschaft sind so offen wie schon seit langem nicht mehr. Die Regierung nützt nur den Reichen, während der Rest von uns mit Kürzungen in jedem sozialen Bereich und Aufweichungen des Arbeitsrechts zurechtkommen muss und vielleicht bald im Krieg ausbluten darf, damit das deutsche Kapital seine Einflusssphäre gegenüber dem russischen Kapital behaupten kann. Der Hass auf Arbeitslose, Ausländer und die LGBT-Community lenkt von diesen Widersprüchen ab, und leider lassen sich noch zu viele davon blenden.
Gerne.
Die Zusammensetzung der Bürgergeldempfänger basiert auf Zahlen des Ministeriums für Arbeit und Soziales von 2024, aufbereitet sind sie z.B. hier:
Bürgergeldempfänger: Statistik zeigt, wie viele „Totalverweigerer“ es wirklich gibt
Die Zahlen habe ich so gerundet übernommen, aber etwas anders gruppiert. Es wird im Link zwischen den 1,8 Mio. Minderjährigen und den 1,2 Mio. erwerbsfähigen Erwachsenen unterschieden, die wegen Krankheit oder Pflege nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, zusammen also 3 Millionen Menschen, die faktisch nicht arbeiten können.
Speziell die Entwicklung der Aufstocker, also der Bürgergeldempfänger, die bereits arbeiten:
Aufstocker Bürgergeld 2024| Statista
In den letzten Jahren lag die Zahl etwas unter, vor 2020 deutlich über einer Million Menschen.
Die 170 Mio. Euro durch unberechtigte Leistungen stammen ebenfalls vom Ministerium für Arbeit und Soziales im Jahr 2024, das aber nicht offenlegt, wie diese Zahl zustandekommt:
Kürzungen beim Bürgergeld: Ein Rechenweg ins Ungewisse | taz.de
Bei den 100 Mrd. Euro durch Steuerhinterziehung handelt es sich ebenfalls um eine Schätzung von der Deutschen Steuergewerkschaft:
Steuerhinterziehung: Gewerkschaft rät zu vereinfachtem Steuerrecht | MDR.DE
Der Bundesrechnungshof schätzt aktuell auf 30-50 Milliarden, das Tax Justice Network auf 125 Milliarden, die Größenordnung bleibt die gleiche.
Jetzt sollen aber gerade die Mittel für die Weiterbildung dieser Arbeitslosen beschnitten werden, während der Staat Unsummen für Rüstung und Krieg ausgibt.
Und die linken haben zugestimmt.
Das haben sie allerdings, und damit ein weiteres mal gezeigt, dass sie den gleichen Weg des Klassenkompromisses und der Regierungsfähigkeit gehen wollen wie damals die SPD.
Illusionen in die Partei die Linke liegen mir fern, eine organisierte Gegenbewegung zu diesem Wahn muss erst noch aufgebaut werden.
Richtig, aber alle links gerichteten Parteien versagen in vielerlei Hinsicht. Z.b.
Eine weitere Million arbeitet bereits, aber kann von ihrem Hungerlohn nicht über die Runden kommen - wo bleibt da der Aufschrei?
Außer Mindestlohnerhöhung haben linke keine Lösung zu bieten.
Von 100 Euro Mindestlohnerhöhung bleibt dem Arbeitnehmer aber nur ca. 50%. Höhere Lohnsteuer, höhere Versicherungsbeiträge und die MwSt bzw. Spritsteuer...
Dazu steigen alle Preise so dass die übrigbleibenden 45-50 Euro dann dadurch aufgefressen wird.
Wenn ich aber den Mindestlöhne von der Lohnsteuer befreie dann treibt es die Preise nicht hoch und er hat effektiv 81% mehr da er sowieso MwSt zahlt ...
Trotzdem Schreien linke Parteien (SPD, bsw, linke, grüne) nur Mindestlohnerhöhung weil statt wie bei der afd der Hass auf Ausländer ihr Hass auf Unternehmen, Kapital extrem gross ist. Die kleine z.b. Familienbäckerei wird mit einem Milliarden Konzern gleichgesetzt und als Feind hoch sterilisiert. Man schreibt ja nur von "Unternehmen" und pauschalisert damit genau wie die AFD... man bedient sich der selben Rhetorik...
Dass linke mit der Mindestlohnerhöhung aber genau diese kleinen Betriebe in den Ruin treiben und am Ende des Tages nur noch ihr Feindbild Großkonzern existiert kommt in ihrer Bubble nicht vor....
Außer einigen bürokratischen Ärger bringt das im richtigen Leben nichts. Die betroffenen Leute können überwiegend nicht arbeiten. Und wer kann, wird sich weiterhin widersetzen.
Das trifft nur wieder die Schlamper, die vergessen rechtzeitig am Amt anzurufen und deshalb eine Kürzung bekommen.
Die Konservativen verstehen da auch nicht das Problem bei der Arbeitssuche:
Ja, es gibt sehr viele freie Stellen.
Aber die passen manchmal nicht zu den Arbeitssuchenden:
Mal scheitert es an der fehlenden Qualifikation, Talent oder wegen körperlichen Einschränkungen.
Oder die Arbeitsstellen, die passen würden sind, wenn man auf die Öffis angewiesen ist, garnicht erreichbar, sondern nur bei vorhandenen Privat-PKW.
Du solltest noch eine Frage formulieren. Man weiß nicht wirklich, worauf sich die Punkte zur Auswahl beziehen.
Ergibt sich aus dem Titel und den Umfrageoptionen.
Wie findet Ihr die kommende Reform/Abschaffung des Bürgergeldes und verschärfte Sanktionen?
...bis positiv (man weiß ja noch nicht, wie genau das verwirklicht wird).
Da wird doch nur wieder eine neue Bezeichnung für das selbe gesucht. Ob Hartz 4, Bürgergeld oder Grundsicherung für Langzeitarbeitslose.
Sanktionen sind ja quasi unmöglich, was macht man denn dann mit denen, deren Leistungen gestrichen werden? Genau, die gehen zum Sozialamt....Leistungskürzungen dagegen sind fair.
Ansonsten finde ich es richtig, dass die Langzeitarbeitslosen gezwungen werden, sich aktiver um Arbeit zu bemühen (einmal monatlich beim Jobcenter melden dürfte keine große "Leistung" sein für jemanden, der nichts zu tun hat. und wo es keine passende Arbeit gibt, gibt es eben keine....
Vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 2019, dass nur noch 30%-Sanktionen möglich sind gab es bei HartzIV von 2004-2019 100%-Sanktionen. Und vom Sozialamt bekommen sanktionierte Bürgergeld-Empfänger keinen Cent. Das Sozialamt ist nicht zuständig, sondern das Jobcenter.
Das macht die Sanktionen ja so schlimm. Dann war betteln, Pfand sammeln, stehlen oder hungern angesagt. Bis zu 3 Monate lang. Nur Miete wurde weiter bezahlt.
MMn kann jeder eine "passende Arbeit" finden wenn er denn möchte, denn wo ein Wille ist ist auch ein Weg.
Das sehe ich anders. Insbesondere bei Älteren, die zum einen nicht mehr körperlich fit genug sind, um jeden Job anzunehmen und zum anderen, wenn sie dann etwas Passendes finden, nicht mehr genommen werden, weil zu alt.
Das trifft auch alle anderen gesundheitlich Eingeschränkten und auch die immer wieder erwähnt alleinerziehende Mutter ohne Betreuungsplatz für s Kind.
Die ganzen neuen geplanten Regelungen machen keinen Sinn, solange Menschen als erwerbsfähig gelten, wenn sie irgendwie 3 Std am Tag arbeiten könnten (nicht in allen Bereichen und auch nicht am Stück)
Und wir haben immer noch knapp 4 Mill Arbeitslose "erwerbsfähige" Menschen, aber nur knapp 650.000 offene Jobausschreibungen.
3 bis 4 Stunden am Tag, arbeiten, oder wenigstens die Bereitschaft dazu zeigen reicht aber doch. Und wo das Jobcenter wirklich keinen Job vorschlagen kann, kann es dann auch nicht sanktionieren. Hört sich mal wieder alles schlimmer an, als es im Endeffekt sein wird, wie bei jeder Umstellung.
>>>> .... Insbesondere bei Älteren, die zum einen nicht mehr körperlich fit genug sind, um jeden Job anzunehmen und zum anderen, wenn sie dann etwas Passendes finden, nicht mehr genommen werden, weil zu alt.
Niemand hat gesagt, daß diese Personen (und damit sind nicht nur die Älteren gemeint) jeden Job annehmen müssen aber bei (wie Du geschrieben hast) ca. 650.000 offenen Stellen ist doch bestimmt für jede/n einmal eine passende Arbeit dabei. Oder nicht?
Wer arbeiten will und sich etwas Mühe gibt, z. B. die Stellenanzeigen in den Tageszeitungen nicht nur liest sondern auch mit den betreffenden Firmen Kontakt aufnimmt findet auch Arbeit. Vielleicht nicht von heute auf morgen aber sich ganz auf das Jobcenter zu verlassen ist natürlich wesentlich einfacher. 😠
>>>> .... Und wir haben immer noch knapp 4 Mill Arbeitslose "erwerbsfähige" Menschen, aber nur knapp 650.000 offene Jobausschreibungen.
Das wird sich auch so bleiben so lange sich am Sozialsystem nichts ändert.
MMn kann jeder eine "passende Arbeit" finden wenn er denn möchte, denn wo ein Wille ist ist auch ein Weg.
Sehr interessante Antwort. Könntest du mir die Zahlen bitte verlinken. In meiner Recherche bin ich schon auf viele verschiedene gestoßen, jedoch nicht auf die von dir genannten. Ich wäre dir sehr dankbar!