Die allgemein zunehmende Aggressivität in der Gesellschaft macht leider vor niemandem halt. Dass das medizinische Personal in Praxen damit häufiger konfrontiert wird, als früher erkläre ich mir so:
1. Es gibt einfach zu viele kranke Menschen und zu wenig Ärzt:innen.
Egal in welcher Praxis/welche Fachrichtung, 2 Stunden Wartezeit !!!! MIT !!!! Termin ist mittlerweile Standard. Natürlich ist das keine Entschuldigung für Gewalt aller Art gegen das Personal. Die können auch nix dafür. Die haben Dauerstress, arbeiten weit über die Belastungsgrenze hinaus und tun, was sie können.
Allerdings kann ich die Wut nachvollziehen. Denn wenn ich 2 Stunden in einem heißen, stickigen Raum mit schreienden Kindern und hustenden Erwachsenen verbracht habe und es mir eh gerade schlecht geht, dann würde ich auch gerne schreiend mit einem Maschinengewehr um mich ballern. Manche Menschen sind in der Lage ihre Aggressionen zu kontrollieren, andere nicht - die rasten dann aus und richten ihre Aggressionen gegen das Personal, weil die halt gerade da sind. Ich kann mich gar nicht mehr dran erinnern, wann ich zuletzt in einer Praxis war, wo sich niemand lautstark und aggressiv über die Wartezeit dort beschwert hat. Die Leute beschweren sich bei den Arzthelferinnen und dann nochmal bei den Ärzt:innen und für die anderen dauert es dadurch noch länger.
2. Das System ist einfach nur noch scheiße. Hier mal ein paar Beispiele aus persönlicher Erfahrung:
Ich merke, dass ich erkältet bin, also gehe ich zum Hausarzt da ich eine AU brauche. Medizinische Beratung oder Rezept ist nicht nötig, ist nicht meine erste Erkältung und ich weiß, was zu tun ist - viel schlafen, Tee trinken, ACC akut. Die Praxis öffnet um 8.00 Uhr - Erkältung halt also keinen Termin - also bin ich um 7.45 Uhr an der Praxis und vor der Tür warten bereits 4 ältere Damen mit Rollator, ein älterer Mann mit Gehstock in Begleitung seiner Ehefrau, 3 junge Männer und eine Frau mit Kind. Ðanach kamen noch mehr. Um 11.20 Uhr war ich wieder draußen. Das Arztgespräch hat 5 Minuten gedauert. Der arme Arzt war auch schon fix und fertig. Wollte mich einfach schnell wieder loswerden. In dem Fall kein Problem für mich, ich war nur wegen der AU da. Aber was ist, wenn wirklich mal was ist? Es ist einfach nur noch Massenabfertigung. Keine Zeit mehr sich intensiv mit den Patient:innen zu beschäftigen. Könnte man das nicht irgendwie besser organisieren? Das kommt ja nicht nur einmal vor, sondern täglich.
Das digitale Rezept auf der Karte spart zwar Papier, ist aber nervig. Früher hab ich das Rezept auf Papier in die Hand gedrückt bekommen, bin damit zur Apotheke und dann mit den Medikamenten nach Hause. Wenn ich jetzt vom Arzt komme, kann ich das nicht mehr auf einem Weg erledigen, da das digitale Rezept nicht so schnell freigeschaltet wird. Also bedeutet es einen zusätzlichen Aufwand für mich, da ich mich erneut auf den Weg machen muss, um an meine Medikamente zu kommen. Manchmal dauert es 2 Stunden, manchmal einen ganzen Tag bis zur Freischaltung. Dann ist es mittlerweile öfter so, dass Medikamente nicht vorrätig sind. Ich musste letztens 3 mal zur Apotheke hin bis ich endlich mal meine Tabletten hatte. Wo ist da die Verbesserung?
Warum gibt es IGeLeistungen? Entweder ist die Untersuchung sinnvoll oder eben nicht. Es verunsichert total. Zuletzt erlebt bei Frauenärztin und Augenärztin. Augeninnendruck kontrollieren macht bei mir Sinn, also zahle ich halt. Frauenärztin fragt, ob du 3 verschiedene zusätzliche Untersuchungen haben willst, die du selbst bezahlen musst. Die Krankenkasse schickt Broschüren raus, die besagen dass diese Untersuchungen unnötig sind. Also wem glaube ich nun? Das Gefühl, dass die Ärztinnen und Ärzte, die ich aufsuche, nur daran interessiert sind, mir etwas zu verkaufen, belastet das Vertrauensverhältnis. Das Gefühl, dass die Krankenkasse um jeden Preis Geld sparen möchte und dass ich einfach Pech hab, wenn ich mir notwendige Untersuchungen nicht leisten kann, fördert auch nicht gerade das Vertrauen ins Gesundheitswesen.
Auf der anderen Seite wiederum, wird man gezwungen "unnötig" zum/r Arzt/Ärztin zu gehen. Hab eine chronische Krankheit und muss alle 3 Monate hin - zur Blutabnahme also 4 mal und 4 mal zum besprechen der Werte - aber wenn alles, den Umständen entsprechend, gut aussieht, reicht dann nicht auch alle 6 Monate? Oder wenn die regelmäßige Kontrolle der Werte so wichtig ist, warum nicht einmal im Monat(nicht dass ich scharf drauf bin)? Das mit den 3 Monaten ist doch nur, weil die Untersuchung nur einmal pro Quartal abgerechnet werden kann. Oder warum alle 6 Monate zum Zahnarzt, wenn nix ist? Natürlich "musst" du nicht hin, wirst aber trotzdem indirekt gezwungen, da die Teilnahme an regelmäßigen Kontrolluntersuchungen im Ernstfall über die Höhe vom Eigenanteil an den Behandlungskosten entscheidet.
Ich denke, die Menschen können einfach nicht mehr. Alles wird immer schwieriger, mühsamer, umständlicher, schlechter. Es ist einfach alles nur noch nervig. Zudem kommt die Inflation und die Menschen stehen ständig unter Strom, weil sie mit ihrem Geld einfach nicht mehr über die Runden kommen. Dann noch das Gefühl, dass man überall nur noch abgezockt, betrogen und verarscht wird. Man fühlt sich von der Regierung im Stich gelassen, ungesehen und ungerecht behandelt. Die zunehmende Aggression, Gereiztheit, Wut ist einfach Ausdruck davon, wie schlecht es den Menschen geht. Natürlich ist das keine Entschuldigung. Manchmal entlädt sich so eine explosive Gefühlsmischung leider an der völlig falschen Stelle.