Wer hat nun Recht (objektiver Indeterminismus/echter Zufall)?

3 Antworten

Wer hat nun Recht (objektiver Indeterminismus/echter Zufall)?

Meiner Meinung nach Aspect, der den Indeterminismus nun auch noch auf einer anderen Ebene belegt hat als es zuvor schon geschehen ist.

Das Zeitalter des Determinismus

Die Frage, ob es objektiven Zufall gibt oder nicht, beschäftigt die Philosophie und die Physik seit Jahrhunderten. Im Folgenden soll der Zufall vor allem aus wissenschaftsgeschichtlicher und physikalischer Sicht beleuchtet werden.

Im Mittelalter gab es praktisch keinen Zufall. Fast alles was passierte und was man sich nicht direkt über eine offensichtliche Ursache erklären konnte, wurde einem direkten Eingreifen Gottes zugeschrieben. Da man sich aber oft auch nicht erklären konnte, warum Gott die eine oder andere Entscheidung traf, griff man gerne zu der Erklärung „Gottes Wege sind unergründlich.“ Im späten Mittelalter kam dann mit dem immer stärker werdenden Glauben an Hexen, Dämonen und Teufel als Erklärung für Unerklärliches deren Eingreifen hinzu. Dem ganzen lag ein mystisches Weltbild zugrunde.

Die wissenschaftliche Neuzeit ist geprägt durch den Übergang vom mystischen Weltbild des Mittelalters zu einer mechanistischen Betrachtung der Welt. Die Vorstellung, die ganze Welt sei wie ein Uhrwerk aufgebaut geht bis auf den spätgriechischen Philosophen Platon (427 v.u.Z. bis 347 v.u.Z. (v.u.Z. = vor unserer Zeit oder auch v.Chr.) ) zurück. Diese Vorstellung einer „machina mundi“ (Weltmaschine) wurde von Kepler wieder aufgegriffen. In einem Brief von 1605 schrieb er: „Mein Ziel ist es zu zeigen, dass die himmlische Maschine nicht eine Art göttliches Lebewesen ist, sondern gleichsam ein Uhrwerk.“

Der Philosoph und Mathematiker René Descartes (siehe kartesisches Koordinatensystem) führte das mechanistische Weltbild weiter und übertrug es in seiner Publikation „Meditationes de prima philosophia“ (1641) auf den Menschen sowie tierische Körper.

Thomas Hobbes übertrug es auf das Staatswesen in „Leviathan“ (1651).

Basierend auf den obigen Ideen entwickelte dann Isaac Newton seine Physik, die er in „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica.“ (1687) veröffentlichte. Er verhalf damit dem mechanistischen Weltbild endgültig zum Durchbruch.

Innerhalb der Newtonsche Physik wurde die gesamte physikalische Welt als ein Uhrwerk betrachtet, in dem Gott die Rolle des großen Uhrmachers zukam. Die Physiker und Wissenschaftler nach Newton sahen nun nicht mehr ein direktes Eingreifen Gottes in alle möglichen Vorgänge sondern versuchten diese über das Kausalitätsprinzip zu erklären, dass also jede Wirkung eine bestimmte Ursache haben müsse. Damit wurde der sogenannte Determinismus begründet, der ebenfalls keinen Raum für irgendwelche Zufälle ließ. Unerklärliches wurde mit fehlendem Wissen über die konkrete Ursache erklärt. Im einfachen Volk, also außerhalb der Wissenschaften und insbesondere innerhalb der Religion lebte das ursprüngliche mystische Weltbild weiter und alles Unerklärliche wurde immer noch durch direktes Eingreifen Gottes erklärt.

Das änderte sich mit dem großen Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755, einer der größten Naturkatastrophen der Neuzeit. Ausgerechnet in der frommsten Stadt des Abendlandes, ausgerechnet an einem der höchsten Feiertage (Allerheiligen) und ausgerechnet zur Zeit der Heiligen Messe am Vormittag, als alle Kirchen völlig überfüllt waren, geschah das große Erdbeben. Zehntausende von Gläubigen wurden in den Kirchen durch deren Einsturz direkt verschüttet und kamen ums Leben. Anschließend brach eine große Feuersbrunst aus und viele Überlebende retteten sich davor an den Strand. Das Beben hatte aber einen schweren Tsunami ausgelöst und in diesem ertranken dann viele Gläubige, die sich an den Strand gerettet hatten. Ausgerechnet die Gefängnisse stürzten nicht ein, aber die ganzen Verbrecher kamen frei und zogen dann plündernd durch die Stadt. Ausgerechnet auch das gesamte Rotlichtviertel blieb von allen Katastrophen, Erdbeben, Feuersbrunst und Tsunami, verschont. Dies stellte das Ende des mystischen Weltbildes auch in der Bevölkerung dar, denn dies alle ließ sich nicht mehr mit Gottes Eingreifen erklären. Von nun an wurden natürliche Ursachen für natürliche Vorgänge gesucht und das Kausalitätsprinzip bzw. der Determinismus wurde allgemein anerkannt. Innerhalb des Determinismus hatte der Zufall aber immer noch keinen Platz gefunden. Es wurde lediglich Gott durch die Natur und die Physik als Ursache ersetzt.

1814 formulierte Pierre-Simon Laplace den Laplaceschen Dämon: „Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Universums als Folge eines früheren Zustandes ansehen und als Ursache des Zustandes, der danach kommt. Eine Intelligenz, die in einem gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtige Lage der Gebilde, die sie zusammensetzen, und die überdies umfassend genug wäre, diese Kenntnisse der Analyse zu unterwerfen, würde in der gleichen Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper und die des leichtesten Atoms einbegreifen. Nichts wäre für sie ungewiss, Zukunft und Vergangenheit lägen klar vor ihren Augen.“

Hier wird klar formuliert, dass es keinen Zufall gibt, denn wenn man alles wüsste und alles berechnen könnte, wäre auch alles vorhersagbar. Wenn aber alles berechenbar bzw. vorhersagbar ist, dann kann es prinzipiell keinen Zufall geben.

Das Ende des Determinismus

1986 gab Sir James Lighthill, Präsident der International Union of Theoretical and Applied Mechanics, zum Streit zwischen physikalischen Deterministen und Indeterministen zu Protokoll (zitiert aus "Das Paradox der Zeit" von Ilya Prigogine/Isanbelle Stengers):

„Hier muss ich innehalten und im Namen der großen Bruderschaft der Praktiker der Mechanik sprechen. Wir sind uns heute sehr der Tatsache bewusst, dass die Begeisterung, die unsere Vorgänger für den phantastischen Erfolg der Newtonschen Mechanik empfanden, sie auf diesem Gebiet der Vorhersagbarkeit zu Verallgemeinerungen verleitet haben, an die wir vor 1960 möglicherweise allgemein geglaubt haben, die wir aber inzwischen als falsch erkannt haben. Wir möchten uns gemeinsam dafür entschuldigen, dass wir das gebildete Publikum in die Irre geführt haben, indem wir bezüglich des Determinismus von Systemen, die den Newtonschen Gesetzen genügen, Ideen verbreitet haben, die sich nach 1960 als inkorrekt erwiesen haben."

Wie es zur Verabschiedung des Determinismus und damit zur Akzeptanz des Zufalles als kreatives Element in unserem Universum kam, soll nun kurz angerissen werden.

Erste Zweifel am Laplacschen Dämon kamen durch Henri Poincaré und dessen Arbeit zum sogenannten Dreikörperproblem (1888) auf. Poincaré zeigt darin, dass es innerhalb der Newtonschen Mechanik auch Fälle geben kann, bei denen das strenge Ursache-Wirkungsprinzip nicht mehr in der Weise angewendet werden kann, dass man künftige Entwicklungen in allen Fällen vorhersagen kann, selbst wenn alle Rand- und Anfangsbedingungen exakt bekannt sind. Poincaré begründete damit die Chaosforschung. Im Chaos gibt es keinen Determinismus mehr und erst dadurch wird dem Zufall eine Tür geöffnet.

In den 1960er Jahren untersuchte der Mathematiker Edward N. Lorenz bestimmte schlecht vorhersagbare Wettererscheinungen mathematisch und entdeckte dabei das Phänomen des deterministischen Chaos. Damit werden Phänomene umschrieben, bei denen geringste Änderungen der Anfangsbedingungen im Laufe der Zeit zu völlig anderen Ergebnissen führen. Das bekannteste Beispiel eines deterministischen Chaos ist der sogenannte Schmetterlingseffekt. Dieser Schmetterlingseffekt ist dafür verantwortlich, dass selbst ein Zufall auf Quantenebene (Quantenzufall) letztlich den Endzustand eines ganzen Systems bestimmen kann.

Wie aber nun Zufall zu einer Höherentwicklung führen kann, beschreibt Ilya Prigogine physikalisch in seiner Theorie Dissipativer Strukturen, für die er 1977 den Nobelpreis erhielt und die die größte wissenschaftliche Revolution seit Newton ausgelöst hat. Dieses Theorie Dissipativer Strukturen (TDS) ist keine einzelne Veröffentlichung oder ein einzelnes Buch, sondern umschreibt das gesamte Lebenswerk Prigogine, in dem er sich mit der Frage der Selbsorganisation beschäftigte. Neben der Rolle von Energie, Zeit und deterministischem Chaos erörtert er auch ausführlich, wie der Zufall wirkt, welche konstruktive und kreative Rolle der Zufall spielt, wie ohne Zufall nichts Neues entstehen kann, was genau passiert, wenn der Zufall ins Spiel kommt und wie das ganze physikalisch und mathematisch beschrieben werden kann.

Im Prinzip basiert eine dissipative Struktur darauf, dass in ein stabiles System jede Menge Energie gepumpt wird, sodass sich dieses System immer weiter vom thermodynamischen Gleichgewicht entfernt. Ab einer gewissen Menge zugeführter Energie entfernt sich das System so weit vom thermodynamischen Gleichgewicht, dass es ins Chaos stürzt. In diesem Moment tritt das deterministische Chaos auf. Das System kippt, die zugeführte Energie wird entwertet und in Wärme umgewandelt. Es gibt aber mindestens zwei verschiedene Zustände, in die das System kippen kann, oft gibt es sogar noch mehr mögliche Zustände. In welchen der möglichen Zustände das System dann tatsächlich kippt, ist zufällig. Dabei kann dieser Zufall auf Quantenebene erfolgen. In diesem Moment bestimmt gemäß des Schmetterlingseffektes ein denkbar minimalster Effekt, das kann z.B. der Zerfall eines einzelnen Atoms in Milliarden Lichjahren Entfernung sein, welche weitere Entwicklungsrichtung das System nach dem Kippen nimmt. Sobald diese „Entscheidung“ getroffen ist, sorgt die weiter zugeführte Energie dazu, dass das System sich wieder aus dem Chaos löst und auf einer höheren Organisationsebene mit einer höheren Komplexität ein neues Gleichgewicht findet. Es ist etwas Neues entstanden (emergiert). Solche emergenten Erscheinungen sind grundsätzlich irreversibel, d.h., sie lassen sich keinesfalls mehr auf tieferliegende Ursachen reduzieren. Sie sind etwas Neues und als solches auch nur ganzheitlich und an sich phänomenologisch weiter zu erforschen. Diese Physik, die da abläuft, hat einen ganz neuen Zweig der Physik begründet, den man als die Physik des Lebens bezeichnen könnte. Zu finden ist das insbesondere unter den Stichworten nichtlineare Thermodynamik, nichtlineare Physik, nichtlineare Dynamik, deterministisches Chaos, dissipative Strukturen oder auch Komplexitätstheorie.

Die Energiezufuhr und das Verstreichen von Zeit sorgen dafür, dass das System komplexer wird. In welche Richtung sich diese Weiterentwicklung bewegt, ist aber nicht vorherbestimmt (dterminiert). Die ist davon abhängig, in welche Richtung der Zufall das System im Zustand des deterministischen Chaos kippen lässt.


Dokkalfar 
Beitragsersteller
 02.09.2024, 12:39

Vielen Dank für deinen ausführlichen Beitrag.

Jetzt reibe ich mich an zwei Passagen:

"Damit werden Phänomene beschrieben, bei denen geringste Änderungen der Anfangsbedingungen im Laufe der Zeit zu völlig anderen Ergebnissen führen"

"In welchen der möglichen Zustände das System dann tatsächlich kippt, ist zufällig. Dabei kann dieser Zufall auf Quantenebene erfolgen. In diesem Moment bestimmt gemäß des Schmetterlingseffektes ein denkbar minimalster Effekt, das kann z.B. der Zerfall eines einzelnen Atoms in Milliarden Lichjahren Entfernung sein, welche weitere Entwicklungsrichtung das System nach dem Kippen nimmt."

Heißt das nicht, dass es eben doch keinen Zufall gibt, sondern geringste Änderungen ein anderes Ergebnis zwingend machen?

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Hamburger02  02.09.2024, 13:17
@Dokkalfar

Das heißt, dass echter Zufall auf der "niedrigsten Quanteneben" das Schicksal sehr großer Systeme bestimmen kann, womit der Zufall keine rein akademische bzw. philosophische Angelegenheit mehr ist, sondern einen wesentlichen Einfluss auf unser tägliches Leben hat.

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Dokkalfar 
Beitragsersteller
 02.09.2024, 13:56
@Hamburger02

Sorry, jetzt schäme ich mich. Auf jeden Fall vielen Dank. Möchtest du vielleicht noch etwas zu LUCKY1ONEs Antwort schreiben, der es für immer noch nicht erwiesen hält, dass es echte Zufälle gibt?

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Hamburger02  02.09.2024, 14:25
@Dokkalfar
Sorry, jetzt schäme ich mich.

???? Gibt es dafür einen Grund?

Möchtest du vielleicht noch etwas zu LUCKY1ONEs Antwort schreiben, der es für immer noch nicht erwiesen hält, dass es echte Zufälle gibt?

Es ist eine völlig normale Erscheinung in den Wissenschaften schon seit der Antike, dass sich niemals alle Wissenschaftler so ohne weiteres von ihren jahrelang gepflegten Weltbildern verabschieden können oder wollen. Und es wird auch immer welche geben, die schon aus Prinzip "dagegen sind", egal, um was es geht, manchmal einfach nur um aufzufallen. Diese Probleme der Akzeptanz lösen sich dann ausschließlich biologisch.

Daher dauert es oft mehrere Generationen bzw. Jahrzehnte, bis sich neue Erkenntnisse bis ins Allgemeinwissen fortgepflanzt haben.

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Dokkalfar 
Beitragsersteller
 02.09.2024, 14:31
@Hamburger02

Danke. Ich hatte mich geschämt, dass ich deine Aussage falsch verstanden habe, weil du es ja eigentlich gut erklärt hast.

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Dokkalfar 
Beitragsersteller
 02.09.2024, 16:22
@Hamburger02

Komme nur leider nicht wirklich weiter. Am Ende läuft es immer darauf hinaus, dass Alain Aspect den echten Zufall nicht restlos bewiesen hat, weil es noch die Viele-Welten-Interpretation gibt sowie die Möglichkeit, dass es nicht-lokale Variablen gibt, u. dass Aspect ein Messfehler unterlaufen sein könnte.

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Hamburger02  02.09.2024, 17:08
@Dokkalfar

Das ist so das Problem mit echten Wissenschaften. Sie werden nie den Stein der Weisen oder die letztgültige Wahrheit finden. Mit jeder neuen Erkenntnis tut sich ein ganzes Bündel neuer Fragen auf.

Ich für meinen Teil halte den Determinismus allerdings für hinfällig. Wenn er tatsächlich ein universell gültiges Prinzip im Universum wäre, hätte das logische Folgen, die schlichtweg zu absurd sind, als dass man sie den beobachtbaren Realitäten zuordnen könnte.

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Von den meisten Physikern ist die Kopenhagener Deutung akzeptiert und damit auch der Zufall.

Aber es gibt auch noch andere Interpretationen der Quantenmechanik, die mit dem Determinismus arbeiten. So z.B. die De-Broglie-Bohm-Theorie.

Einen absoluten Beweis bieten die Aspect-Experimente übrigens nicht. Sie deuten nur sehr stark darauf hin.

Also es gibt weiterhin Gründe zur Diskussion.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Begeisterter der Quantenphysik & Mathematik

Dokkalfar 
Beitragsersteller
 02.09.2024, 14:31

Danke. Kannst du begründen, warum Aspect keinen absoluten Beweis erbracht hat?

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LUCKY1ONE  02.09.2024, 14:41
@Dokkalfar

Die Experimente von Aspect basieren - wer hätte es gedacht - auf der Quantenmechanik, die aber selbst auch auf postulativen Annahmen beruht.

Zudem ist kein Experiment frei von Messfehlern.

Absolute und eindeutige Beweise sind eher Bestandteil der Mathematik.

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Wir kennen allein aus sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen das Beispiel des Indeterminismus im „Gesetz der unbeabsichtigten Folgen“ deren Ergebnisse positiv, negativ oder invers sein können.