Wenn ich alles, was ich für eine andere Person tue, letztlich egoistisch ist, ist dann nicht auch alles, das ich für mein Zukunfts-Ich tue egoistisch?
Die Frage ist ja schon fast rhetorisch, so selbstverständlich ist die Antwort. Natürlich ist alles, was man für sich selbst tut, egal ob in Zukunft oder Gegenwart, egoistisch! Das ist buchstäblich die Definition von Egoismus? :D
Dein Denkfehler besteht darin, dass du dein Zukunfts-Ich als getrennte Person betrachtest. Dein Ich existiert in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen und als Einheit. Es spaltet sich nicht auf in 3 getrennte Existenzen, die an bestimmte, relative Zeiträume gebunden sind. Vielmehr musst du dein Ich ganzheitlicher betrachten und unabhängig vom Faktor Zeit. Ähnlich wie du dein Leben ja auch als Ganzes betrachtest und nicht als 3 verschiedene Leben.
Stell dir dein Leben wie eine Einbahnstraße vor, die du (wie an einem Zeitstrahl) entlang läufst und bei der die zurückgelegte Strecke dein Alter bzw. "bereits Gelebtes" repräsentiert. Wenn du dich von außen selbst auf dieser Straße betrachten würdest, sähest du ja auch immer nur eine Person darauf laufen und nicht noch eine zweite weiter hinten und eine dritte weiter vorne. Dein Ich wird verkörpert in genau einer Person, welche sich durch die Zeit bewegt wie ein Zug, der durch einen Tunnel fährt.
Es ist also ein Fehlschluss, sein "Vergangenheits-Ich" zB im Rückblick auf Vergangenes als eine getrennte, unabhängige Person wahrzunehmen, denn dieses Ich mag sich zwischenzeitlich vielleicht weiterentwickelt haben, aber es ist immer noch fester Bestandteil deines Gegenwarts-Ichs, andernfalls wärst du gar nicht in der Lage, Erinnerungen über dich selbst abzurufen. Dein Vergangenheits-Ich lebt also nicht wirklich in der Vergangenheit, sondern als Erinnerung in deinem Gegenwarts-Ich, welches darüber hinaus das Vergangenheits-Ich als fest verbauten Grundbaustein überall mit sich hinträgt.
Und auch dein hypothetisches Zukunfts-Ich lebt in einem ganz ähnlichen Bereich deines Gegenwarts-Gehirns, denn es ist wissenschaftlich belegt, dass unser Gehirn nur dann überhaupt in der Lage ist, sich die eigene Zukunft vorzustellen, wenn ausreichend Erinnerungen an vergangene Lebenserfahrungen vorhanden sind. (Menschen mit Gedächtnisstörungen, die sich an nichts mehr von dem erinnern konnten, was sie bisher in ihrem Leben erlebt hatten, waren ebenso unfähig Erinnerungen an Erlebtes aus ihrem Gedächtnis abzurufen, wie sie unfähig waren, Prognosen über ihre Zukunft anzustellen und bspw. nichtmal so selbstverständliche Handlungen, wie das Aufwachen und Aufstehen am nächsten Tag vorhersehen konnten.) Dein Ich ist also immer als eine Einheit zu betrachten, die zusammengehört und eine menschliche Existenz bildet.
Dementsprechend spielt es im Egoismus keine Rolle, ob eine egoistische Handlung einem Vorteile in der Gegenwart und/oder der Zukunft bringen soll. Was es egoistisch macht, ist, dass du es tust, weil für DICH dabei irgendeine Art von Vorteil rausspringen soll, egal wann oder wie.
Ebenso ist es für die Bewertung als "egoistisch" irrelevant, ob dieser Vorteil tatsächlich auch eintrifft. Wie du schon sagtest, können Handlungen auch ein Risiko mit sich bringen oder potentiell schädlich sein, wodurch der erhoffte Vorteil eventuell verhindert oder geschmälert wird (kann ja immer noch keiner in die Zukunft sehen). Stattdessen ist nur relevant, was die eigene Intention bzw. Motivation dahinter war. Wenn ich zB ein Mittagsschläfchen mache, um nicht mehr so müde zu sein, ist das eine egoistische Handlung, selbst wenn ich nach 1 Stunde wieder aufwachen und mich noch müder fühlen sollte, als vorher.
Diese Logik würde, konsequend zu Ende gedacht, auch den Konsum von Kokain und den kurzfristigen Genuss rechtfertigen
Nein. Hier ist dein zweiter Denkfehler, welcher sich im von dir hinzugedichteten Wort "rechtfertigen" versteckt. Stirners Philosophie beinhaltet lediglich eine alternative Definition bzw. Sichtweise auf den Begriff "Egoismus", nach welcher es keinen wahren Altruismus gibt. Mithilfe seiner Philosophie lassen sich also lediglich Handlungen als "egoistisch" einkategorisieren, mehr nicht! Dass dieser Egoismus irgendwas rechtfertigen würde, geht einen Schritt zu weit! Er rechtfertigt entsprechend keinesfalls (wie du in deinem Beispiel behauptest) den Konsum von Kokain. Stirners Erkenntnissen zufolge könnte man lediglich den Konsum von Kokain als egoistisch einstufen, da auch sowas wie Drogenkonsum mit der Intention passiert, daraus einen Vorteil (Rauschzustand) für sich selbst zu erlangen, auch wenn dieser nur kurzfristig gilt oder sogar Nachteile mit sich bringt.
sodass altruistisches Verhalten gegenüber mir selbst doch rational und keine Verdrängung der Realität ist
Dritter Denkfehler: altruistisch kann man nur anderen gegenüber sein, da (wie gesagt) alles, was man für seinen eigenen Vorteil tut, egoistisch ist. Allerdings verstehe ich nicht ganz, was du mit der Umschreibung "rational und keine Verdrängung der Realität" meinst?
Prinzipiell hab ich den Eindruck, als würde dich die Ansicht, alles Handeln sei egoistisch motiviert, eher traurig machen. Ich denke, das könnte daran liegen, dass der Begriff "egoistisch" in unserer Alltagssprache eine so negative Konnotation hat. Versuch es daher mal etwas neutraler zu betrachten: Umgangssprachlich meinen wir mit "egoistisch" meist, dass jemand nur auf sich selbst achtet und dabei alle anderen benachteiligt. Letzteres ist aber nicht Teil von Stirners Definition, da diese auch die Möglichkeit einräumt, dass Egoismus dazu führen kann, dass andere bevorteiligt werden. Und außerdem: wenn Egoismus doch auch dazu führt, dass du dich gut um dich selbst kümmerst, auf deine Bedürfnisse achtest und ein Leben lebst, mit dem du zufrieden bist, dann kann Egoismus doch nicht nur schlecht sein.
Und selbst wenn man es unbedingt egoistisch nennen möchte, wenn man seinen Mitmenschen hilft und versucht, sie glücklich zu machen - ändert das irgendwas an der positiven Wirkung, die man dabei auf deren Leben hat? Nö! Ich finde es eigentlich sogar echt wunderbar, zu wissen, dass ich für meine Mitmenschen da bin, weil es mich glücklich macht, andere glücklich zu machen. Zeigt doch nur, wie empathisch und mitfühlend wir als Spezies sein können, andernfalls würde es uns ja nicht glücklich machen, andere glücklich zu sehen. Find ich eine ziemlich coole Fähigkeit. :)
Hat dir das etwas weitergeholfen?