Warum ist unsere Retina invers aufgebaut?

5 Antworten

Die Netzhaut (Retina) des Wirbeltierauges ist invers aufgebaut, d. h. die Schicht der lichtempfindlichen Zellen (Photorezeptoren) befindet sich auf der dem Licht abgewandten Seite. Auf den ersten Blick wirkt das wie eine ziemlich große Fehlkonstruktion und das ist auch tatsächlich so. Das Licht muss erst umständlich durch alle anderen Zellschichten der Netzhaut, welche die aufgenommenen Reize der Photorezeptoren ans Gehirn weiterleiten, hindurch, um auf die Photorezeptoren zu treffen. Damit das funktioniert, sind sogar spezielle Zellen () notwendig, die wie eine Art Glasfaserkabel das Licht zu den Photorezeptoren leiten. Der offensichtlichste Nachteil dieser Konstruktionsweise ist aber, dass an der Stelle, wo sich schließlich alle Nervenfasern der reizweiterleitenden Zellen im Sehnerv (Nervus opticus) bündeln und als dieser durch die Netzhaut treten, keine Photorezeptoren sein können. Diese Stelle ist also wortwörtlich ein "blinder Fleck" und heißt deshalb auch so.

Warum ist die Netzhaut aber invers aufgebaut? Ginge es nicht auch sinnvoller? Hätte die Natur nicht eine Netzhaut konstruieren können, bei der die lichtempfindlichen Zellen über den anderen Zelllagen und damit auf der lichtzugewandten Seite liegen? Doch, hätte sie. Und sie hat es auch getan. Die Netzhaut der hochentwickelten Linsenaugen einiger Kopffüßer (Cephalopoden) ist evers aufgebaut und hat damit auch keinen blinden Fleck.

Dass die Netzhaut des Wirbeltierauges invers aufgebaut ist, liegt an ihrer evolutionsbiologischen Entstehung und damit ist sie ein eindrückliches Beispiel dafür, dass bei der Entstehung der Arten ganz eindeutig kein intelligenter Schöpfer am Werk gewesen ist. Denn wäre dies der Fall gewesen, dann wäre das Auge der Wirbeltiere ja von diesem Gestalter geplant und die offensichtlichen Konstruktionsfehler gar nicht erst gemacht worden. Da es sie aber gibt, muss klar sein, dass das Auge keineswegs am Reißbrett erschaffen wurde, sondern durch die Evolution über viele unzählige winzige Einzelschritte hervorgebracht wurde.

Die Linsenaugen von Wirbeltieren und Kopffüßern sind vollkommen unabhängig voneinander und auf völlig unterschiedliche Weise entstanden. Diese unterschiedliche Evolutionsgeschichte ist der Grund dafür, warum Wirbeltieraugen invers und Kopffüßeraugen evers aufgebaut sind.
Die Augen der Kopffüßer sind entstanden aus dem ektodermalen Epithelgewebe der Körperoberfläche. Am Anfang dieser Evolution stand vielleicht einfach nur, dass ein paar Zellen der Körperoberfläche lichtempfindlich wurden. Man nimmt an, dass Kopffüßer noch heute mit ihrer Haut "sehen" können. Denn die Augen der Kopffüßer können keine Farben unterscheiden. Jeder, der schon einmal gesehen hat, wie ein Krake blitzschnell in Sekundenbruchteilen seine Farbe ändert und dabei sein Aussehen zwecks Tarnung dem Untergrund anpasst, merkt schnell, dass die Tiere trotzdem die Fähigkeit besitzen müssen, Farben zu "sehen" und höchstwahrscheinlich tun sie das mit ihrer gesamten Haut. Sehr wahrscheinlich haben sich lichtempfindliche Zellen auf der Oberfläche zunächst an einem bestimmten Punkt konzentriert. Dieser hat sich dann als einfaches Grubenauge eingesenkt. Das Auge der urtümlichen Perlboote (Nautilus) kommt diesem Evolutionsstadium noch sehr nahe. Bei den höherentwickelten Kopffüßern ist daraus schließlich ein Linsenauge entstanden. Das Auge der Kopffüßer entstand also durch eine Einstülpung (Invagination) der Körperoberfläche und damit ist die Netzhaut evers aufgebaut.

Die Augen der Wirbeltiere sind hingegen neuroektodermalen Ursprungs. Im Prinzip sind die Wirbeltiernetzhäute nichts anderes als ein Teil des Gehirns. Wie sie entsteht, erkennt man gut, wenn man sich anschaut, wie während der Embryonalentwicklung das Auge eines Wirbeltiers entsteht.
Aus dem Gehirn wachsen zunächst zwei kugelförmige Erhebungen hervor, die so genannten Augenbläschen. Das Augenbläschen besteht nur aus einer einzigen Zelllage. Das Ektoderm stülpt sich dabei ein und schnürt zunächst über die Linsengrube, die weiter zum Linsensäckchen auswächst die spätere Linse als Linsenbläschen ab. Dabei wird der vordere Teil des Augenbechers nach innen eingestülpt (Invagination) und es entsteht aus dem Augenbläschen der Augenbecher, der nunr zweischichtig ist. Das äußere Blatt bleibt einschichtig, es wird zur Pigmentzellschicht der Retina (sie soll das Auge vor zu viel Licht schützen). Das innere Blatt wird mehrschichtig und bildet die Neuronenschicht der Netzhaut. Die unterste, der Pigmentzellschicht direkt aufliegende Schicht, wird die Schicht der Photorezeptoren. Entlang der Müllerzellen wandern die Neuronen weiter zur lichtzugeandten Seite und bilden zunächst Bipolarzellen und dann die Ganglienzellen, deren Nervenfasern sich zum N. opticus vereinen.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig

ShadowAnswer  26.03.2024, 16:05

Die Ausführung ist sehr interessant, allerdings wird es etwas seltsam, da wo gegen die Existenz von einem Schöpfer argumentiert wird. Ein inverser Aufbau zeigt erstaunlich gut auf, was alles möglich ist, obwohl es auf den ersten Blick seltsam erscheint und nicht dass es zu "dumm" ist, um konstruiert worden zu sein. Man bemerke, dass man eigentlich sogar noch mehr Zellen und Komplexität beim Aufbau benötigt, damit ein inverser Aufbau problemlos funktionieren kann und die Lichtleitbahnen der Zellen, die das Licht "vorsortieren", sprechen nicht für dumme Fehler, sondern ein gut funktionierendes und logisches System. Zusätzlich ermöglicht dieser Aufbau mehr Sinneszellen bei gleicher Augengröße (mehr Radius ermöglicht mehr Oberfläche) und bessere Erreichbarkeit der Zapfen/Stäbchen vom Inneren der Zelle her. Warum man in seine wissenschaftlichen Ausarbeitung überhaupt persönliche Abneigungen einbauen muss, bleibt ein Rätsel.

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Darwinist  26.03.2024, 18:20
@ShadowAnswer
Man bemerke, dass man eigentlich sogar noch mehr Zellen und Komplexität beim Aufbau benötigt

Eben. Und das ist zusätzlicher Aufwand, der unnötig wäre, wäre die Retina nicht invers. Mit anderen Worten: das ist eine Ressourcenverschwendung.

Zusätzlich ermöglicht dieser Aufbau mehr Sinneszellen bei gleicher Augengröße

Nö. Zumal sowieso die nachfolgende Verschaltung gar nicht 1:1 ist. Eine Horizontalzelle ist mit mehreren Photorezeptoren verschaltet.

und bessere Erreichbarkeit der Zapfen/Stäbchen vom Inneren der Zelle her

Hä? Was soll denn da bitte erreicht werden?

Warum man in seine wissenschaftlichen Ausarbeitung überhaupt persönliche Abneigungen einbauen muss, bleibt ein Rätsel.

Wo bitte habe ich das getan?

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Anonymgirl1617 
Beitragsersteller
 18.07.2021, 18:24

Vielen Dank für diese unglaublich hilfreiche Antwort

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Man sagt, dass sei einfach evolutionärer Zufall. Denn prinzipiell geht es ja auch anders herum (bei Tintenfischen, deren Auge sich in der Evolution unabhängig von den Augen der Wirbeltiere entwickelt hat, ist die Netzhaut nicht "invers"). In der Evolution setzt sich halt das durch, was einen selektiven Vorteil bietet, dazu muss es nicht optimal sein. Das Auge mit "inverser" Netzhaut funktioniert ja und erfüllt diese Anforderung des Vorteils. Dabei entwickeln sich Strukturen wie das Auge immer durch Variation und Selektion ausgehend von Vorgängerstrukturen hin zu besserer Fitness in der Umgebung. Das ist ein iterativer Prozess, bei dem nicht unbedingt die beste Lösung gefunden wird. Ob dabei ausgehend von einer suboptimalen Lösung eine bessere Lösung gefunden wird, hängt davon ab, wie naheliegend diese Lösung ist (also, ob sie ausgehend von den bestehenden Strukturen durch kleine Variation gefunden werden kann oder ob die nötige Variation groß wäre und auch kein Pfad kontinuierlicher kleiner Optimierungen durch kleinere Variation zu dieser Lösung führt) und wie groß der Selektionsdruck ist. Gerade lokale Fitnessoptima können deshalb lange bestehen bleiben.

Man darf aber auch nicht vernachlässigen, dass eine "inverse" Netzhaut nicht ausschließlich nachteilig sein muss. So passen bei gleicher Augengröße mehr Rezeptortellen in die Netzhaut und die Außenlage der Rezeptorzellen soll wohl auch Vorteile bei der Blutversorgung haben...

Es gibt keinen realen Grund warum irgendetwas passiert wie es passiert.

Der Mensch will natürlich verstehen und verstehen und es wäre doch langweilig wenn es keinen Grund gäbe. Aber ja, so isses.

Man könnte einen Scheingrund nennen. Soetwas wie "Entsprechend der Naturgesetze geht die Natur immer den Weg des geringsten Widerstandes und baut jedes System, sei es anorganisch oder organisch, immer so effizient wie möglich. Mithilfe von versuch und Irrtum und natürlicher Selektion scheint sich dann eine inverse Retina herausgebildet zu haben. Es scheint bei diesem Typ von visueller Informationsverarbeitung einen Vorteil gegenüber anderen Arten gegeben zu haben".

Aber wie gesagt, ich denke nicht dass es wirklich einen realen Grund gibt.

Das Universum ist einfach ein aus sich selbst wirkender Prozess ohne die kleinste Form von Sinn oder Bedeutungsinhalt.


TMA01  18.07.2021, 10:03
Mithilfe von versuch und Irrtum und natürlicher Selektion scheint sich dann eine inverse Retina herausgebildet zu haben. Es scheint bei diesem Typ von visueller Informationsverarbeitung einen Vorteil gegenüber anderen Arten gegeben zu haben".

Leider ein Denkfehler. Längst nicht jede Entwicklung, die bis heute überlebt hat, hat überlebt, weil sie vorteilhaft war, sondern einfach nur, weil sie NICHT NACHTEILIG GENUG war, um zum echten Problem zu werden. Winzige, additive Änderungen von Generation zu Generation stellten einfach kein Problem dar, auch wenn man am Ende etwas sehr Seltsames vorzuliegen hat. Die Abbildungsmängel gleicht unser Gehirn aus.

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Philipp3141  18.07.2021, 10:11
@TMA01

Ja da hast du recht. Hab ich an deiner Antwort auch gesehen dass sich auch weniger effektive Muster herausbilden können.

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"Fehler in der Matrix". In der Evolution kommen solche suboptimalen Entwicklungen sehr oft vor. Ähnliches haben wir beim männlichen Samenleiter und ganz extrem ist es mit einem Kehlkopfnerv bei Giraffen, der einen Umweg durch den halben Körper macht.

https://de.wikipedia.org/wiki/Nervus_laryngeus_recurrens

Wie meinst du das? Meinst du, dass das Bild auf dem Kopf darauf projiziert wird?


TMA01  18.07.2021, 09:49

Es ist wohl eher gemeint, dass die lichtempfindlichen Stäbchen und Zapfen nach HINTEN zeigen und VORNE durch ein Netz von Blutgefäßen verdeckt werden.

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