Die phylogenetische Systematik setzt das ja schon seit Jahrzehnten konsequent um. Schlag mal ein aktuelles Werk zur systematischen Zoologie auf, darin wirst du altbekannte Taxa wie "Reptilia" oder "Knochenfische" nicht mehr finden. Warum? Weil die phylogenetische Systematik sich zum Ziel gesetzt hat, den Stammbaum des Lebens so zu erstellen, dass die Lebewesen nicht nur nach ihrer Ähnlichkeit sortiert werden, sondern der Baum die tatsächlichen Verwandtschaftsbeziehungen und somit die Abstammungsgeschichte (Phylogenie) des Lebens korrekt widerspiegelt.
Eine Verwandtschaftsgruppe (Taxon) hat in der phylogenetischen Systematik nur noch dann Gültigkeit, wenn sie monophyletisch ist. Ein solches Taxon wird auch Monophylum genannt. Ein Monophylum ist eine Verwandtschaftsgruppe, die einen gemeinsamen Vorfahren hat und all seine Nachkommen umfasst. Wenn ein Taxon diese beiden Kriterien nicht erfüllen kann, ist es ungültig. Solche Taxa nennt man, je nach ihrer Art, Polyphylae oder Paraphylae.
Ein Polyphylum ist eine Gruppe, die in Wirklichkeit mehrere Vorfahren, also keinen gemeinsamen Ursprung hat. Ein Beispiel für so eine polyphyletische Gruppe sind z. B. die "Würmer" ("Vermes"), weil die verschiedenen Wurmgruppen ganz unterschiedliche Vorfahren haben. So sind z. B. die Eichelwürmer (Enteropneusta) ein Teil der Neumünder (Deuterostomia) und stehen damit den Stachelhäutern (Echinodermata), ja sogar dem Menschen, stammesgeschichtlich näher als anderen Wurmgruppen wie etwa den Plattwürmern (Plathelminthes), Fadenwürmern (Nematoda) oder den Ringelwürmern (Annelida), die sämtlich Urmünder (Protostomia) sind. Und selbst diese haben innerhalb der Urmünder jeweils einen anderen Vorfahren. Entstanden sind polyphyletische Gruppen durch konvergente Evolution, also durch mehrfach voneinander unabhängig erfolgte Anpassungen an die gleiche oder an eine zumindest sehr ähnliche Lebensweise, die jeweils einander sehr ähnliche "Lösungen" hervorgebracht haben wie z. B. einen wurmartigen Körper. Auf den ersten Blick könnte man diese Gruppen dann für nahe verwandt halten, obwohl sie es in Wahrheit nicht sind. Es ist deshalb extrem wichtig zu erkennen, ob Merkmale homolog (ursprungsgleich) oder analog (das Resultat konvergenter Evolution) sind. In jüngerer Zeit hat natürlich die Molekularbiologie, etwa der Vergleich von Gensequenzen oder gar ganzer Genome, viel zur Klärung der wirklichen Verwandtschaftsverhältnisse beigetragen.
Ein Paraphylum hingegen ist eine Gruppe, die zwar einen gemeinsamen Vorfahren hat, aber nicht all dessen Nachkommen umfasst. Ein Beispiel dafür sind die "Kriechtiere" ("Reptilia"), die eigentlich auch die Vögel (Aves) mit einschließen würden, da die traditionell zu den "Reptilien" gezählten Krokodile (Crocodylia) als Schwestergruppe der Dinosaurier, zu denen die Vögel ja gehören, mit Vögeln enger verwandt sind als mit jeder anderen Gruppe der klassischen "Kriechtiere", nämlich Schildkröten (Testudines) und Schuppenechsen (Lepidosauria). Das Monophylum, das die klassischen "Kriechtiere" und die Vögel umfasst, wird heute Sauropsida genannt. Auch die "Knochenische" (Osteichthyes) sind paraphyletisch, weil ein Teil von ihnen, nämlich die Quastenflosser (Coelacanthomorpha) und Lungenfische (Dipnoi), mit den Landwirbeltieren (Tetrapoda) enger verwandt ist als mit den übrigen "Knochenfischen". Quastenflosser, Lungenfische und Landwirbeltiere bilden eine Verwandtschaftsgruppe, die man Fleischflosser (Sarcopterygii) nennt, alle anderen "Knochenfische" gehören zum Taxon Strahlenflosser (Actinopterygii). Das Monophylum, das sowohl die klasdischen "Knochenfische" als auch die Landwirbeltiere, also Actinopterygii und Sarcopterygii, umfasst, wird Osteognathostomata (übersetzt etwa Knochenkiefermünder) genannt.
Es ließen sich noch weitere Beispiele finden. Beispielsweise wurden die Großen Menschenaffen früher "Pongidae" genannt und beinhalteten Orang-Utans (Pongo), Gorillas (Gorilla) und Schimpansen (Pan), während nur der Mensch in die Gruppe Hominidae gestellt wurde. Es zeigte sich durch DNA-Vergleiche aber schließlich, dass in Wirklichkeit Schimpansen viel enger mit dem Menschen verwandt sind als mit Gorillas und Orang-Utans und die Großen Menschenaffen ohne den Homo sapiens paraphyletisch sind. Der Mensch muss deshalb in die Gruppe der Großen Menschenaffen gestellt werden und weil Hominidae in der Literatur früher verwendet wurde als "Pongidae" ist die korrekte Bezeichnung für die Großen Menschenaffen heute Hominidae.
Das alles ist schon länger bekannt und in wissenschaftlichen Publikationen längst umgesetzt. Leider sickert dieses Wissen nur ganz langsam in den allgemeinen Sprachgebrauch über, selbst Schulbücher halten oft an der veralteten Einteilung fest, obwohl wir seit Jahrzehnten wissen, dass das vermittelte Bild falsch ist. Das liegt zum Teil auch daran, dass viele dieser Begriffe so bekannt sind, dass jeder weiß, was damit gemeint ist. Selbst in der Wissenschaft werden diese Begriffe, freilich rein deskriptiv, noch benutzt (sie werden dann, um sie als nicht monophyletische Gruppe zu kennzeichnen, in Gänsefüßchen gesetzt), einfach, weil jeder sofort weiß, was ein "Fisch" oder ein "Reptil" ist. So beschäftigt sich ein Herpetologe weiterhin nur mit Amphibien und "Kriechtieren" und nicht mit Vögeln (dafür sind nach wie vor die Ornithologen zuständig), obwohl auch die Vögel Sauropsiden sind. Hier spielt dann auch eine Rolle, dass Vögel sich fundamental von allen anderen Sauropsiden unterscheiden, als Warmblüter haben sie funktionell und ökologisch viel mehr Ähnlichkeiten mit Säugern.
Dass der Volksmund nur langsam die phylogenetische Systematik übernimmt, erkennt man auch daran, dass er noch akribisch am von den Systematikern längst abgeschafften System der Kategorien (damit ist die Einteilung in "Klassen", "Ordnungen", "Familien" usw. gemeint) festhält. Selbst in der Wikipedia findest du zu jeder Spezies noch diese Einteilung in der "Tax-Box" - dabei kennt die phylogenetische Systenatik (mit Ausnahme der Art und der Gattung) keine Kategorien mehr, sondern bezeichnet jede Verwandtschaftsgruppe ohne Beimessung einer Rangstufe nur noch als Taxon. Das Kategorien-System täuscht nämlich vor, dass die verschiedenen als "Familie", "Ordnung" usw. beteichneten Gruppen auf jeweils derselben Hierarchiestufe stünden. Das ist aber tatsächlich nicht der Fall. Beispielsweise steht die "Klasse" der Vögel, nach dem, was wir nun gelernt haben, auf derselben Stufe wie die als "Ordnung" bezeichneten Krokodile usw. Eine Vergleichbarkeit ist nur bei Schwestergruppen gegeben, weshalb das Kategoriensystem salopo gesagt riesengroßer Bullshit ist. Nur hält sich außerhalb der Reihen der Systematiker leider kaum jemand daran.