![](https://images.gutefrage.net/media/default/user/14_nmmslarge.png?v=1551279448000)
![](https://images.gutefrage.net/media/user/indiachinacook/1444747442_nmmslarge.jpg?v=1444747442000)
Aus meiner Sicht bedeutet starke Säure, daß die Säure mit Wasser vollständig reagiert (also ihr Proton zu ≈100% abgibt und H₃O⁺ erzeugt). Das ist aber konzentrationsabhängig; eine Säure ist ja bei pH=pKₐ immer genau zu 50% deprotoniert. Deshalb ist die Frage, ob eine Säure stark oder schwach ist, auch konzentrationsabhängig.
Ich zeige Dir das hier anhand der Ameisensäure (pK=3.77):
- Die Abszisse gibt die Konzentration logarithmisch an; der Wert x=2 steht also für c=10¯²=0.01 mol/l.
- Die schwarze Kurve zeigt den pH-Wert der Säure mit entsprechender Konzentration, die weiße die erste Ableitung davon (rechte Ordinate). Beachte, daß man in der ersten Ableitung für eine schwache Säure −dpH/dlg(c)=½ erwartet (wegen pH=½(pKₐ−lg(c)), und für eine starke Säure natürlich 1.
- Die Hintergrundfarben geben die Anteile an freieer Ameisensäure (rot) und Formiat (blau) im Gleichgewicht an. Du siehst, daß bei c>0.01 mol/l (x<2) die Ameisensäure schwach ist, also kaum dissoziiert, und bei c<10¯⁵ mol/l (x>5) stark, also vollständig dissoziiert.
Du siehst also, daß es problematisch ist, wenn man eine Säure als Substanz stark oder schwach nennt; in Wirklichkeit kann man das nur für eine Lösung gegebener Konzentration sagen. Oft denkt man aber, daß Lösungen typischerweise einen bestimmten Konzentrationsbereich haben, z.B. grob 1 mol/l bis 0.01 mol/l; in diesem Fall könnte man die Ameisensäure als „schwach“ bezeichnen, weil sie bei derartigen Konzentrationen immer schwach ist.
(Wer sich eine „typische“ Konzentration schwächer vorstellt, z.B. 0.001 mol/l, der würde die Ameisensäure nicht mehr als schwach ansehen, sondern intermediär; immerhin sind bei c=0.001 mol/l bereits 34% der Säure deprotoniert, und pH=3.47.)
Soweit ich das interpretiere, sagen beide Deine Quellen dasselbe aus, nämlich daß eine Säure „stark“ heißt, wenn sie bei typischen Konzentrationen vollständig dissoziiert ist; Nur unterscheiden sich die Quellen insoferne, als sie verschiedene Zahlen für ein „typische“ Kozentration annehmen. Hier siehst Du es im Detail:
Hier sind die Dissoziationsgrade von Säuren mit pKₐ=0 bis pKₐ=9 für die Konzentrationen 1 mol/l < c < 10¯⁹ mol/l aufgetragen.
- Du siehst (violett oben), daß eine Säure mit pKₐ=0 bei c=1 mol/l zu α=61.8% dissoziiert ist (ja, der Goldene Schnitt), und bei c=0.1 mol/l sind es bereits α=92%. Mit etwas Gutmütigkeit kann man also sagen, daß eine Säure mit pKₐ=0 bei jeder vernünftigen Konzentration in Wasser mehrheitlich dissoziert ist, sich also als starke Säure verhält.
- Das steht im Einklang damit, daß Deine eine Quelle schreibt, Säuren mit pKₐ≤0 seien stark; diese Quelle behauptet auch, daß Säuren mit pKₐ>0 schwach seien, und daß ist ein bißchen ein Problem, denn Su siehst ja, daß selbst bei c=1 mol/l eine Säure mit pKₐ=1 zu ca. ¼ (dunkelgrün), eine mit pKₐ=2 zu ca. ⅒ (hellblau) dissoziiert ist, und bei kleineren Konzentrationen noch viel mehr.
- Deine andere Quelle sagt, eine Säure ist schwach wenn pKₐ<4. Du siehst an der Kurve für pKₐ=4 (gelb), daß eine solche Säure bei allen Konzentrationen c>0.001 mol/l (10¯³ mol/l) nur wenig dissoziiert ist. Diese Definition deckt also einen praktisch relevanten Konzentrationsbereich von 1 mol/l bis 0.001 mol/l ab.
- Aber bei hinreichender Verdünnung, z.B. 10¯⁵ mol/l, ist natürlich auch eine solche Säure kräftig dissoziiert (92%).
- Außerdem gibt es gewöhnlich auch noch einen Konzentrationsbereich, in dem die Säure weder stark noch schwach ist, sondern intermediär. Säuren mit 0≪pKₐ≪7 sind zu 50% dissoziiert, wenn ihre Konzentration das Doppelte der Säurekonstanten beträgt; für Ameisensäure sind das beispielsweise 2⋅10ᵖᴷᵃ=0.00034 mol/l.
- Beachte, daß Säuren mit pKₐ⪆7 so schwach sind, daß sie bei allen Konzentrationen nur geringfügig dissoziieren — die Kurve für pKₐ=8 (violett, unten) zeigt das deutlich.
Letztlich sind „stark“ und „schwach“ eben Eigenschaften, die von Säurekonstante und Konzentration abhängen. Ich empfehle daher die Sprechweise: Ameisensäure (pKₐ=3.77) ist bei 0.1 mol/l eine schwache und bei 10¯⁶ mol/l eine starke Säure.
Den pH-Wert einer wäßrigen Säurelösung kannst Du übrigens mit folgender Formel berechnen:
Für die Graphik habe ich diese Formel benutzt, um zuerst den pH-Wert auszurechnen, und dann daraus den Dissoziationsgrad.