Die WT teilt das Gleichnis in zwei Gleichnisse auf, von denen sie behauptet, dass sie zwei verschiedene Dinge betreffen. Das erste Gleichnis spielt sich angeblich in den Versen 1-6 des Kapitels ab ( Johannes 10), und das zweite in den Versen 7-16.
Das erste Gleichnis, heißt es, beschreibt den Stall oder die Hürde des Mosaischen Gesetzes, aus der der Herr Jesus Christus die ersten Christen als Schafe hinausgeführt hat. (WT 15‑5‑1984, S. 31). Im zweiten Gleichnis, behaupten sie, stellt der Stall die Gemeinde dar, in der sich die Heiligen befinden, deren Anzahl nach ihrer Ansicht nur 144.000 beträgt. ( „Weltweite Sicherheit unter dem Fürsten des Friedens“ S. 81). Außerhalb des Stalls des angeblichen zweiten Gleichnisses gibt es die „anderen Schafe“, die, nach der Wachtturm – Gesellschaft, Millionen von „Christen“ sind mit einer anderen Hoffnung als der himmlischen, die der Herr und die Apostel hatten.
Fassen wir kurz den Inhalt des Gleichnisses vom ersten Vers an zusammen:
Der Herr spricht von einem Schafstall, in den irgendwelche Diebe heimlich einzudringen versuchen. (Vers 1). Der Hirte dieses Stalls aber kommt durch die Tür hinein. (Vers 2). Den Hirten lässt der Türwächter eintreten, und dieser ruft die Schafe, die ihm gehören, bei ihrem Namen, und jene hören seine Stimme und er führt sie aus dem Stall hinaus. (Vers 3).
Es scheint, dass sich in diesem Stall auch Schafe anderer Hirten befinden, weil es dort heißt, „er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus.“
Dass der Hirte sie hinausführt, bedeutet, dass er sie aus dem Stall herausbringt. Tatsächlich hat der Herr Jesus Christus mit den Israeliten, die Christen wurden, seine Schafe aus dem mosaischen Gesetz herausgeführt. Nach Galater, 4, 4-5 wurde der Herr Mensch, „damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen.“
Wenn er seine Schafe hinausführt, folgen diese ihm, weil sie seine Stimme kennen, (Vers 3), und sie folgen keinem Fremden. (Vers 4). „Dieses Gleichnis erzählte ihnen Jesus; aber sie verstanden nicht den Sinn dessen, was er ihnen gesagt hatte.“ (Vers 6).
Hier scheint, dass die Zuhörer des Herrn die Bedeutung seines Gleichnisses nicht verstanden. „Weiter sagte Jesus zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen.“ Da sie nicht verstehen konnten, erzählte ihnen Jesus „also wieder“ ( gr. „ουν πάλιν“) DAS GLEICHE GLEICHNIS mit anderen Worten, damit sie dieses verstehen können! Wenn er ihnen daraufhin ein anderes Gleichnis erzählt hätte, wie es die Wachtturm - Gesellschaft behauptet, hätten sie nicht nur gar nichts verstanden, er hätte sie auch noch vollständig verwirrt!
Der Vers 7 ist aber eindeutig. Dort steht, „er sagte also wieder“ ( gr. „ουν πάλιν“) . Das „also“ hat eine erläuternde Aufgabe und bedeutet, dass das Folgende eine Erklärung des Vorigen ist, und nicht ein anderes Gleichnis! Die gleiche Bedeutung hat auch das „wieder“. Jesus hat dasselbe Gleichnis wiederholt! Er hat kein neues Gleichnis erzählt, um die Lehren der Wachtturm - Gesellschaft zu stützen!
Von Vers 7 an, haben wir also eine Analyse desselben Gleichnisses, und nicht ein neues mit anderen Bedeutungen. Das erweist sich auch aus dem Folgenden:
In Vers 8 steht folgendes: „Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört.“
Wenn es sich hier bei dem Stall um die die Gemeinde handeln würde, wie die Wachtturm - Gesellschaft behauptet, wie konnten VOR Christus Diebe gekommen sein? Da doch die Christliche Gemeinde von ihm selbst zu Pfingsten im Jahre 33 nach Christus gegründet worden ist!
Es ist unverkennbar, dass der Stall nicht die Christliche Gemeinde darstellt, sondern die Jüdische, wie auch im ersten Teil des Gleichnisses vor dem Vers 6.
Zu der gleichen Sache äußert sich die Heilige Schrift auch in der Apostelgeschichte 5, 36-37. Dort werden ein gewisser Theudas und ein Judas der Galiläer erwähnt, die versucht hatten, als Messias aufzutreten. Sie haben jedoch nichts erreicht, weil keiner von ihnen der wahre Hirte gewesen ist.
In Vers 9 erkennen wir die Grundaufgabe, die ein Hirte für die Herde erfüllt. Die Schafe benötigen von ihm zwei Dinge: 1. Obdach und 2. Nahrung. So erklärt der Herr in diesem Vers, dass er die Tür ist. Wer unter sein Obdach und seinen Schutz kommt, wird gerettet werden, „er wird ein- und ausgehen und Weide finden.“ Die Schafe werden somit unter sein Obdach gehen und Nahrung finden.
„Nahrung“ bedeutet hier die geistige Nahrung der Gemeinde. ( 1. Korinther 10, 3). Der Vers meint nicht, dass die Schafe in den Stall ein- und rausgehen werden! Es spricht über diese zwei Aufgaben des Hirten in Bezug auf seine Herde. Wie wir in den Versen 3 und 4 gesehen haben verlassen die Schafe das Mosaische Gesetz und kommen unter den Schutz des Hirten Jesus in seine Gemeinde. Das ist auch in den Versen Johannes 14, 6 und Epheser 2, 18 zu erkennen: „Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ „Durch ihn (als Tür) haben wir beide (Juden und Heiden) in dem einen Geist Zugang zum Vater.“
Das gleiche ist auch in Vers 16 zu erkennen, in welchem Jesus sagt: ΄΄ Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten. ΄΄
Der Vers sagt aus, dass er außer diesen Schafen Israels, über welche er spricht, noch andere Schafe hat, die nicht aus diesem Stall sind, die also nicht aus dem Stall des Mosaischen Gesetzes kommen.
Der Begriff „aus“ ( gr.΄΄εκ΄΄) zeigt die HERKUNFT an. Die Schafe der ersten Gruppe stammen „aus“ dem Mosaischen Gesetz und waren in diesem Stall, sind es jetzt aber nicht mehr. Sie standen unter dem Mosaischen Gesetz, aber jetzt hat sie der Herr herausgeführt. Es gibt jedoch auch andere Schafe, die nicht aus dem Mosaischen Gesetz kommen ( die Heiden), die sich einmal mit den Israeliten vereinen würden, die auch in der Gemeinde des Herren versammelt werden und eine Herde unter einem Hirten bilden würden.
„Denn er ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile (Juden und Heiden) und riss durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder. Er hob das Gesetz samt seinen Geboten und Forderungen auf, um die zwei in seiner Person zu dem einen neuen Menschen zu machen. Er stiftete Frieden und versöhnte die beiden durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib.“ (Epheser 2, 14-16).
Es scheint, als ob wir in diesem Vers dem Gleichnis mit anderen Worten begegnen würden! Er spricht über die trennende Wand ( die Hürde) des Gesetzes, die niedergerissen würde, um beide Gruppen in einer Herde zu vereinen: Heiden und Juden. So wurden sie zu einer Herde mit einem Hirten.
Um ihre fremdsprachigen Leser in die Irre zu führen, hat die Wachtturm - Gesellschaft nicht gezögert, den Bibeltext in Vers Johannes 10, 16 zu manipulieren. In ihrer eigenen Übersetzung hat sie nach ihrer Gewohnheit den Ausdruck „aus“ ( griech. =΄΄εκ΄΄) vertauscht. Anstatt auszusagen, dass die Schafe nicht „aus“ diesem Stall kommen, schreibt sie, dass sie nicht „in“ diesem Stall sind. Sie vermittelt somit den Lesern dieses misshandelten Verses den Eindruck, dass Jesus Christus die Schafe nicht aus dem Stall herausgeführt hat. Dass sie sich innerhalb des Stalls befinden und die anderen Schafe nicht. Sie versucht damit ihre Lehre zu bestätigen, dass die Schafe im Stall die Gemeinde Christi bilden, und die Schafe außerhalb eine andere Klasse darstellen, die sich außerhalb (!!!) der Gemeinde befindet. Diese andere Klasse hat vermeintlich nicht die himmlische Hoffnung, sondern eine andere. In ihrer griechischen Übersetzung hat sie das nicht gewagt, und übersetzt dort richtig.
Die Interpretation der Wachtturm - Gesellschaft erweist sich jedoch als willkürlich. Wenn der Stall die Gemeinde darstellen würde, in der sich nach der Wachtturmlehre die 144.000 Gesalbten befinden und somit auch dort verbleiben, würde man im Grundtext nicht die Präposition ΄΄εκ΄΄ ( =“aus“) erwarten, sondern ΄΄εν΄΄ ( =“in“). Also: „Ich habe noch andere Schafe, die nicht „in“ diesem Stall sind; auch sie muss ich führen.“ Doch um eine Herde unter einem Hirten zu werden, müssten die anderen Schafe, die außerhalb stehen, in den Stall hineingebracht werden. Davon ist aber im Text nirgendwo die Rede.
Dieses Gleichnis Jesu steht in direkter Verbindung mit der Prophezeiung in Hesekiel, Kapitel 34. Es handelt sich um eine Prophezeiung, die den Hirten Israels gegeben wurde, und sie warnte, dass der wahre Hirte der Israeliten kommen würde, um sie von der Unterdrückung und der Verantwortungslosigkeit ihrer religiösen Führer zu befreien. Dieser Hirte würde seine eigenen Schafe unter denen Israels auswählen und sie befreien, indem er ihnen Zuflucht und Nahrung gibt:
Hesekiel 34: (2)... sprich als Prophet gegen die Hirten Israels...(8) weil meine Hirten … nur sich selbst und nicht meine Herde weideten, ...(10) Nun gehe ich gegen die Hirten vor und fordere meine Schafe von ihnen zurück. Ich setze sie ab, sie sollen nicht mehr die Hirten meiner Herde sein....(11) Denn so spricht Gott, der Herr: Jetzt will ich meine Schafe selber suchen und mich selber um sie kümmern. (12) Wie ein Hirt sich um die Tiere seiner Herde kümmert an dem Tag, an dem er mitten unter den Schafen ist, die sich verirrt haben, so kümmere ich mich um meine Schafe und hole sie zurück von all den Orten, wohin sie sich am dunklen, düsteren Tag zerstreut haben. (13) Ich führe sie aus den Völkern heraus, ich hole sie aus den Ländern zusammen...(14) Auf gute Weide will ich sie führen, im Bergland Israels werden ihre Weideplätze sein. Dort sollen sie auf guten Weideplätzen lagern, auf den Bergen Israels sollen sie fette Weide finden. (17) …ich sorge für Recht zwischen Schafen und Schafen,...(23) Ich setze für sie einen einzigen Hirten ein, der sie auf die Weide führt, meinen Knecht David...(25) Ich schließe mit ihnen einen Friedensbund...(28) Sie werden in Sicherheit wohnen….΄΄
In diesen Versen sind deutlich die Parallelen zum Gleichnis Jesu zu erkennen. Hier sieht man, dass der Herr die Schafe aus der Unterdrückung der Hirten des Gesetzes hinausführt, um sie in seine Gemeinde zu bringen, wo sie Nahrung und Geborgenheit finden werden.
So ist auch mit Hilfe dieser Schriftstelle zu erkennen, dass der Stall im Gleichnis das Mosaische Gesetz darstellt, und nicht die Gemeinde. Die Vorstellung von zwei verschiedenen Berufungen entbehrt jeglicher Grundlage.
Einfacher ausgedrückt wie im Bibellexikon:
Symbolisch stehen die Schafe für die Menschen, die dazu neigen, umherzuirren: „Wir alle irrten umher wie Schafe, wir wandten uns jeder auf seinen Weg." (Jes 53,6; Lk 15,4-7). Der Herr sagte: „Meine Schafe gehen nicht verloren." Der gute Hirte ruft seine eigenen Schafe mit Namen, und wenn sie unter seinen eigenen Schutz gebracht worden sind, besitzen sie vollkommene Sicherheit, Freiheit und Versorgung (Joh 10,9). Der Herr führte seine Schafe aus dem jüdischen Hof heraus. Diese wurden vereinigt mit seinen anderen Schafen (Gläubige aus den Heiden), damit sie alle eine Herde mit einem Hirten würden (s. Joh 10,3.16). In dem zukünftigen Gericht der Nationen werden die Erretteten „Schafe" genannt, im Unterschied zu den Verlorenen, die „Böcke" genannt werden (Mt 25,31-46).