Warum sinkt das Selbstbewusstsein der Leute trotz wachsender Toleranz in der Gesellschaft?
In den 50er und 60er Jahren war die Gesellschaft noch wesentlich intoleranter als heute.
Trotzdem wirkt es auf mich, wenn ich alte Aufnahmen sehe oder auch z.B. alte Briefe oder Aufzeichnungen lese so, als ob die Leute damals aber selbstbewusster gewesen wären.
Ich erlebe es immer wieder, dass viele Kinder und Jugendliche heutzutage ein sehr geringes Selbstbewusstsein haben und sich vieles nicht trauen. Und das, obwohl die Toleranz in der Gesellschaft doch eigentlich viel größer ist als früher.
7 Antworten
Hallo Hessen001,
ich meine, eher das Gegenteil zu beobachten: mit einer Emanzipation von vielen Paradigmen sind die Menschen eher sich selbst geworden, haben sich umso mehr Selbstbewusstsein erworben, wissen schon in jungen Jahren, was abgeht und was sie wollen.
Gleichermaßen ist zu beobachten, dass viele Menschen heute mehr ihre Bedürfnisse artikulieren und auch durchsetzen - und es ihnen egal ist, was andere Menschen davon halten.
Das kann aber zu einer Polarisierung führen, wo manche Menschen sich als Verlierer empfinden. Da kann es gerade Kinder und Jugendliche geben, die dann sehr wenig Selbstbewusstsein zeigen, die aber auch mehr fremdbestimmt (an der Gunst dieser anderen Menschen hängend) sind.
Vielleicht finden wir hier auf unserer Plattform viele Menschen, die eher fremdbestimmt sind aber einen Ausweg suchen. Und da können wir viel mit einem Rat und auch einem Coaching helfen.
Generell scheint mir die Gesellschaft auf einem Weg zu mehr Freiraum zu sein. Dabei beobachten wir wieder eine Polarisierung, wo ein Teil der Gesellschaft an alten Dingen festhält und den Freiraum als unzulässig erklären mag.
Mit vielen lieben Grüßen
EarthCitizen
Hallo Hessen001!
Deine Beobachtungen kann ich nur wenig teilen. Ich erlebe viel öfter Kinder und Jugendliche, die ihre Bedürfnisse sehr deutlich äußern bzw. deren Befriedigung einfordern.
Die Fähigkeit zur verbalen Durchsetzungsfähigkeit scheint mir gestiegen zu sein. Deren Form und die oft daraus resultierende fehlende soziale Komponente im Miteinander stehen dabei auf einem anderen Blatt.
Und da ich auf dem Land lebe, begegnen mir Situationen, in denen Kinder und Jugendliche Furcht in Bezug auf z.B. sportliche Anforderungen zeigen, ebenfalls eher selten.
Vielleicht gibt es tatsächlich deutliche Unterschiede zwischen Stadt und Land, evtl. auch noch besonders in Gegenden , die stark landwirtschaftlich geprägt sind.
LG
gufrastella
Das ist keine Frage der Toleranz, sondern der Homogenität.
Wenn es keinen großen Unterschiede gibt, fühlt sich niemand benachteiligt. Je mehr Unterschiede es gibt oder gemacht werden, umso größer ist die tatsächliche oder die gefühlte Ungerechtigkeit.
Die Unterschiede wachsen in allen Bereichen des Lebens in Deutschland. Die Gesellschaft in Deutschland wird immer inhomogener.
- Die Einkommen klaffen immer weiter auseinander. Es gibt die Mindestlöhner, die Niedriglöhner, die Nichttarifgebundenen, die Tarifgebundenen, die Gutverdiener usw.
- Die gesellschaftliche Teilhabe nimmt immer mehr ab. Die Sport- und Kulturvereine überaltern und können oft ihre Aufgaben nicht stemmen, weil die jungen Leute sich nicht engagieren.
- Die Parteien verlieren Mitglieder und Zustimmung, weil sich immer mehr Menschen nicht repäsentiert fühlen.
- Immer mehr Gruppen und Grüppchen wollen eine Sonderbehandlung und -rechte und streiten um die Opferrolle.
- Kinder brauchen eine überschaubare stabile Welt um gut aufzuwachsen. Die gibt es immer weniger. Die Städte wachsen und sind ein soziales Chaos. Über die Medien und das Internet stürmen ungefiltert manipulierte Eindrücke auf die Kinder ein. Must-haves, Must-dos, Must-sees - da fehlt die Zeit und die Ruhe zur Persönlichkeitsentwicklung.
- Es gibt zuviele Alleinerziehende. Da fehlt gerade den Jungen ein gutes männliches Rollenbild.
- usw.
Der Unterschied zu heute: in der damaligen Jugend herrschte Aufbruchstimmung gegen verstaubte Moral, Doppelmoral und den immer noch vorhandenen Mief der Natzidiktatur. Tabus, Konventionen wurden reihenweise gebrochen. Ich muss zugeben: das hat mir als damaligen Teenager richtig Spaß gemacht und mein weiteres Leben mit geprägt. Für uns waren die alten Wohlstandsbürger gleichzeitig konsumgeile Spießbürger. Wir wollten so ziemlich das Gegenteil sein, was nicht immer gelang.
Und heute? Überholt die junge Generation die alte im Konsumdenken. Die meisten kleben nur noch am Smartphone. Das sind also insgesamt schlechte Voraussetzungen für ein gesundes Selbstbewußtsein, dazu muss man das Smartphone mal zur Seite legen....und sich wenigstens mal motivieren lassen
Woher ich das weiß? Ich arbeite mit 69 noch mit Jugendlichen, möchte aber 2023 aufhören, weil ich mir das nicht mehr mit ansehen möchte...
Kann ich weitestgehend zustimmen! Damals gab es zwar Teenepopperlys mit schicken Klamotten. Aber die mussten teilweise einiges an Spott aushalten. Sie gehörten weder zur Flowerpower-Szene noch zur etwas aggresiveren Rolling Stones Szene. Wahrscheinlich hörte man in diesen Kreisen Schlager von Roy Black und Wencke Myhre. Da gab es zumindest kaum eine Verbindung.
Man muss sagen, dass die damalige Musikszene einen quasi revolutionären Habitus im Kontrast zur Musik der älteren Generation prägte - vielmehr als es heutzutage der Fall ist. Die Bandbreite reichte in etwa vom kämpferischen "Street fighting man" von den Rolling Stones (was auf den Index kam - also zeitweise nicht öffentlich gespielt werden durfte) bis hin zur Lyrik von "Imagine" von John Lennon, eine Qualität, die heute kaum mehr in der Pop-Musik zu finden ist. Stattdessen hören die Jungs an meiner Dienststelle heute sowas wie "Messer rein, Messer raus."- Rap Songs, die Gewalt als Selbstzweck verherrlichen.
Die Kids von Fridays for future heben sich dazu positiv ab.
Heutzutage gibt es halt auch bedeutend mehr Möglichkeiten sich zu vergleichen. Und als Durchschnitts Mensch findet man im Internet eine enorme Menge Leute die irgendwas viel besser können, Aussehen whatever. Eine solche Vergleichbarkeit war früher nicht gegeben.
Wobei es auch damals unterschiedliche Gruppen gab. Die sog. Teddyboys waren z.B. sehr Konsum orientiert. Und heutzutage haben wir bei Fridays for Future Jugendliche, die sich gegen Konsum einsetzen. Es gibt und gab also mehrere Gruppen.
Was mir allerdings auffällt, dass es überhaupt nicht mehr um Qualität geht, sondern nur noch um bestimmte Marken. Und man kauft die dann, selbst wenn die Sachen eigentlich schlecht sind. Es geht um das Image bestimmte Marken.