Wer hat Ahnung von Hermeneutik? :-O

6 Antworten

Vom Beitragsersteller als hilfreich ausgezeichnet

Hermeneutik (altgriechisch ἑρμηνεύειν = erklären, auslegen, übersetzen; ἑρμηνευτικὴ τέχνη = die auf das Erklären/Auslegen/Übersetzen bezogene Kunst(fertigkeit)/Technik/Wissenschaft/Geschicklichkeit) ist die Kunst des (richtigen) Auslegens/Verstehens.

Der Begriff „hermeneutische Spirale“ bezieht sich auf die gleiche Sache wie „hermeneutischer Zirkel“, nur wird ein bestimmter Gesichtspunkt ausdrücklich aufgezeigt. Der Ausdruck „hermeneutische Spirale“ wird bevorzugt, um eine passendere Bezeichnung zu haben. Ein Zirkel (lateinisch circulus = Kreis, Kreislinie, Kreisbahn) ist eine kreisförmige Bewegung (Rückkehr zum Ausgangspunkt) und ein Kreis hat zwei Dimensionen. Eine Spirale ist ein dreidimensionales Gebilde. Das bildhafte Modell „hermeneutische Spirale“ kann in der zusätzlichen Dimension mit der Aufwärtsbewegung einen Zuwachs an Verständnis/Erkennen (Erweiterung, Verfeinerung, Berichtigung, Modifizierung) zeigen. Es vollzieht sich eine Annäherung.

In neueren Nachschlagewerken wird als Literaturhinweis im Zusammenhang mit der neuen Bezeichnung angegeben:

Jürgen Bolten, Die Hermeneutische Spirale : Überlegungen zu einer integrativen Literaturtheorie, in: Poetica : Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 17 (1985), Heft 3/4, S. 355 – 371

Bei Edmund Braun, Hermeneutischer Zirkel: In: Edmund Braun/Hans Radermacher [Hrsg.], Wissenschaftstheoretisches Lexikon. Graz ; Wien : Köln : Styria, 1978, S. 237 – 239, wird keine hermeneutische Spirale erwähnt.

Der Philologe und Altertumsforscher August Boeckh hat (nach Dieter Reichert) den Begriff „hermeneutischer Zirkel“ in seinen Vorlesungen seit 1809 verwendet, die Stelle (Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften: Herausgegeben von Ernst Bratuscheck Leipzig: Teubner, 1877, 2. Auflage, besorgt von Rudolf Klussman, 1886, S. 102) gelte als erstes Vorkommen des Ausdrucks.

Das Grundproblem beim Verstehen, nicht völlig geradlinig vorzugehen und etwas zum Verstehen heranzuziehen, das andererseits in einer Beziehung zum zu Verstehenden steht, war seit langer Zeit bekannt.

Es handelt sich beim Begriff hermeneutische Zirkel nicht darum, das Vorliegen eines Zirkelschlusses, eines logischen Fehlers (lateinisch circulus vitiosus = fehlerhafter/mangelhafter/verkehrter Kreis), zu behaupten oder zu unterstellen, das Verstehen drehe sich nur ausweglos im Kreis. Weil das Problem nicht unüberwindbar ist, kann es als Dilemma beschrieben werden.

Der Inhalt des Zirkels war zunächst, die Bedeutung/den Sinn des Besonderen bzw. des Teils vom Allgemeinen bzw. Ganzen her und den des Allgemeinen bzw. Ganzen vom Besonderen bzw. von den Teilen her zu verstehen (sie bedingen sich gegenseitig).

Friedrich Schleiermacher hielt die Form des Verstehens für hin und her verlaufende Bewegungen des Verstehens zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen, die sich ständig erweitern und das Allgemeine und die Teile in immer neuen Zusammenhängen erscheinen lassen.

Beim Verstehen unterschied er:

a) divinatorisches (erahnendes) Verfahren, mehr intuitives Verstehen, das sich einfühlend in das zu Verstehende zu versetzen und sich mit ihm gleichzeitig zu machen versucht

b) komparatives (vergleichendes) Verfahren, eigentliche Ausarbeitung des Verstehens, die Einzelerkenntnisse gelangen durch Vergleichung zu einer zusammenfassenden Gesamtauslegung Eine Zirkelstruktur des Verstehens besteht, insofern beide Verstehensverfahren sich wechselseitig bedingende Phasenmomente ein und desselben Verstehensprozesses sind.

Wilhelm Dilthey beschreibt Verstehen als den Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen. Das Verstehen ist Nacherleben eines Ausdrucks bzw. einer Lebensäußerung.

Bei Hans-Georg Gadamer tritt (in einer Anknüpfung an Martin Heidegger) als Inhalt des hermeneutischen Zirkels das Verhältnis zwischen den verstehenden Personen und der zu verstehenden Sache (Ineinanderspiel der Bewegung der Überlieferung und der Bewegung des Interpreten) auf. Beim Verstehen von etwas (Teilauslegung) wird ein schon mitgebrachtes Vorverständnis des Zusammenhangs verwendet, in dem sich das bestimmte Etwas befindet. Um von dem Zusammenhang ein Vorverständnis zu haben, ist es anderseits nötig, einzelne seiner Teile (Momente) schon verstanden haben. Das Verstehen ist Bestandteil einer Wirkungsgeschichte, die sowohl den Lebens- und Erkenntnishorizont der verstehenden Personen als auch den Objekt-Horizont (das zu Verstehende) umgreift.

Eine spiralförmige Bewegung kennzeichnet dann nicht nur das Verhältnis zwischen Textteil und Textganzem, sondern auch das Verhältnis zwischen Vorverständnis und Textverständnis.

Dieter Reichert, Zirkel, hermeneutischer: In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 12: W – Z. Basel : Schwabe, 2004, Spalte 1331- 1344, weist auf unterschiedliche Auffassungen des hermeneutischen Zirkels je nach den zugrundegelegten Konzeptionen der Hermeneutik, des Verstehens und Interpretierens, hin.

Spalte 1342 – 1343: „In der an Gadamer anknüpfenden, kontroversen Diskussion wurde a) teils unter Berufung auf Heidegger und Gadamer der h. Z. ausdrücklich bejaht oder b) vorgeschlagen, den h. Z. durch Modelle hermeneutischer Spiralen zu ersetzen, welche der erkenntniserweiternden Leistung gelingender, methodengestützter Interpretationen Rechnung tragen, oder c) von Kritikern gefordert, den Begriff ›h. Z.‹ wegen seiner Unklarheiten und Inkonsistenzen aufzugeben.“

Karen Joisten, Philosophische Hermeneutik. Berlin : Akademie-Verlag, 2009 (Akademie Studienbücher : Philosophie), S. 106: „In diesem Aufweis der Bezogenheit von Teil und Ganzem – Schleiermacher spricht von einem „scheinbaren Kreise“ – liegt ein Verweis auf den sogenannten hermeneutischen Zirkel. Versucht man ihn im Sinne Schleiermachers zu kennzeichnen, lässt er sich als eine offene Spirale beschreiben, die das sich allmählich herausbildende bessere Verstehen veranschaulichen soll. Die Zirkularität zwischen Teil und Ganzem und Ganzem und Teil, die sich sowohl auf der grammatischen als auch auf der psychologischen Seite des Verstehensprozesses findet, ist Teil des sich spiralförmig vertiefenden Verstehens und der Erfüllung der hermeneutischen Grundforderung: den Autor besser zu verstehen.“

Helmut Danner, Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik : Einführung in Hermeneutik, Phänomenologie und Dialektik ; mit ausführlichen Textbeispielen. 5., überarbeitete und erweiterte Auflage. München ; Basel : Reinhardt, 2006 (UTB : Geisteswissenschaften ; 947), enthält S. 60 – 67 das Kapitel 2.1.3 Der hermeneutische Zirkel (mit graphischen Abbildungen)

S. 62 – 63 über das Vorverständnis: „Dieses wiederum muss differenziert werden im Hinblick auf ein Vorwissen, das durch Informationen und Interpretationen laufend korrigiert wird, und einem grundlegenden Verstehenshorizont. Von diesem her und auf diesen zu verstehen wir; er macht unsere persönlich und kulturell bedingte Weltsicht aus und verändert sich im Laufe eines individuellen Lebens - wenn überhaupt – nur partiell.

Anhand des Schemas wird die zirkulierende Bewegung augenscheinlich, gleichzeitig aber auch, dass es such strenggenommen nicht um eine geschlossene Kreisbewegung handelt, sondern eher um eine Spirale Denn die Momente, zwischen den das Verstehen hin- und herläuft (Schleiermacher), bleiben ja nicht gleich, vielmehr werden sie korrigiert und erweitert. Es wurde vorgeschlagen, nicht von hermeneutischen „Zirkel“, sondern von hermeneutischer „Spirale“ zu sprechen (Diemer 1977, 144ff; Klafki 1970, 150). Wir halten die Benennung „hermeneutischer Zirkel“ für vertretbar; denn logisch gesehen scheint tatsächlich ein Zirkel vorzuliegen; außerdem hat man jenen Sachverhalt seit F. Ast und F. Schleiermacher mit „hermeneutischem Zirkel“ bezeichnet. […] Wichtig ist, dass wir den hermeneutischen Zirkel nicht als circulus vitiosus begreifen, also nicht als logischen Kreis, bei dem das zu Beweisende schon in den Voraussetzungen enthalten ist. Dennoch wird am hermeneutischen Zirkle eine paradoxe Situation des hermeneutischen Vorgehens sichtbar: Es muss nämlich dasjenige, was verstanden werden soll, schon irgendwie vorweg verstanden worden sein (Broecken 1975, 222).“


sanne172 
Beitragsersteller
 05.02.2011, 10:11

Was für eine wunderbare und ausführliche Antwort! :-)
Vielen Dank für so viel Mühe.
Ich stelle fest, dass mein Wissen zu diesem Thema doch noch sehr oberflächlich ist.
Aber mit Hilfe Deiner Antwort (die ich sicher noch ein paar Mal lesen werde) werde ich meinen Horizont erweitern können ;-))

0

Ich kenne mich in der klassischen Hermeneutik einigermaßen aus und der Spirale-Begriff ist mir neu. Er mag sprechender sein, aber was ich hier lese, zeugt eindeutig von einem negativen Verständnis des Zirkels (vgl. TeeEi!), das für die Hermeneutik nicht drin ist. Die Zirkelstruktur des Verstehens ist eine Vorstellung, die mindestens auf Schleiermecher zurückgeht. Heidegger warnt ausdrücklich davor, den Zirkel als vitiosum zu missverstehen :

„Der Zirkel darf nicht zu einem vitiosum und sei es auch zu einem geduldeten herabgezogen werden. In ihm verbirgt sich eine positive Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens, die freilich in echter Weise nur dann ergriffen ist, wenn die Auslegung verstanden hat, dass ihre erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern“ (Sein und Zeit).

Der „circulus vitiosus“ ist ja ein Begriff der Logik, und hier geht es eben nicht um Logik.

Von einem Zirkel darf wohl gesprochen werden, weil hier die wiederholte Rückkehr vom Ganzen zu den Teil und umgekehrt gemeint ist, und diese Bewegung, dieses Hin und Her ist nicht geschlossen, kommt nie zu einem Abschluss. Es ist die Handlung, durch die unser Vorverständnis, von dem wir notwendigerweise ausgehen, sich zu einem immer präziseren Verständnis profiliert.

Ferner hat Gadamer die Aufgabe übernommen, eine philosophische Hermeneutik aufzubauen, nachdem Heidegger sich bekanntlich nach „Sein und Zeit“ von diesem Begriff distanziert hat. Gadamer betont dabei den „Vorgriff“, den er als „Vorgriff der Vollkommenheit“ versteht. Er geht nämlich davon aus, dass wir beim Verstehen eine Sinnkohärenz voraussetzen. Ob nun diese Sinnkohärenz tatsächlich immer vorliegt, steht auf einem anderen Blatt, das Gadamer nicht geschrieben hat. Für ihn ist sie das Kriterium, das an die Stelle der als letzter Sinninstanz unhaltbar gewordenen Autorintention tritt, und als solche hinterfragt er sie m.W. nicht. Eher darin liegt für mich die Grenze des hermeneutischen Zirkels.


sanne172 
Beitragsersteller
 05.02.2011, 10:08

Vielen Dank für Deine Antwort - ich werde noch eine Weile darüber nachdenken müssen :-)

0

Eine kleine Ergänzung: Zirkel ist deshalb kein passender Begriff, weil er bedeutet, dass das Problem ausweglos ist. Man dreht sich eben im Kreis und kommt nicht weiter. In der Wirklichkeit kommt man sehr wohl weiter, was man auch auf theoretischer Ebene gut belegen kann. Wenn man es weniger bildlich beschreiben will, kann man statt "Zirkel" "Dilemma" benutzen.


sanne172 
Beitragsersteller
 03.02.2011, 20:27

Vielen Dank! :-)
Also ist der Begriff "Zirkel" mittlerweile überholt und wird gar nicht mehr verwendet?

0
TeeEi  03.02.2011, 20:32
@sanne172

Das hat halt Tradition und ist so schön übertrieben ;) Und wenn man das Problem so ganz oberflächlich betrachtet - z.B. indem man es nur in ein, zwei Sätze beschreibt, dann scheint es auch ein Zirkel zu sein.

Wie es aussieht, wenn man tiefer in die Materie einsteigt, wirst du schon sehen - oder auch nicht :D

0
sanne172 
Beitragsersteller
 03.02.2011, 20:44
@TeeEi

Oder auch nicht? :-O

.
Mach mich nicht schwach! Hoffentlich komme ich auch zu der Erkenntnis ;-)))

0

Ich habe das so verstanden, dass es eigentlich dasselbe ist. Der Begriff Spirale wurde nur eingeführt, weil er passender ist, da es sich ja eigentlich nicht um einen geschlossenen Zirkel handelt, sondern die Bildung eher spiralförmig verläuft. Ich habe ein gewisses Vorverständnis von einer Sache, wenn ich mich mit ihr beschäftige. Durch diese Beschäftigung erweitere ich meine Kenntnisse, habe also ein erweitertes Vorverständnis, mit dem ich wiederum an eine ähnliche oder übergeordnete Thematik herangehe und so weiter. Daher ist der Begriff Zirkel nicht wirklich passend, da ein Zirkel ja eher wie etwas geschlossenen klingt - oder wie etwas endloses. Da das Wissen/die Bildung ja aber nicht gleich bleibt/sich nicht ständig im Kreis dreht, sondern sich erweitert, ist das Bild einer Spirale zur Darstellung einfach passender. Wenn ich komplett daneben liege, bitte korrigieren, aber so habe ich das zumindest in unserem Studienbrief verstanden (studiere Bildungswissenschaft)


StPauline  03.02.2011, 20:02

Hermeneutische Spirale ist also nur eine andere Bezeichnung des Hermeneutischen Zirkels, gefordert von Jürgen Bolten, da der Verstehensprozess ja mit einem Verstehenszuwachs einhergeht, sprich das Verständnis ist eher wie eine aufsteigende Spirale als wie ein geschlossener Kreis, wenn man es grafisch darstellen möchte.

0
sanne172 
Beitragsersteller
 03.02.2011, 20:03

Sag nur! Ich auch! :-D

Am 2.3. ist Klausur. Oder bist Du schon weiter? :-))

0
sanne172 
Beitragsersteller
 03.02.2011, 20:14
@StPauline

Supi!
Vielen Dank für Deine Antwort :-D

0

PS Wenn dich das interessiert, hat Wolfgang Steigmüller schon relativ früh am Zirkel-Begriff auf sehr herbe Weise Kritik geübt:

W. Stegmüller: „Der so genannte Zirkel des Verstehens“, in: K. Hübner/A. Menne (Hg.): Natur und Geschichte, Hamburg, 1973.