Warum zählten die Sudetendeutschen als Deutsche und nicht als Österreicher?

6 Antworten

Die Bezeichnung "Sudetendeutsche" entstand im frühen 20. Jahrhundert und bezog sich auf die deutschsprachigen Bewohner der ehemaligen habsburgischen Kronländer Böhmen, Mähren und Schlesien. Diese Regionen gehörten nach dem Ersten Weltkrieg zur neu gegründeten Tschechoslowakei.

Die Mehrheit der Sudetendeutschen sprach Deutsch als Muttersprache. Dies war ein entscheidendes Kriterium für ihre nationale Identifikation. Die Kultur der Sudetendeutschen war eng mit der deutschen Kultur verbunden. Dies zeigte sich in vielen Bereichen wie Literatur, Musik, Bildung und Traditionen.

Im 19. Jahrhundert verstärkten sich nationalistische Tendenzen in Europa. Die Sudetendeutschen sahen sich zunehmend als Teil der deutschen Nation und strebten nach einer stärkeren politischen Verbindung zu Deutschland.

Warum keine Österreicher?

Obwohl die Sudetendeutschen jahrhundertelang Teil des Habsburgerreichs waren, das von Österreich aus regiert wurde, entwickelten sie im Laufe der Zeit ein eigenes regionales Bewusstsein. Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns und der Gründung der Tschechoslowakei erhielten die Sudetendeutschen die Staatsbürgerschaft des neuen Staates. Die politischen Bestrebungen der Sudetendeutschen richteten sich in erster Linie auf eine stärkere Autonomie innerhalb der Tschechoslowakei oder eine Angliederung an Deutschland. Eine Vereinigung mit Österreich war kein bedeutendes Ziel.

Man kann also festhalten, das sich die Sudetendeutschen aufgrund ihrer Sprache, Kultur und politischen Entwicklungen primär als Teil der deutschen Nation ansahen.. Ihre historische Zugehörigkeit zum Habsburgerreich und damit zu Österreich spielte zwar eine Rolle, war aber für ihre nationale Identität von untergeordneter Bedeutung.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Geschichte Schwerpunkt Deutsches Reich / Nationalsozialismus

Mein Grossvater (sudetendeutscher Flüchtling) mit einem Antifaschistenpass hat zu Lebzeiten öfters erzählt, dass er damals eigentlich nach Österreich und nicht nach Deutschland wollte. Österreich hat damals seiner Aussage nach die Aufnahme sämtlicher sudetendeutscher Flüchtlinge mit diesem Anliegen abgelehnt. Deutschland hatte keine Wahl und musste Flüchtlinge aus diesen Gebieten aufnehmen.

Im Dritten Reich gab es Umsiedlungen, die gingen nicht von Österreich aus...

Aus dem gleichen Grund, warum sich deutschsprachige Südtiroler bis heute schon mal als "Deutsche" bezeichnen: weil sie sozusagen in der Zeitkapsel neben dem sich entwickelnden deutschen Nationalstaat blieben, der diesen Begriff für sich in Anspruch nahm. Für die bedeutete "deutsch" noch die Zugehörigkeit zu einem Kulturkreis, nicht zu einem Staat - was es heute bedeutet.

Es sind viele Sudetendeutsche (und Siebenbürger) auch in Österreich gelandet. Dass es letztlich mehr in Deutschland waren, liegt an der Größe und nicht zuletzt der Geographie - es lag für die meisten näher. Die Vertreibungen nach dem 2. WK gingen auch klar Richtung Deutschland.

Nach dem Ersten Weltkrieg hat Österreich darum ersucht, dass alle deutschsprachigen Gebiete der ehemaligen Monarchie in der neuen Republik vereint würden. Dies wurde von den Siegermächten untersagt. Damals empfanden sich alle Deutschsprachigen als Deutsche, was auch darin zum Ausdruck kam, dass Österreich sich Deutschösterreich nennen wollte, was von den Siegern ebenfalls verboten wurde. Der von Hitler gewaltsam vollzogene Anschluss Österreichs ist auch deshalb vom Großteil der österreichischen Bevölkerung zunächst begrüßt worden, weil man es normal fand, als Deutsche zu Deutschland zu gehören. Erst nach und nach entstand zunächst unter Nazi-Gegnern die Idee einer Nation Österreich, die nach dem Zweiten Weltkrieg rasch Allgemeingut wurde. Abgetrennte deutschsprachige Gebiete wurden von dieser Nationenbildung nicht erfasst.


jo135  03.09.2024, 18:08
Erst nach und nach entstand zunächst unter Nazi-Gegnern die Idee einer Nation Österreich, die nach dem Zweiten Weltkrieg rasch Allgemeingut wurde.

Das ist, freundlich gesagt, Geschichtsklitterung. Diese Idee war bereits durch die 1. Republik in der Verfassung von 1919 verankert und im Ständestaat sogar bis ins Extrem getrieben worden. Es war keineswegs so, dass man sich in Österreich allgemein "deutsch" im Sinne einer Nationalzugehörigkeit fühlte. Und sie begann auch schon lang davor.

Auch das "Deutsche Reich" rang bis weit in die Zwischenkriegszeit noch heftigst um seine eigene Nationalstaatlichkeit, gegen die Kleinstaaterei und um seine ausfransenden Grenzen. Die Idee, dass "deutsch" nicht einen eher losen Sprach- und Kulturkreis, sondern eine Zugehörigkeit zu einem klar abgegrenzten Nationalstaat bedeutet, war bis dahin eher ein Elitenprojekt des Großbürgertums. Es waren, wieder Ironie des Schicksals, erst die Nazis, die daraus eine umfassende "Nationaltheorie" bildeten und brutal von oben nach unten durchsetzten. Kein Zufall, dass erst die Nazis eine unmittelbare deutsche Staatsangehörigkeit einführten (vorher war man in erster Linie Bürger eines Teilstaats wie Bayern, Preußen, Württemberg, ...).

Österreich (insbesondere der deutschsprachig-cisleithanische Teil der Monarchie) hatte dagegen fast 100 Jahre vor dem Deutschen Reich eine einheitliche Straf- und Zivilgesetzgebung, eine einheitliche Staatsbürgerschaft, usw. Das ist kein Zufall: es hatte sich aus dem sterbenden HRR schon lang abgekoppelt und nach innen orientiert, nicht nach dem Deutschen Reich, das noch lange ein zerstrittener Haufen war und alles andere als eine "Nation" im modernen Sinn.

Die Anschlussideen nach dem Fiasko des 1. WK (und dann mit der Krise ab '29) waren ganz klar rückwärtsgewandt: man grub damit eine alte Idee wieder aus, über die schon mehr als eine Generation gewachsen war.

Abgetrennte deutschsprachige Gebiete wurden von dieser Nationenbildung nicht erfasst.

Ja, wie denn auch?

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