Zum einen spielt Überzeugung und Identität eine zentrale Rolle. Viele Menschen definieren sich stark über ihre Ansichten, sei es Religion, Politik, Ernährung oder moralische Grundsätze. Wenn sie glauben, dass eine andere Lebensweise „falsch“ oder „schädlich“ ist, fühlen sie sich nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, andere zu überzeugen. In ihrem Weltbild ist das nicht Übergriffigkeit, sondern moralische Verantwortung: Wer nicht überzeugt wird, begeht ihrer Wahrnehmung nach einen Fehler, der korrigiert werden muss.
Ein weiterer Faktor ist Schwarz-Weiß-Denken. Komplexität ist psychologisch anstrengend, und das Leben in klaren Kategorien, richtig/falsch, gut/böse, gesund/ungesund, vermittelt Kontrolle und Orientierung. Wer extreme Positionen einnimmt, hat oft das Gefühl, dass Kompromisse moralisch problematisch sind oder die eigenen Werte untergraben. Das erklärt, warum radikale Veganer, Klimaaktivisten, politische Hardliner oder andere Gruppen oft keine Grauzonen akzeptieren: Alles, was außerhalb der eigenen Überzeugung liegt, wird automatisch als Bedrohung oder Verfehlung gesehen.
Auch spielt Gruppendruck und soziale Dynamik eine Rolle. Wer in einer Community lebt, die radikale Positionen teilt, wird zusätzlich bestärkt. Übergriffigkeit kann als Ausdruck von Loyalität und Engagement gegenüber der Gruppe verstanden werden, wer überzeugt andere nicht, zeigt schwache Bindung oder mangelnde „Moral“.
Schließlich ist da noch die emotionale Dimension. Wenn jemand leidenschaftlich von einer Sache überzeugt ist, wird rationales Argumentieren schwer. Übergriffiges Verhalten entsteht häufig aus Angst, Wut oder Frustration: Angst, dass die Welt durch das Verhalten anderer „schlechter“ wird, und Wut, dass andere scheinbar verantwortungslos handeln.
Dein Gedanke, dass respektvolles Nebeneinander möglich sein sollte, ist genau richtig. Demokratie, Freiheit und Menschlichkeit beruhen auf der Fähigkeit, unterschiedliche Lebensweisen zu akzeptieren. Das Problem ist, dass manche Menschen diese Prinzipien für sich selbst hochhalten, sie aber bei anderen nicht anwenden, weil sie das Gefühl haben, dass es „um etwas Grundlegendes“ geht. Radikalität entsteht also weniger aus reiner Boshaftigkeit, sondern aus psychologischer, sozialer und moralischer Überzeugung, die außer Kontrolle geraten ist.
Gruß aus Tel Aviv