Warum wurde in manchen Familien die Nazizeit nie wirklich aufgearbeitet?

4 Antworten

Zu einer Zeit des technischen Fortschritts.

In dieser Zeit gab es nun mal technische Fortschritte, sowohl auf Seiten der Alliierten, als auch bei den Achsenmächten resp. im dritten Reich. Manches davon legte gar den Grundstein für so manche Dinge, die wir heute völlig selbstverständlich nutzen. Sowohl der erste und zweite Weltkrieg als auch der kalte Krieg danach, war für vieles ein Katalysator. Warum? Weil im Kriegszustand sowohl Wissenschaft und Industrie gezwungener Maßen zur eigenen Überlegenheit besonders getrieben wurden. In Nazi-Deutschland geschah vieles unter dem Größenwahl von Adolf Hitler und seinem „engeren” Zirkel, jedoch war man auch auf der anderen Seite nicht untätig. Egal ob Fahrzeug- und Motorenbau, Forschung an und Entwicklung von ersten Strahltriebwerken, synthetische Kraftstoffe, die ersten Vorreiter der Raumfahrt oder unterschiedlichste Entwicklung im Bereich der Kommunikationsmittel. Vieles in Kriegszeiten entstanden ist und später im zivilen Bereich weiter entwickelt wurde.

Wenn es in der Zeit keinen so großen technischen Fortschritt gegeben hätte, wäre wohl kaum schiffsweise an Kriegsbeute in die USA geschafft worden. Ja selbst Forscher wurden trotz ihrer Nazi-Vergangenheit ins Ausland gebracht. Das war bei den Amis so und auch bei den Sowjets nicht anders. All das relativiert nicht den Nationalismus, da der technische Fortschritt nicht daran gekoppelt ist/war. Ganz im Gegenteil - ohne den Krieg, die schlimmen Verbrechen, einhergehend mit viel Tod, Leid und der massiven Zerstörung Europas, wäre Deutschland in den Bereichen Technologie und Wissenschaft wohl wesentlich stärker als heute. Durch die großflächige Bombardierung von Deutschland durch die Alliierten wurden auch vieles an Geschichte für immer ausgelöscht. Ich würde wirklich vieles dafür geben, wenn ich einmal durch das Deutschland der 1920er Jahre reisen dürfte. Mit ein Grund warum ich mir gerne alte Bildaufnahmen ansehe und bei Zeit restauriere und ggf. koloriere.

Wie kann trotz der Schulbildung, trotz der vielen Aufarbeitung das rechtsextreme Weltbild in so vielen Köpfen stecken?

In der Schule wird die Zeit des Nationalsozialismus zwar in unterschiedlichen Fächern thematisiert, der reguläre Unterricht reicht aber bei weitem nicht aus, um solch komplexe Dinge in Gänze und in Kürze durchzuarbeiten. Ich beschäftige mich seit nun mehr 20 Jahren damit und trotzdem immer wieder auf Neues dazulerne. Wie viel man weiß oder meint zu wissen, hängt stark von den eigenen Interessen ab. Wer sich nicht sonderlich für Geschichte, Wirtschaft oder Politik interessiert, beschäftigt sich in der eigenen Freizeit ehr mit den Tabellenergebnissen um Fußball, anstatt in alte Bücher, Feldpost und sonstige Zeitdokumente zu lesen. Je nach eigener Schulbildung, Ausbildung und Beruf, Hobbys sowie Interessen, unterscheidet sich auch das Wissen darüber, was in damaliger Zeit wann, wo und wie geschehen ist. Manche wissen im Grunde nur grundsätzliche Dinge wie Pogromen, Holocaust, Kriegsanfang und Ende usw. - und andere sich halt länger und intensiver damit auseinandersetzen.

Nur weil du hier die Behauptung aufstellst, das in vielen Köpfen ein rechtsextremes Weltbild steckt, muss dies nicht der Wahrheit entsprechen. Ich würde es gar als falsch zurückweisen und zunehmend eher den Eindruck habe, das viel zu inflationär mit Stempeln wie rechtsextrem, Nazi oder der Gleichen umgegangen wird. Den Rechtsextremismus an sich stelle ich nicht in Frage, jedoch ob und wie weit dieser wie auch immer in den Köpfen anderer stecken soll oder sollte. Zumal die älteren Generation die heute noch Leben, mehrheitlich als Kinder oder Jugendliche den Krieg erlebt, miterlebt und überlebt haben. Bei meinem 1917 geborenen und 1993 verstorbenen Großvater war es anders. Da weiß ich, das er mit Anfang 20 in der Wehrmacht gedient hat, in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war und einer der wenigen war, der lebend in die eigene Heimat zurückkehren durfte.

Meine Großmutter wurde hingegen 1929 geboren und verstarb 2005, sie war 1933 zu Kriegsbeginn also gerade mal 4 Jahre alt. Sie hat als junges Mädchen und Jugendliche zwar vieles mitbekommen, aber ist weit davon entfernt, als glühende Nationalsozialisten gebrandmarkt zu werden. Solche und ähnliche Biografien gibt es ebenso zuhauf, wie eben auch derer, wo man es genau weiß oder nicht weiß, das die eigenen Groß- oder Urgroßeltern mehr in allem verstrickt waren. Zumal aus heutiger Sicht die damalige Zeit für viele schwer nachzuvollziehen ist. Im Nachhinein ist es immer leicht zu sagen, ich hätte dieses oder jenes nicht gemacht oder meinen, sie hätten dagegen rebelliert. Sagen und behaupten kann jeder immer viel, ob darauf in einem diktatorischen System auf Worten auch Taten folgen, mal in Frage stelle.

LG medmonk

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Plato: Das Denken ist das Selbstgespräch der Seele.

Ich kann da nicht mitreden. Mein Vater war unter den Nazis politischer Häftling und ging haarscharf am Tod vorbei. Sein Cousin wurde umgebracht.

Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen würde, wenn mein Vater ein Mitläufer gewesen wäre, oder sogar ein Nazifunktionär. Da hätte ich dran zu knabbern.

In meiner Familie wurde hinter seinem Rücken kein gutes Haar an ihm gelassen, weil er auch das Leben seiner Familie auf's Spiel gesetzt hätte.
Er hatte verbotenerweise den "Feindsender" am Radio gehört und das, was er hörte, im Dorf verbreitet. Deshalb kam er ins Gefängnis.

Ich finde, seine Kritiker hatten schon auch recht. Es war einfach gefährlich in der damaligen Zeit, gegen den Strom zu schwimmen, noch dazu hatte er Familie.
Und trotzdem bin ich so richtig stolz auf ihn, er war mir immer ein Vorbild, selber mutig zu sein.

Beide Haltungen hatten ihre Berechtigung.
Sich und seine Familie in einer schlimmen Zeit zu schützen und den Mund halten,
oder den Mut aufbringen und sein Leben auf's Spiel zu setzen.


Spielwiesen  12.08.2023, 20:43

Diese Attitüde, trotz drohender Lebensgefahr geradlinig das zu vertreten und zu verteidigen, was man als Recht und rechtens empfand, ist charakterlich etwas ganz Großes!

Dein Vater hatte ganz sicher die Gabe, sich geistige Unterstützung 'von oben' zu holen! Gut, wie alles verlaufen ist. ♡

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lumbricussi  12.08.2023, 23:09
@Spielwiesen

Ach ich weiß nicht. Er hatte einen starken Gerechtigkeitssinn und war jähzornig, aber wenn's drauf ankam, handelte er ganz kaltblütig.
Zur Ehrenrettung der Dorfbewohner muss ich noch berichten, dass ihn keiner der Dorfbewohner denunziert hatte, bis auf einen. Und das war der Stiefbruder meiner Mutter. Der war ein gutaussehender junger Mann und verliebt in Mama, und da kam einer aus dem Krieg (1. Weltkrieg) heim, 16 Jahre älter als Mama, glatzköpfig, nicht gerade gertenschlank und wenige Zentimeter kleiner als sie. Und schaffte es, sie ihm auszuspannen. Die Anzeige bei der Gestapo war seine späte Rache.
Bin grad dabei, für meine Enkel und Urenkel die Familiengeschichten aufzuschreiben. Die sind zum Teil wirklich spannend.

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Spielwiesen  12.08.2023, 23:43
@lumbricussi

Was da so alles hineinspielt an Umständen und Unwägbarkeiten ... da ist es am Ende ⁵ein Wunder, wie am Ende alles weitgehend gut verlief. !

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lumbricussi  12.08.2023, 23:59
@Spielwiesen

Ja, da kann man auf ganz seltsame Gedanken kommen. Musste alles gut verlaufen, damit ich noch auf die Welt kommen konnte?
Aber ich bin niemand, der für irgendwas wichtig gewesen wäre, es sei denn, meinen Kinder das Leben zu ermöglichen. Aber soweit ich sehe, sind die auch ganz normal und glücklich. Ist es vielleicht eines der Enkelkinder, das wichtig für die Welt ist? Keine Ahnung. Dummer Gedanke. 😄
Ne, Moment. Da waren ganz kuriose Umstände nach meiner Geburt. Weil ich auf der Flucht geboren wurde, blieb Mama durch den Stress die Milch weg. Sie konnte mich also nicht ernähren. Den anderen Flüchtlingsfrauen, die schon Babys hatten, blieb ja auch die Milch weg. In dem Dorf, wo ich zur Welt kam, stellte ein Bauer den Flüchtlingsbabys eine Kuh zur Verfügung, bzw. deren Milch. Mama gab mir nichts davon, weil sie dachte, es wäre für mich und alle besser, wenn ich sterben würde.
Und ich war das einzige Baby, das überlebte, weil die Kuh krank war und die anderen Babys, die deren Milch tranken, an Durchfall starben. Ich konnte nur noch krächzen, aber bei Mama schoss die Milch ein und deshalb stillte sie mich doch.
Jetzt, im Nachhinein, da du es sagst, sieht die Geschichte tatsächlich kurios aus.

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Spielwiesen  13.08.2023, 05:10
@lumbricussi

'Kurios' - das Wort ist noch untertrieben für so einen wundersamen Start ins Leben inklusive Rettung auf gleich mehreren Ebenen. Da reichen fast die Worte nicht!. Danke!

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lumbricussi  13.08.2023, 13:23
@Spielwiesen

Du meine Güte, Spielwiese! Jetzt dämmert es mir erst, WIE kurios die Geschichte war. Auf alle Fälle, und das steht fest, ich bin soooooo froh, dass ich existiere!
Und gesetzt den Fall, die Leute mit ihrer Wiedergeburtslehre haben recht, dann komm ich sofort wieder, wenn ich doch mal den Löffel abgeben müsste.
Naja, ein kleiner Erholungs- und Regenerationsurlaub im Jenseits täte ja auch ganz gut. Und ein fröhliches Wiederkommen auf dem Planeten, diesesmal aber ohne Krieg. :-)

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lumbricussi  13.08.2023, 13:32
@lumbricussi

Komisch, man wünscht sich selbstverständlich eine optimale Umgebung, intelligente, einfühlsame und wohlhabende Eltern, Haus mit Garten, tolle Lehrer, eine robuste Gesundheit, der Weg in die Zukunft ohne Steine, ohne Gefahren ....
Was denkst du, wäre das wirklich alles wünschenswert?
Als Kind hab ich gerne Bücher gelesen wie die Schatzinsel oder die Karl-May-Bücher, die Erfinder- und Entdeckerbücher. Das Leben dort war voller Gefahren und das Bestehen der Gefahren waren das Beste. Oder das Entdecken von Unbekanntem. Ich vermute, ohne Schwierigkeiten, Anstrengungen und Gefahren wäre das Leben nur eine lauwarme salzlose Suppe. Nur sollte alles halt auch zu bewältigen sein. Man braucht dazu einfach auch Glück, als wichtigste Zutat.

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Hessen001 
Beitragsersteller
 12.08.2023, 05:57

Mein Ur-Opa war in der Nähe eines KZs in Polen stationiert. Ob er das KZ gesehen hat, weiß ich nicht. Aber ich denke, mitbekommen hat er auf jeden Fall was.

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Weil es eigentlich nicht nötig ist, in die Vergangenheit zu blicken (bzw. inur in einem gewissen Maß) ... Die gleiche Situation haben wir aktuell im nahen Osten und eine ähnliche in Russland. Die FEhler wiederholen sich ständig, der 2.WK war nicht der erste Krieg und wird auch nicht der letzte sein. Und je mehr die gGlobalisierung vorangeht, desto mehr WELTkriege werden es sein. WEnn man die Vergangenheit ignoriert, macht man immer die gleichen Fehler, denkt man ständig darüber nach, können wir keine Zukunftsinnovationen entwickeln und verbleiben immer auf dem selben Entwicklungsstand.

In Deutschland liegt der geschichtliche Fokus auf der Nazizeit, dadurch wiederholen wir die Fehler aus anderen Epochen (siehe Inflation, Energieproblem, Fachkräftemangel,...)

Bis 45 waren fast alle Nazis, danach warf man das Mäntelchen der Demokratie darüber, bzw das Mäntelchen des Schweigens - entsprechend viel blieb von der Gesinnung übrig 😬

Von diesen Alten wurde erzählt wie sicher es damals war und fast im gleichen Atemzug wurde erzählt: nur ein falsches Wort und weg warst du!