Warum sind Menschen oft so selbstkritisch?

7 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Wer sich selbst nie (kritisch) hinterfragt, kann sich auch nie weiterentwickeln. In einem gewissen Maß ist das also völlig gesund, wenn man nicht überall im Leben anecken möchte.

Zeigt man dieses Verhalten allerdings in einem übertriebenem, ungesunden Maß auf, kann es auf schlechten Lebenserfahrungen oder Prägungen während des Aufwachsens hindeuten. Also wenn man sich quasi nie gut genug für irgendjemanden oder irgendwas fühlt. Dann sollte man an seinem Selbstbewusstsein arbeiten.

Die Selbstkritik hat viel für sich. Gesetzt den Fall, ich tadle mich;

So hab' ich erstens den Gewinn, Daß ich so hübsch bescheiden bin;

Zum zweiten denken sich die Leut, Der Mann ist lauter Redlichkeit;

Auch schnapp' ich drittens diesen Bissen Vorweg den andern Kritiküssen;

Und viertens hoff' ich außerdem Auf Widerspruch, der mir genehm.

So kommt es denn zuletzt heraus, Daß ich ein ganz famoses Haus.

(Wilhelm Busch)

Wilhelm Busch in Ehren, aber nach meiner persönlichen Erfahrung ist leider der Mangel an Selbstkritik häufiger anzutreffen als die tatsächliche Selbstkritik.

Das ist eine Sache der Kultur und der Erziehung.

Unsere Kultur ist vom Christentum geprägt. Uns wurde Jahrhunderte lang eingebläut, dass wir alles Sünder seien und schon sündig auf die Welt kommen.

Es ist nicht nötig, gläubig zu sein oder der Kirche anzugehören, um davon beeinflusst zu werden.

Denn jeder, der sich selber lobt, sich weigert, sich zu hinterfragen oder sich als fehlerlos sieht, wird sofort von allen Seiten angegriffen.

Dazu kommt ein anderer, psychologischer Mechanismus: Wenn etwas schief läuft, dann ist es ätzend, wenn wir erkennen, dass jemand anders dafür verantwortlich ist.

Das kann einen auch entlasten - aber es nimmt einem auch die Möglichkeit, selber die Kontrolle über Situationen zu übernehmen.

Hinterfragen wir uns aber selbst, können wir vielleicht einen Hebel finden, wie wir das nächste Mal anders handeln können, um die Situation zu unseren Gunsten zu beeinflussen.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung

Das Gefühl ergibt sich oft aus einer gewissen Unsicherheit und auch aus der in Deutschland oft anerzogenen Unart, man müsse "demütig und geduckt" sein, dürfe sich nicht selbst loben und schon gar nicht erst mögen oder sympathisch finden, sondern habe sein eigenes Licht unter den Scheffel zu stellen und stets kritisch auch mit sich selbst zu sein, weil das ja zur "Charakterbildung" beitrage... ich kenne die Litanei aus meiner Heimat. Manchmal ist es gut, sich zu hinterfragen, aber selbstbewusst und stark wird man so nicht.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

Littlethought  18.04.2024, 20:27

Du hast tatsächlich die Erfahrung, dass die meisten Menschen selbstkritisch sind? Wir müssen in verschiedenen Welten leben.

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rotesand  18.04.2024, 20:30
@Littlethought

Zumindest in meinem früheren Umfeld war das so, weil man dort einer sehr strengen Sozialkontrolle ausgesetzt war und jeder Schritt überlegt sein musste. Auch hat die typische Erziehungsweise dieser "Kreise" das Übrige getan - da hat sich kaum jemand getraut, zu sich zu stehen oder sich zu mögen oder sich Talente einzugestehen - man hat eher dazu geneigt, sich diese Talente selbst in Abrede zu stellen oder sich noch zu kritisieren.

Ich war auch mal so veranlagt, bin aber froh, das alles hinter mir gelassen zu haben. Es war eine der schwierigsten Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, aus diesem "Kulturkonservativismus" mit seinen Paradigmen auszubrechen - und ohne meine frühere Freundin hätte ich das nicht gepackt. Man kann ihr objektiv einiges nachsagen, aber in dem Punkt hatte sie mir in extremer Weise geholfen und das werde ich ihr auch nicht vergessen.

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Littlethought  18.04.2024, 20:33
@rotesand

Es liegen wahrscheilich tatsächlich Welten zwischen uns. Möglicherweise bin ich ein halbes Jahrundert älter als du.

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rotesand  18.04.2024, 20:34
@Littlethought

Ja, ich habe auf dein Profil geschaut - es sind rund 40 Jahre.

Auch habe ich in deinem Profil eine Großstadt gelesen - und ich stamme aus einer absolut reaktionären Vorstadt, in der menschlich sehr vieles ein wenig "verquer" lief; ich gehe davon aus, dass das heute noch immer so ist, habe aber keine Kontakte mehr und keine Ahnung, was läuft oder was nicht läuft.

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Weil sie so geprägt werden. Ich kenne die genauen Zahlen nicht mehr, aber ich glaube ein 18 Jähriger hat über sein ganzes Leben hinweg über 100 000 negative Prägungen erhalten. Unsere Gedanken sind das Ergebnis unserer Prägungen. Das heißt, wenn man von außen immer wieder kritisiert wird, fängt man an sich selbst zu kritisieren.