Ist die Achtsamkeitslehre in Wahrheit amoralisch?
Hallo Ihr Lieben!
Mich beschäftigt bereits seit einer ganzen Weile eine die folgende Frage, auf die ich auch im Bereich der Literatur bisher keine Antwort gefunden habe:
Welchen Stellenwert haben eigentlich Ethik, Moral und - ganz wichtig! - Gerechtigkeit (in all ihren Formen und verschiedenen Interpretationen) - im Bereich der Achtsamkeitslehre, wie sie ja auch bei uns immer mehr Fuß fasst (im Guten wie im Schlechten). Diese Lehre nimmt ja in gewisser Weise für sich in Anspruch, "den wahren Charakter der Welt" zu erkennen: Dass alles nur eine Illusion des Ego sei, welches selbst eine Illusion sei - und so fort. Gut und schön, kann schon sein. Ich bin, das muss ich hier ergänzend hinzufügen, intellektuell daran interessiert und auch zugeneigt, aber kein direkter Anhänger.
Frage für mich ist aber schon, wie die vorhandenen Anhänger mit der Tatsache umgehen, dass ja nicht alle Menschen gleich gute Voraussetzungen haben, diese Illusion (nehmen wir kurz an, es sei eine) überhaupt zu durchschauen. Wer obdachlos ist oder auf der Flucht oder auch nur um das nächste schmale Gehalt bangen muss, ist offensichtlich weniger empfänglich für spirituelle Erkenntnisse als Menschen mit mehr Privilegien. An welcher Stelle kommt das vor? Und die Idee, wir seien in Wahrheit alle "ein großes ganzes" und die Trennung in Individuen ebenfalls eine Täuschung, beantwortet die Frage ebenfalls nicht. Auch, wenn Schmerz unvermeidlich sein sollte, bleibt zu klären: Warum haben manche soviel davon (zuviel, um überhaupt etwas zu "erkennen"), andere quasi gar keinen?
Verzeiht mir die Abgehobenheit, aber ich finde es beachtlich, dass selbst Menschen der Dalai Lama und vergleichbare Größen nie über diese Frage sprechen und eher ausweichend antworten, wenn sie darauf angesprochen werden. Wohl nichtb im Bösen: Ihnen scheint das Problem gar nicht klar zu sein...
Was denkt ihr?
Danke Euch sehr :)!
4 Antworten
Du verwechselst "Achtsamkeit" mit "Buddhismus". Das erste ist eine Fähigkeit, die erlernt werden sollte ( wie man das kann, wird natürlich auch gelehrt ). Das andere ist die zugrunde liegende Lehre ( Dharma ).
Die Fragen, die du hier stellst, werden nicht von der "Achtsamkeits-Lehre" beantwortet, sondern von der Lehre des Buddha.
Und, darüber wird in buddhistischen Kreisen ( oder auch Büchern, Vorträgen etc. ) ständig und ausführlich gesprochen. Nur eben in der Regel nicht von sogenannten "Achtsamkeits-Lehrern", die ja zumeist keine Buddhisten sind, und auch nicht die buddhistische Lehre verbreiten wollen...
Diese Lehre ist höchst komplex. Mit ein paar Sätzen lassen sich deine Fragen sicher nicht beantworten. Sich damit zu beschäftigen, erfordert schon etwas Geduld und auch Zeit...
Der Dalai Lama ( um bei deinem Beispiel zu bleiben ) spricht seit Jahrzehnten über diese Themen, die dich interessieren. Ich habe 35 oder 36 Bücher von ihm gelesen - und bestimmt drei viertel davon handeln direkt oder indirekt genau von diesen Fragen...
Aber auch der Buddha war sich z.B. des Problems der "ungleichen Bedingungen" bewusst, und hat viele Male, in ganz unterschiedlichen Kontexten davon gesprochen.
Allerdings hat der Buddha seine Lehrreden ( es gibt schätzungsweise 40.000 ) nicht "nach Themen sortiert" gehalten, sondern fast immer situativ.
Du schreibst, du wärst " intellektuell daran interessiert und auch zugeneigt". Hast du dich denn schon ein wenig mit der buddhistischen Lehre befasst ?
Vor allem in de ersten, wichtigsten Lehrrede über die "Vier Edlen Wahrheiten" erklärt der Buddha doch schon, was es mit dem "Leiden", und den "Ursachen des Leidens" auf sich hat. Von da ausgehend lehrte er z.B. das "bedingte Entstehen" ( Pratitya Samudpada ), also wie alles in Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen ensteht und vergeht. Oder - in vielen Variationen - wie unser Geist und unsere Wahrnehmung funktioniert...
Im Übrigen hat er nicht gesagt, wir "wären alle ein großes ganzes". Das ist ein "Kalenderspruch", eins von unzähligen angeblichen "Zitaten", die gar nicht vom Buddha stammen...
Wie gesagt: das alles auszuführen, würde viel zu weit führen. Und: mit der "Achtsamkeits-Lehre" hat all dies nichts ( oder fast nichts ) zu tun.
Wir können uns gerne über einzelne Punkte ( Fragen ) unterhalten. Doch, den größten Teil des Lernens und Verstehens musst du selbst bewältigen. Dafür gibt es unzählige Quellen und Hilfen ( auch kostenlose, du musst dir dazu nicht gleich ein Dutzend Bücher anschaffen ).
Wenn du willst, leite ich dich da gerne weiter...
Liebe Grüße: Manu
Ich kenne dir von dir angedeutete "Achtsamkeitslehre" gar nicht.
Achtsamkeit und Rücksicht sind positive Eigenschaften, die man im angemessenen Maßstab sozial-adäquat verwenden sollte. Achtsamkeit erhebt doch aber keinen Anspruch darauf, religiöse Aussagen zu machen oder Allheilmittel zu sein.
Buddhismus ist einfach nur eine Religion, also etwas, das sich Menschen vorstellen und ausgedacht haben, und hat auch seine Schwächen und Grenzen.
Achtsamkeit ist zwar ein wichtiger Teil des Buddhismus, aber Achtsamkeit können ja auch alle anderen ausüben.
Ich denke nicht, dass du "Achtsamkeit" korrekt verstanden hast. Deine Frage ist mit Verlaub eher wirr.
Es gibt schon eine Lehre dahinter
Ganz ehrlich, ich bezweifle dass es eine irgendwie auch nur ansatzweise einheitliche "Achtsamkeitslehre" gibt. Und ich kenne mich recht gut aus im Bereich Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung.
Es wird in vielen Bereichen von Achtsamkeit geredet, sei es im Kontext von Meditation und Spiritualität, im Kontext von Buddhismus oder auch mal ganz profan im Kontext von Körpersprache, Wahrnehmung, Psychologie. Der Begriff Achtsamkeit hat da schon inhaltlich deutliche Überlappungen, aber ich kann keine irgendwie geartete "Lehre" erkennen, die man als "System" diskutieren könnte, wie es bei dir in der Frage anklingt.
Hast du eventuell Links auf Artikel zu der "Achtsamkeitslehre", die du meinst?
"Achtsamkeit" selbst ist durchaus in manchem Kontext problematisch. Sie ist definitiv kein Allheilmittel und sollte nicht überbewertet werden.
Hier ist ein Artikel, der zumindest deinen Begriff "Achtsamkeitslehre" verwendet und ihn eher negativ dastehen lässt. Beachte, dass dort keine Lehre vorgestellt wird, sondern das Gesamtkonzept kritisiert wird. Der Ausruck "-lehre" ist dort Kritik.
https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-gefahrlichen-folgen-der-achtsamkeitslehre-4092418.html
Ansonsten habe ich deinen Begriff so gut wie nicht gefunden. "Achtsamkeitslehre" ist kein etabliertes Konzept, "Achtsamkeit" selbst ist schwammig, aber etabliert.
Diese Lehre nimmt ja in gewisser Weise für sich in Anspruch, "den wahren Charakter der Welt" zu erkennen: Dass alles nur eine Illusion des Ego sei, welches selbst eine Illusion sei
So eine Lehre kenne ich nicht, zumindest nicht unter diesem Namen. Das klingt nach spirituellen bis religiösen Aussagen, die wohl nüchtern betrachtet einfach falsch sind -- wie quasi alle religiösen Aussagen ja sowieso.
also die eigenen Gedanken und Gefühle meditativ zu beobachten. Die sich daraus ergebende Weltsicht hat zur Prämisse, dass es keine "objektive Wahrheit" gibt;
Nein, darum geht es bei Achtsamkeit vorrangig nicht. Es geht um Wahrnehmung eigener und fremder Bedürfnisse.
Weder Weltsicht noch Wahrheit sind Themen von Achtsamkeit.
Noch eine Ergänzung. Lies dir mal die Wikipedia-Kritik zu Achtsamkeit durch:
https://de.wikipedia.org/wiki/Achtsamkeit_(mindfulness)#Kritik_aus_soziologischer_Sicht
Auch da wird Achtsamkeit als Begriff, nicht als Lehre diskutiert und die Vielschichtigkeit und Schwammigkeit des Begriffs diskutiert -- und natürlich auch negative Aspekte dieses Konzepts.
Erneut geht es nicht um Wahrheit oder moralische Ansprüche. Ich sehe keine moralische Implikation von Achtsamkeit.
Man kommt da in eine Transzendente Wahrnehmung "alles ist eins". Bei solchen Erkenntnissen muss man trotzdem auf dem Boden bleiben.
Man ist in dem Sinne ethisch dass man das Leid eines anderen als sein eigenes wahrnimmt und so demnach im Interesse anderer Menschen egoistisch handelt. Man tut es irgendwie für sich selbst wenn man den Schmerz des anderen fühlt und eben auch für sich selbst lindern will und deswegen hilft.
Wenn wir eh jedes Wesen auch selbst sind wenn wir alle eins wären, dann erlebt man ja auch jeden Schmerz sowie jede gute Erfahrung eines jeden Lebewesen irgendwann. Ich muss nicht neidisch sein auf ein reiches Kind weil ich es ja in einer anderen Reinkarnation ich selber bin und selber erfahren werde oder erfahren habe.
Diebstahl macht mit dieser Philosophie auch kein Sinn weil du dich selber beklaust. In der Praxis ist das unter unglücklichen Umständen natürlich völlig unbrauchbar weil ein Obdachloser der verhungert ist dadurch ja auch nicht satt und wird stehlen wenns nicht anders geht.
Noch nie von dieser Lehre gehört.
ABER
Wenn ich sie beantworten müsste weil ich dieses und jenes gelesen habe, dann würde ich sagen..
1) ja klar haben unterschiedliche Menschen unterschiedliche Möglichkeiten ins spirituelle zu finden, die eine mehr die anderen weniger, aber unterschiedliche Menschen sind ja auch wegen unterschiedlichen Erfahrungen hier, es kann gut sein das die eine Inkarnation nur eine gewisse reife erzeugen soll, so das sie dann in der nächsten zum spirituellen finden...
Es gibt schon eine Lehre dahinter, die sich auch ohne "Götter" und dergleichen verstehen lässt - mehr als philosophisches Konzept. Anderenfalls wäre ich gar nicht interessiert daran und vermutlich wäre die Verbreitung im Westen auch nicht so groß wie heute. Im Wesentlichen geht es darum, sich "nach innen zu wenden" - also die eigenen Gedanken und Gefühle meditativ zu beobachten. Die sich daraus ergebende Weltsicht hat zur Prämisse, dass es keine "objektive Wahrheit" gibt; im Grunde nicht einmal ein "Ich", welches diese Wahrheit erkennen könnte. Achtsamkeit wiederum ist ein feststehender Fachbegriff in diesem Kontext.