Was meint Nietzsche damit? Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne

3 Antworten

Oh, das ist Wasser auf die Mühlen eines Epikureers, denn, wenn man das Vorkapitel mitliest, und das sollte man, wird deutlich, dass Nietzsche da seinen sonst nicht mehr so geliebten Epikur zitiert. Er repetiert Epikurs Sprachkritik, die bei Epikur in die Forderung mündet, auf die PROLEPSIS der Worte zu achten, auf ihren ursprünglichen Bezug zu den benannten Phänomenen der Erfahrung, die damit Namen erhalten. Hier ausführlich auf Epikurs Sprachkritik einzugehen, die ja aus wenigen Äußerungen erschlossen werden muss, ist kein Raum. Aber die Stoßrichtung ist klar: Wahrheitsnähe liegt immer in der möglichst korrekten Auffassung von erfahrbaren Phänomenen, nicht in der idealistischen Überhöhung von Wortbedeutungen und Logikspielchen damit. Das richtet sich gegen Platon und Aristoteles, für die Begriffe Realität prägen und nicht die Realität die Begriffe. Das ist auch Nietzsches kritische Anfrage, wieweit man sich Wahrheit nur einbildet und sich in dieser Einbildung ganz groß vorkommt.

Die Vergesslichkeit zielt auf die wahre Herkunft der Begriffe, grob gestrickte, von Menschen an komplexe Phänomene vergebene Namen, mit denen sie dann logisch jonglieren, als wenn die Namen die Wirklichkeit wären. Diese Wahrheit ist insoweit eine Tautologie, als der Mensch in seinen so hochgeschätzten Logischen Begriffewolf (von Fleischwolf abgeleitet) oben die Begriffe eingibt, die unten im logisch verwurschtelten Bedeutungsbrei herauskommen sollen. Für Epikur liegt Wahrheitsnähe nicht darin begründet, dass die logische Begriffsverarbeitung technisch korrekt durchgeführt wurde, sondern dass das Ergebnis den zu prüfenden Erfahrungen in der Realität standhält. Denn ein Lieblingsspiel der Idealisten ist die Reduktion, die Abstraktion vom Einzelnen auf das große Gesamte. Bereits bei dieser Abstraktion unterbleibt die Prüfung, wie viele Stolpersteine der Realität wegabstrahiert werden, um dann in Bausch und Bogen den gefälligen Deckel drauf zu machen. Schon mit dem Satz „Der Mensch ist“ formt sich jeder seinen gefälligen Pappkameraden nach Bedarf seiner Treffsicherheit weit vorbei an den real kaum zu übersehenden Unterschieden in Eigenschaften und Gebaren einzelner Individuen. Utopien sind voll von Abstraktionen, die alle in sich zusammenfallen, wenn man die in den Abstraktionen gemachte Schönfärberei hinterfragt.

Wer bei Nietzsche weiterliest erhält mit den ersten Sätzen des nächsten Absatzes eine weitere Darlegung epikureischer Sprachkritik. Da heißt es: „Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe. Jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, dass heißt streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen.“ Nietzsche hat seinen Epikur gut verstanden. Aber dem Hochstrebenden lag dieser sachliche Epikur nicht, war ihm nicht Kraftmensch genug. Kein Wunder, dass ein anderer inzwischen vergessener Epikureer, Friedrich Jodl, kein Nietzsche-Freund war. Unter http://www.gkpn.de/Jodl_Idealismus-Referat.pdf gibt es einen Beitrag dazu. Aber der Epikureismus schmeichelt uns Menschen nicht und ist nüchtern auf das kleine Lebensglück gerichtet, mit dem Nietzsche in seiner Aufgeblasenheit nichts anzufangen wusste.



Prodenez  31.03.2015, 13:46

sehr schön formuliert!!

im deutschen, wunderschönen sprachgebrauch fällt mir dazu noch die "bezeichnung" von euphemismus ein. :)

koaha e

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scoredelia  07.10.2018, 08:41

Klasse Kommentar. Auch Nietzsche war Kind seiner Zeit, wenn auch ein geniales. Wenn man sich die damalige Unterhaltungsliteratur ansieht, in der mit bombastischen Beschreibungen von Äußerlichkeiten oft der Sinn und Inhalt oder das Wesen der beschriebenen Sache eher vertuscht als erhellt wird, sollte der Zusammenhang etwas klarer werden.
(Ich beziehe mich mit dieser Aussage auf den frühen Fantasyroman "Ouroboros", in dem seitenlange Beschreibungen winziger Details prächtiger Städte aufgelistet werden um deren Wert als kostbar zu charakterisieren. Einwohner? Fehlanzeige. Wen könnte eine solche Beschreibung interessieren? Kaufleute bestenfalls, ansonsten Abenteurer, Piraten, Eroberer und Kolonialisten. )
Damals hatte jeder hochfliegende Pläne, es gab eine "Anything goes" Einstellung, in jedem gutbürgerlichen Wohnzimmer wurden Weltreiche, Handelsimperien etc. gezimmert, solange bis es die Europäer juckte, diese Möglichkeiten auszuprobieren. Diese Möglichkeiten hatten sich mit ihrer "Nutzung", also dem ersten Weltkrieg, aber auch schon erledigt.

Dass da ein quasi "hausmütterlich" erscheinender Epikur nicht sonderlich attraktiv sein konnte, gilt wahrscheinlich nicht nur für Nietzsche, sondern für den größten Teil des europäischen Bürgertums.

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Er spricht das Problem an, dass das Subjekt eine objektive Wahrheit nie erkennen können wird, da es die Umwelt durch seine Sinne wahrnimmt. Skeptizismus ist hier, denke ich, ein Stichwort. Aber es ist auch schon drei in der Früh, also wirklich ... Um die Uhrzeit solche Fragen. :/


GelberZettel 
Beitragsersteller
 31.03.2015, 03:17

Danke :) was meint er eigentlich mit... "Vergesslichkeit wähnen" ?

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Irmin82  31.03.2015, 03:17

Und das Problem, dass wir uns durch die Sprache versuchen eine Realität zu schaffen, die mit Worten nicht greifbar ist.

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GelberZettel 
Beitragsersteller
 31.03.2015, 03:21

"Wenn Jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt , es eben dort wieder suchz und findet, so ist an diesem Suchen znd Finden nichz viel zu rühmen.." was meint er denn mit dieser Passage?

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Irmin82  31.03.2015, 03:28
@GelberZettel

Ohne den Zusammenhang weiß ich das nicht. Kann mir nur vorstellen, dass er andere Philosophen schlecht macht. Könnte auch eine Anspielung auf Kant sein: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Wahrscheinlich meint er so auch das Vergessen, dass wir wieder an den Punkt kommen müssen, bevor wir uns selbst unmündig gemacht haben. Sind nur Theorien ...

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GelberZettel 
Beitragsersteller
 31.03.2015, 03:49

Du kannst du vllt. rexht haben. in der passage soll er auxh die Naturwissenschaft schlechz darstellen... irgendeine Theorie?

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Irmin82  31.03.2015, 04:00
@GelberZettel

Der Nietzsche stand vor allem der Kirche kritisch gegenüber und ideologisch sind seine Sachen alle sehr sozialdarwinistisch, somit könnte ich mir vorstellen, dass er den Naturwissenschaften einen Vorwurf macht, weil sie sich nicht stärker durchgesetzt haben. Aber wenn dich das interessiert, bei jedem Philosophen würde ich mir zuerst Einführungen durchlesen, bis ich weiß was der sagen will und dann erst die Bücher lesen. Der Nietzsche ist 1900 gestorben, das ist über hundert Jahre her und auch wenn er sich gut liest, ist es trotzdem einfach nicht mehr unsere Sprache. Da ist es wirklich besser Philosophen der Jetztzeit zu lesen, die das Ganze erläutern.

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Oberfrosch  31.03.2015, 11:33

von Sinnen ist hier überhaupt nicht die Rede, von Skeptizismus ebenfalls nicht, von Subjektivität und Objektivität überhaupt nicht.

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Würde man sich daran erinnern, was für Stuss man schon einmal geglaubt hat, der sich dann als unwahr herausgestellt hat, dann würde man ganz klar erkennen, dass man nicht im Besitz der Wahrheit ist.