Gedicht - warum keine Groß- und Kleinschreibung?!

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Gründe für das Kleinschreiben können sehr verschieden sein: Unter den bedeutenden Dichtern des letzten Jahrhunderts hat z. B. Stefan George sich als adeliger Kunstpriester gefühlt und aufgeführt und sich auch durch seine Kleinschreibung vom gewöhnlichen Volk abheben wollen, das sich an Rechtschreibregeln hält.

Ihr wisst nicht wer ich bin.. nur dies vernehmt:
Noch nicht begann ich wort und tat der erde
Was mich zum menschen macht.. nun naht das jahr
In dem ich meine neue form bestimme.
Ich wandle mich doch wahre gleiches wesen
Ich werde nie wie ihr: schon fiel die wahl.
So bringt die frommen zweige und die kränze
Von veilchenfarbenen von todesblumen
Und tragt die reine flamme vor: lebt wohl!


Die „modernen“ Kleinschreiber seit den 1960ern dagegen streben wohl eine Art sozialistische Gleichheit aller Wörter und Buchstaben an und schreiben möglicherweise alles klein, um eine Sonderbehandlung einiger weniger Wörter durch elitäre Großbuchstaben zu vermeiden. Bei etlichen war das Kleinschreiben eine Phase der Auflehnung, die sie durchmachten, vielleicht ähnlich dem Sturm und Drang, den ja auch der spätere Minister und Geheimrat Goethe mit Götzzitat, Kindsmord-Gretchen etc. durchlief. Nobelpreisträgerein Elfriede Jelinek etwa verfasste in jenen Jahren ihre Gedichte und Bühnenstücke in Kleinschreibung, jetzt tut's sie's schon lange nicht mehr.

Die Großschreibung aller Nomen und substantivierten Formen im Deutschen wurde ja erst im Barock, also im 17. Jh. , eingeführt. Zuvor hatte man oft das erste Wort einer Seite, egal, was es für eine Wortart war, und vor allem immer das Wort Gott sowie die Fürwörter, die sich auf Gott bezogen, sowie gelegentlich wichtige Wörter verschiedener Art durch große Buchstaben („Majuskel“) hervorgehoben, die überdies oft verziert waren.

Als die Romantiker, die der Antikenbegeisterung der dt. Klassik Gleichwertiges mit anderer Herkunft gegenüberstellen wollten, suchten sie auch in der deutschen Vergangenheit und entdeckten die großen Dichtungen des Mittelalters: den Minnesang, das Nibelungenlied und die anderen Heldenepen sowie wunderbare Kunstepen wie den „Parzival“ – und alles war in Kleinschreibung! Diese wollte man dann in Mittelalterbegeisterung auch wiederhaben, und so machen nun die gesammelten wissenschaftlichen Zeitschriften, in denen die Sprachwissenschaftler im frühen 19. Jh ihre Arbeiten durchgehend in Kleinschreibung veröffentlichten (ZfdA,, GRM...), viele dicke Bände aus. Der älteste der 3 Brüder Grimm, Jacob Grimm, schrieb etwa, er habe den „misbrauch groszer buchstaben für das substantivum“ „abgeschüttelt.
Damals schaffte Norwegen die Großschreibung ab, Dänemark aber , das sie ebenfalls hatte, strich sie erst 1948.

Ein Argument gegen Großbuchstaben waren immer die Kosten. Das Setzen und Drucken verschiedener Alphabete kostet Zeit, und Zeit ist Geld. Als dann nach dem 2. Weltkrieg über Jahrzehnte hinweg eine Rechtschreibreform diskutiert wurde, stand als Kompromiss auch eine nur „gemäßigte Kleinschreibung“ zur Diskussion, da aber würden für Satzanfänge und Eigennamen weiter die Großbuchstaben benötigt. In der RS-Reform, die schließlich erfolgte, ist man dann aber sogar einen Schritt zurück gegangen: Die zahlreichen Scheinsubstantivierungen, die vorher kleingeschrieben worden waren (im voraus, im dunkeln tappen, im allgemeinen…) sind nun groß.

Im Gegensatz zur Prosa (aber selbst dort manchmal) nimmt ein Dichter in einem Gedicht die Möglichkeit wahr, über die Worte hinaus Emotionen "rüber zu bringen". So gestalten sich Gedichte durchaus individuell, gelegentlich sogar in der Orthographie.

Das bringt die Leser dazu, nicht darüber hinweg zu lesen, sondern sich mit dem Inhalt mehr zu beschäftigen.

Es gibt übrigens noch ein Merkmal, das üblicher für fast alle Gedichte ist. Man beginnt jeden Vers mit einem Großbuchstaben.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Unterricht - ohne Schulbetrieb

Zwar wird ja immer wieder gerne angeführt, dass derlei -konsequente Kleinschreiberei- als eine Art "modernes Stilmittel" zu deuten (und: in dem jeweiligen Kontext entsprechend zu interpretieren) ist.

Wer mag, kann das so ja auch sehen.

Auf mich wirkt das mitunter allerdings wie eine -eher bisschen billige- Effekthascherei: schafft erst einmal Verwirrung, und lädt dann auch noch ein zum Spekulieren (über irgendwelche Tiefgründigkeiten, die am Ende womöglich gar nicht existieren).

Einem Herrn Goethe jedenfalls wär´ wohl kaum in den Sinn gekommen, "zauberlehrling" hinzuschreiben....


Volens  01.10.2013, 12:36

Nun, ja, wenn man Goethe besser kennt, weiß man, was er in seiner Sturm-und-Drang-Periode so alles fabriziert hat, - auch das selbstverständlich große Poesie.

Beispiel gefällig?

An Schwager Kronos

Spute dich, Kronos!

Fort den rasselnden Trott!

Bergab gleitet der Weg;

Ekles Schwindeln zögert

Mir vor die Stirne dein Haudern.

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mia68  01.10.2013, 12:46
@Volens

...soll mir was genau jetzt sagen!?

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