Bist Du weise und wenn ja warum?

Weise sein ist das bestmögliche Einsetzen der Vernunft, d.i. des höheren Verstandes, der nämlich über Gut und Böse richtig zu urteilen versucht (vgl. z. B. I. Kant).

(Klug sein ist das bestmögliche Einsetzen des Verstandes.)

Da allerdings das Gute mit dem Bösen immer verbunden ist, was man erst erkennen kann, je größer man eine Sache betrachtet, gibt es nur die Liebe zur Weisheit (= Philosophie), den vielleicht immerhin fast lebenslangen Versuch eines Menschen weise zu werden.

Niemand kann weise sein, also weiß ich, dass auch ich es niemals sein kann.

Kants Aufforderung der Aufklärung "Sapere aude!" heißt eben nicht "Wage zu denken!", was ja heute noch immer und immer wegen der Zementierung des Rationalismus in der Gesellschaft falsch übersetzt wird, das wäre ja zum Beispiel "Cogitare aude!", sondern "Wage weise zu sein!", "Wage zweifelnd über Gut und Böse nachzudenken!"

Zu behaupten man wäre weise ist alles andere als weise. Man kann sagen dass man erfahren ist, aber niemand von uns hat die Weisheit mit Löffeln gegessen.

Es gibt vielleicht Leute die gut reden können oder Probleme anderer gut nachvollziehen können oder gute Lösungen für komplexe Probleme finden, doch das macht uns nicht weise.

Ich habe das Kompliment weise zu sein auch schon bekommen, doch ich glaube wir gehen mit dem Wort zu leichtfertig um. Zu wissen macht nicht weise. Jeder handelt auch mal weniger weise. Wir alle sind fehlerhaft und daher auch nicht weise. Jedenfalls ist das meine Weltansicht.

Erstmal finde ich es interessant wieviele Menschen sich für weise halten, das gibt mir selbst auch wieder zu denken. Ich erachte Weisheit nicht als etwas, was eine Grenze oben hat. Wenn mich jemand fragt, ob ich weise bin, dann stelle ich das in Relation zur Gesamtbevölkerung und relativ zu meiner Altersgruppe, und in dieser Hinsicht bin ich es. Meine Freunde sind meistens im Schnitt 20-40 Jahre älter als ich, weil die Erkenntnisse da zusammenpassen.

All das heißt nicht, dass ich in meiner persönlichen Entwicklung nicht trotzdem ganz am Anfang stehe. Ich lerne nach wie vor von meinen Vorbildern und über mich selbst. Was ich ganz und gar nicht bin ist besonnen und klug und fähig zu leben wie ich es will. Weisheit erachte ich auch nicht als das (richtig zu leben hat mit Disziplin, Geduld, Klugheit und anderem zu tun), sondern als eine Ansammlung von, teilweise gelebten, teilweise verinnerlichten Wissen in Bezug auf komplexe emotionale Lebensentscheidungen und Bedeutungen auf Basis von Verständnis, Assoziationsvermögen und Beobachtung und Erfahrung. Weisheit bestätigt sich für mich dadurch, wenn ich die richtigen Worte finde, um diejenigen in die Richtung zu bewegen in die sie gehen wollen, zu ruhen wenn ich Ruhe brauche und aktiv zu sein, wenn das nötig ist.

Weisheit bedeutet für mich nicht, ein vorbildhaftes Leben führen zu können. Wer das tun will, der kann nicht weise sein angesichts der Unmöglichkeit seines Vorhabens.

Weisheit ist für mich ein Blick hinter die Mauern der Fassade der reinen Logik, eine Öffnung dafür Alles und Nichts zu sein - weise und einfältig zugleich. Dumm und schlau. Sich nicht auf eines zu beschränken. Stärken und Schwächen zu haben und ein Wille stetig zu wachsen und das zu teilen. Weisheit bedeutet für mich in gewisserweise Reife, denn Reife ist ebenso wie Weisheit an Erfahrung gebunden.

Ich handele definitiv nicht immer weise.

So fange ich immer wieder mit Fanatikern und Betonköpfen Diskussionen an, obwohl ich doch weiß, wie unsinnig das ist und das ich mich am Ende nur darüber ärgern werde. So lecke ich immer wieder die Messerspitze ab, wenn ich eine Messerspitze Pfeffer/Chili irgendwo reingetan habe.

Darüber hinaus, finde ich, es ist nicht sehr weise, sich da selber einzuschätzen, das sollte man anderen überlassen.

Das ist ja ein Paradoxon. Wenn man sich selbst für Weise hält, ist man es garantiert nicht - wenn nicht, könnte man es schon sein.

Ich denke, dass ich vielleicht eine kleine Idee von Weisheit in mir trage - direkt als "weise" bezeichnen würde ich mich aber nicht. Dafür bin ich viel zu besserwisserisch und arrogant.