Was ist eure Meinung darüber, wenn sich Minderheiten untereinander so bezeichnen, wie von der Gesellschaft allgemein erwartet wird, sie nicht zu bezeichnen?


14.09.2024, 19:35

Sollte man die Person dann darauf hinweisen, dass seine Bezeichnung diskriminierend und unangebracht ist oder darauf verzichten?

9 Antworten

Nein, denn Du machst Dich lächerlich, wenn Du dem Betroffenen quasi signalisierst, Du wüßtest besser als er, wann oder weswegen er beleidigt zu sein hat.
Und genaugenommen stellt auch dies eine Diskriminierung dar.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Gastarbeiterkind

Garnet72  14.09.2024, 22:48

Guter Punkt!

Hallo SimpleHuman,

bei dem von dir beschriebenen Phänomen handelt es sich möglicherweise um den Versuch der "Reappropriation", d.h. der Wiederaneignung und positiven Umdeutung eines (ursprünglich) negativ konnotierten, diffamierenden bzw. diskriminierenden Begriffs durch die "Betroffenen", der sich einem Vertreter der Mehrheitsgesellschaft möglicherweise nicht sofort erschließen mag, so dass ich mich als "Nicht-Betroffene" einer persönlichen Wertung enthalten möchte.

https://en.m.wikipedia.org/wiki/Reappropriation

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Geusenwort#:~:text=Als%20Geusenwort%20

Der Hinweis, dass die fragliche Selbstbezeichnung diskriminierend ist, wäre somit vermutlich nicht angebracht oder zumindest überflüssig, aber eine höfliche Nachfrage, die zu einem konstruktiven Austauch führen könnte, dürfte sicherlich kein Problem darstellen.


SimpleHuman 
Beitragsersteller
 14.09.2024, 20:42
Wiederaneignung und positiven Umdeutung eines (ursprünglich) negativ konnotierten, diffamierenden bzw. diskriminierenden Begriffs

Wäre es dann moralisch korrekt, wenn man als nicht zugehöriger die Bezeichnung verwendet, wenn sie nicht diskriminierend gemeint ist?

Früher war bei uns die Redewendung "Du bist ja ein richtiger Zigeuner" Ausdruck dafür, dass eine Person besonders clever, kreativ bzw sogar überlegen gehandelt hat und war kein bisschen diskriminierend zu verstehen.

Wär das korrekt oder unangebracht?

Garnet72  14.09.2024, 20:54
@SimpleHuman

Würde ich für unangebracht halten, da die negative Konnotation der Bezeichnungen ja durch die Mehrheitsgesellschaft geprägt wurde, die die fraglichen Begriffe und Redewendungen zumeist in diskriminierender Absicht verwendete: wie kann ein Betroffener beurteilen, ob du eine solche Bezeichnung bzw Redewendung abwertend oder evtl. gar als Kompliment benutzt, wenn er nicht weiß, ob du nicht beispielsweise rassistische oder antiziganistische Ressentiments teilst.

SimpleHuman 
Beitragsersteller
 14.09.2024, 21:00
@Garnet72

In einem Dialog lässt sich das feststellen. Wie es vermutlich zu verstehen ist, lässt sich doch auch ableiten, in welchem Zusammenhang der Begriff verwendet wird.

Garnet72  14.09.2024, 21:26
@SimpleHuman

Natürlich, aber eine als diskriminierend empfundene Bezeichnung oder Redewendung als "Opener" kann - unabhängig von der Intention - einen Dialog schon im Keim ersticken.

lumbricussi  18.09.2024, 23:19
@SimpleHuman

Als ich ein Kind war und am Abend zerzaust, verdreckt, mit blutigen Knien, aber leuchtenden Augen nach Hause kam, wurde ich manchmal gefragt: Wo bist du denn heute rumzigeunert? Rumzigeunern war der Ausdruck von glückseliger Freiheit.

Garnet72  18.09.2024, 23:22
@lumbricussi

In diesem Kontext und vor allem mit dieser Bedeutung sicherlich auch keineswegs anstoßerregend.

SimpleHuman 
Beitragsersteller
 18.09.2024, 23:22
@lumbricussi

Das ist schon irgendwie absurd, dass man als "diskrminierend" abgestempelt werden kann, nur weil mehrheitlich entschieden worden ist, dass es diskriminierend gemint sein muss

Garnet72  18.09.2024, 23:26
@SimpleHuman

Na ja, wenn man sich tatsächlich mehrheitlich - unter Einbezug der "Betroffenen" - darauf einigen kann, dass ein Begriff zumeist in diskriminierender Intention als Fremdbezeichnung genutzt wird, dann ist das aber eigentlich nicht undemokratisch, oder?

SimpleHuman 
Beitragsersteller
 18.09.2024, 23:31
@Garnet72

Das stimmt schon, aber die frage ist, wie sehr die Betroffenen überhaupt selbst mit entschieden haben oder befragt wurden.

Ich kenne jetzt nicht so super viele Romani und Sintis, aber, lass es 10 sein und es ist auch schon mehr als zwei Jahrzehnte her, als ich Kontakt zu ihnen hatte, aber es gab keinen einzigen, der sich diskriminiert gefühlt hat wenn er Zigeuner genannt wurde.

Sie haben dabei gelächelt und sich gefreut

SimpleHuman 
Beitragsersteller
 18.09.2024, 23:34
@Garnet72

Wenn jetzt mehrheitlich alle Sintis und Romani beschlossen haben, dass es Diskriminierung ist, ok, keine Widerrede, aber doch nicht stellvertretend von Menschen, die es garnicht betrifft.

und das absurde daran ist, dass Menschen die es garnicht betrifft, einen darauf hinweisem, dass es diskriminierung ist

Garnet72  18.09.2024, 23:38
@SimpleHuman

Da kann ich jetzt leider keine persönlichen Erfahrungen beisteuern, sondern lediglich z.B. auf TV-Diskussionen oder Zeitungsartikel verweisen, in denen Sinti und Roma-Vertreter sich entsprechend geäußert haben.

Ich persönlich wäre mit der Bezeichnung Zigeuner daher zurückhaltend, da ich ungerne jemanden verletzen möchte, würde aber jemandem, der den Begriff, evtl. etwas unbedarft benutzt, niemals sofort antiziganistische Ressentiments unterstellen.

SimpleHuman 
Beitragsersteller
 18.09.2024, 23:42
@Garnet72

Das finde ich auch ok und generell sogar gut. Es lässt sich ja nicht abstreiten, dass es ein Zeichen von Respekt ist. Was ich nicht verstehe ist der Hate, der einem entgegengebracht wird, von Menschen die es garnicht betrifft, die eventuell nichteinmal persönliche Erfahrungen mit Menschen gemacht haben, die es betrifft, aber gleich richtig mit dem Finger auf einen Zeigen und verurteilen, statt zu hinterfragen

Garnet72  18.09.2024, 23:49
@SimpleHuman

Hm, das ist dann möglicherweise Ausdruck einer besonderen "Wokeness" bzw. eines "Gutmenschentums" (hust), mit dem man sich und der Umwelt beweisen kann, dass man die politische Korrektheit beherrscht: indem man die politisch Unkorrekten abstraft, profiliert man sich gleichzeitig, sozusagen Streicheleinheiten fürs eigene Ego 😉.

Garnet72  18.09.2024, 23:54
@SimpleHuman

😁, na ja, ursprünglich hatte woke tatsächlich eine positive Bedeutung, z.B. im Kontext des Kampfes gegen Rassismus, ist mittlerweile aber eher zum rechten Kampfbegriff mutiert, daher auch die Anführungszeichen.

SimpleHuman 
Beitragsersteller
 19.09.2024, 00:03
@Garnet72

Verstehe. Naja, dann ist es ja ähnlich. Ursprünglich war Zgeuner auch nur eine Bezeichnung für Menschen die nicht sesshaft waren. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis "Woke" auch eine Diskrminierung darstellt. Dann gewöhne ich mir dieses Wort garnicht erst an

Garnet72  19.09.2024, 00:07
@SimpleHuman

Ist vermutlich auch besser so, nachher endet man noch wie Elon Musk, der beispielsweise bei seinen Kritikern sofort eine Woke-Mind-Virus Infektion wittert 🤣, dir noch eine erholsame Nacht 🙋‍♀️.

Sie nennen sich beispielsweise selbst Chipsy, was eigentlich ein Schimpfwort ist. Da mache ich mir keine Gedanken, ob ich die Bezeichnung Roma oder Sinti nehmen dürfte.

Oder Farbige, die sich selbst als Nig*er titulieren.

Die Probleme damit haben eigentlich die Gutmenschen, die mit der Ethnie absolut nichts zu tun haben, und die mit ihrer Kritik sich von anderen abheben wollen


SimpleHuman 
Beitragsersteller
 14.09.2024, 19:24

Z.b. "Gypsy King" Tyson Fury trägt diesen "Titel" gerne

Naja, genauso wenig wie man verhindern kann, dass Leute diese Begriffe diskriminierend verwenden, kann man verhindern, dass angehörige der Gruppen diese Begriffe verwenden. Das ändert aber nichts daran, dass diese Begriffe falsch sind.

Würde man tiefer graben, weshalb diese Begriffe innerhalb der Gruppe verwendet werden, bin ich mir sicher dass man spannende Ergebnisse gewinnen würde. Ich denke für einige ist es die typische Dynamik von "wenn ich mich drüber lustig mache, können es schon andere nicht mehr tun", kennt man ja auch alltäglich, ich wette jeder kennt jemanden, der so drauf ist. Für andere mag es eine Art "drüber stehen" sein und entsprechend für Kraft und Stolz stehen.

Nur weil es einige Leute gibt, die das so handhaben, finde ich sollten wir jedoch nicht aus den Augen verlieren, worum es eigentlich geht. Es sind Begriffe, die Menschengruppen aufgezwungen wurden und häufig negativ konnotiert sind und es tut niemandem weh, sich Mühe zu geben, solche Wörter aus dem Sprachgebrauch zu verbannen.

Liebe Garnet,

"eindeutige" Antwort: nein bzw. ja (Du hast zu viele Fragen auf einmal gestellt).

Wenn ein Zig. sich selbst so bezeichnet und darauf sogar noch stolz ist - warum sollte man ihn vergrämen?

Er wird uns höchstens auslachen und auf unsere sonstigen Irritationen mit dem absurd-unnötigen "gendern" hinweisen o. dgl.

Ich bin oftmals in Ungarn zu Gast und höre in Lokalen/Restaurants sehr gerne Zig.-Musik. Wird ja zum Teil groß plakativ beworben. Welchen Touristen würde Roma- oder Sinti-Musik dazu bewegen, dorthin zu kommen? Selbst das bekannte Zig.-Schnitzel wurde noch nicht umbenannt (das ist übrigens ein Naturschnitzel, über und über mit Knoblauch bestrichen samt Speck-"Hahnenkamm" - und kein Letscho-Schnitzel, wie so manche glauben).

Andere Anekdote, neulich in Wien: Ein Schw.-Pigmentierter (oder wie das heutzutage auch offiziell heißen mag) sagte zu mir: "Ich bin halt ein N-g*r, was ist schon dabei?"

LG

WraithGhost

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

Garnet72  17.09.2024, 17:08

Hallo WraithGhost,

vielen Dank für deine Antwort auf "meinen" Diskussionsbeitrag: meinen in Anführungszeichen, da ich den Beitrag zwar aus Interesse repostet habe, für seine Formulierung jedoch nicht verantwortlich bin 😉.

Wenn ein Zig. sich selbst so bezeichnet und darauf sogar noch stolz ist - warum sollte man ihn vergrämen?

Wenn man im persönlichen Austausch erfährt, dass der Betreffende die Bezeichnung Zigeuner vorzieht, weil er damit gewisse kulturelle Traditionen verbindet, die er wertschätzt oder weil er sich den negativ konnotierten Begriff "wieder angeeignet" und positiv umgedeutet hat, Stichwort: reappropriation, dann wäre es in der Tat eher übergriffig, ihm nahelegen zu wollen, zur Selbstbezeichnung doch bitteschön auf einen "politisch korrekten" Begriff wie Sinti und Roma auszuweichen.

Soweit mir bekannt, ziehen die meisten Angehörigen dieser Volksgruppen jedoch die Begriffe Sinti und Roma vor, bei denen es sich übrigens nicht, wie häufig angenommen bzw unterstellt, um „politisch korrekte“ Wortschöpfungen bürgerrechtsbewegter "Gutmenschen" handelt, sondern um (Selbst-) bezeichnungen, die in Quellen bereits seit dem 18. Jahrhundert auftauchten.

Wie du sicherlich weißt, ist hingegen die Bezeichnung „Zigeuner“ (angeblich irrigerweise abgeleitet von "Ziehgauner") - zumindest in Deutschland - untrennbar mit rassistischen Zuschreibungen verbunden, die sich, über Jahrhunderte reproduziert, zu einem "Feindbild" verdichtet haben, das leider - zum Teil auch heute noch - tief im kollektiven Bewusstsein verwurzelt ist, Stichwort: Antiziganismus.

Den traurigen "Höhepunkt" der langen Geschichte von Diskriminierung und Verfolgung bildete bekanntlich der Völkermord an den europäischen Roma während der NS-Zeit, Stichwort: Porajmos.

Vor diesem Hintergrund fände ich es respektlos, den negativ konnotierten Begriff Zigeuner als "Fremdbezeichnung" weiterhin unreflektiert zu benutzen, zumal, da die Angehörigen dieser Volksgruppen, vor einem persönlichen Austausch, zunächst nicht wissen können, ob damit antiziganistische Ressentiments verbunden sind.

Ähnlich verhält es sich mit People of Colour: wenn sich beispielsweise einige Schwarze das mittlerweile mehrheitlich als diskriminierend empfundene N-Wort wieder angeeignet und positiv umgedeutet haben bzw. es offensiv zur Selbstbezeichnung nutzen, um Rassisten die Macht zu nehmen, den Begriff als beleidigende Fremdbezeichnung zu verwenden, dann respektiere ich das selbstverständlich; mehr noch, ich "feiere" (und teile!) die souveräne Einstellung: "wer mich beleidigen darf, bestimme ich".

Allerdings finde ich dennoch nicht, dass es mir als Vertreterin der weißen Mehrheitsgesellschaft zusteht, jemanden ungebeten mit dem N-Wort zu titulieren, da ich um dessen negative Konnotation weiß und mir daran gelegen ist, meinem Gegenüber respekt- und rücksichtsvoll auf Augenhöhe zu begegnen: ich denke, diesbezüglich stimmen wir sicherlich überein.

War jedenfalls nett, dir mal wieder über den Weg zu schreiben, liebe Grüße nach Wien 🙋‍♀️.

Garnet72  17.09.2024, 17:32
@Garnet72

Ups, da hat sich bei People of Color tatsächlich ein "u" eingeschlichen, das da nicht hingehört 🫣...

WraithGhost  17.09.2024, 18:00
@Garnet72

Hallo Garnet,

zunächst sorry für meine Unaufmerksamkeit. Habe erst jetzt bemerkt, dass der ursprüngliche Beitrag von SimpleHuman stammt und nicht von Dir.

Ich stimme mit Deiner ausführlichen Replik zu 99% überein.

Das fehlende % begründet sich darin, dass ich an Franz Fuchs denken muss. Ja - der Briefbomber. Der hat vor ca. 30 Jahren in Oberwart (Bgld.) 4 Zigeuner mittels einer Bombe in die Luft gesprengt. Also Antiziganismus 40 Jahre nach der NS-Zeit.

In Ungarn ist es noch schlimmer: In der Beliebheitsskala stehen selbst Ratten vor den "cigány".

Garnet72  17.09.2024, 18:10
@WraithGhost

Ja, dass antiziganistische Ressentiments bis hin zu gewaltsamen Übergriffen in Europa auch nach dem Porajmos noch Thema sind, wie in meinem Kommentar in einem Nebensatz erwähnt, ist leider eine traurige Tatsache.

Freut mich, dass wir doch eine so große Übereinstimmung haben...