Werden in Genesis 1 & 2 zwei unterschiedliche Schöpfungsgeschichten erzählt?

8 Antworten

Nein. Es handelt sich um dieselbe Schöpfungsgeschichte.

Im Kapitel 1 findest Du den chronologischen Ablauf. Im Kapitel 2 wird dieselbe Geschichte aufgegriffen. Diesmal nicht chronologisch, sondern mit dem Ziel, den Sündenfall zu erklären.

Traditionell wird die Paradiesgeschichte als ,,eigentliche" Schöpfungsgeschichte behandelt, weil sie halt besser mit den spätzeitlichen Mythen, an welchen sich die mittelalterliche Exegese orientierte, in Einklang zu bringen war. Diese lehren einhellig die Erschaffung des Menschen durch menschengleiche Götter aus nichttierischen Substanzen, wahlweise Erde, Blut oder sogar Holz. In diesem Fall einigte man sich auf Ersteres, weil es am ehesten zur fraglichen Textpassage (Gen. 2.7) passt. Außerdem glaubte man in der Paradiesgeschichte viele ausschmückende Details zu finden, welche im kryptisch und unpersönlich anmutenden Sechstagewerk scheinbar fehlen: Ausgangsmaterial (Erde (und Rippen)) für die Schöpfung von Mensch und Tier, Namen (Adam und Eva), eine eindeutige Rangordnung für die Geschlechter und nicht zuletzt mehr ,,Action" (Bösewicht, Verführung, Sünde, Strafe, Vertreibung). Noch heute ist es deshalb ,,anerkannte" theologische Lehrmeinung, das Sechstagewerk sei lediglich eine grobe Übersicht über das Schöpfungsgeschehen, während die Paradiesgeschichte die Details beleuchtet.

Tatsächlich ist das Sechstagewerk jedoch integraler und unmittelbarer Bestandteil des biblischen Handlungsfadens, ja der Unterbau der gesamten Bibel. Es schildert die Entstehung und Entwicklung der ganzen Welt und der Biosphäre, deshalb auch die generische und kollektive Sprache. In Gen. 1.31 endet die sechste Schöpfungsperiode damit, dass sich die Menschheit über die Erde ausgebreitet und sie sich dienstbar gemacht hat. Die siebte Schöpfungsperiode bricht an (Gen. 1.31) und es folgt eine Ausleitung (Gen. 2.1-3), bis das Gen. 2.4 den Bericht endgültig beendet. In deinem Text wird Gen. 2.4 fälschlicherweise als Überschrift der Paradiesgeschichte zugerechnet. Tatsächlich handelt es aber um ein sogenanntes Kolophon, um den einer heutigen Überschrift entsprechenden, zusammenfassenden Schlusssatz eines vorangegangenen Textes. Dieser bringt das beschriebene Geschehen nochmalf prägnant auf den Punkt. Oft spiegelt er auch den ersten Satz des betreffenden Textes (in diesem Fall Gen. 1.1) und umrahmt ihn zusammen mit diesem. Jedenfalls wird alles, was bis hier passiert, ab Gen. 2.5 und im weiteren Verlauf als gegeben vorausgesetzt.

Die Paradiesgeschichte hat mit Schöpfung gar nichts zu tun, sondern knüpft genau dort an, wo das Sechstagewerk endet. Ab Gen. 2.5 befinden wir uns im Frühstadium der siebten Schöpfungsperiode. Es wird herangezoomt auf ein genau beschriebenes Gebiet im jungsteinzeitlichen Südmesopotamien (siehe Edenbeschreibung). Hier treten zwei Individuen aus der prähistorischen Menschheit heraus in den historischen Vordergund. Den Unterschied zwischen dem männlichen Einzelmenschen namens Adam und der Gesamtmenschheit kann man gar nicht hoch genug hängen. Grob zusammengefasst geht es in der Paradiesgeschichte um die Neuerungen in der menschlichen Lebens- und Wirtschaftsweise, die die sogenannte neolithische Revolution mit sich brachte: Landwirtschaft, Sesshaftigkeit, Patriarchat, Verdopplung der Geburtenrate zur Bewältigung der Feldarbeit usw.. Besonders der ,,Strafenkatalog" für Adam und Eva ist höchst aufschlussreich.

Buchtipps: ,,Die Bibel bestätigt das Weltbild der Naturwissenschaft" von Karel Claeys

,,Auch Adam hatte eine Mutter" von Paul Hengge

,,Die Entstehung der Genesis" von Percy Wiseman

Woher ich das weiß:Recherche

In der alttestamentlichen Exegese gibt es hier unterschiedliche Auffassungen.

Zum einen gibt es die Position, dass es zwei unterschiedliche Schöpfungsberichte gibt: Der erste wird dann als der (jüngere, 6.Jhd. v. Chr.) priesterschriftliche Schöpfungsbericht bezeichnet (Gen 1,1-2,4a); der zweite als der (ältere, 10. Jhd. v. Chr.) jahwistische Schöpfungsbericht (Gen 2,4b-2,24).

Grundlage für diese Auffassung ist die Urkundenhypothese, welche bis etwa 1970 Konsens in der alttestamentlichen Exegese war: Der Pentateuch setzt sich aus vier Quellenschriften aus unterschiedlichen Zeiten zusammen: Jahwist, Elohist, Deuteronomium, Priesterschrift (JEDP).

Es gibt aber andererseits auch (konservativere) Theologen, welche die Urkundenhypothese grundsätzlich ablehnen und daher auch nicht von zwei Schöpfungsberichten sprechen.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung
Bin ich da richtig

Ja. Es sind zwei verschiedene Erzählungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind.


onion191 
Beitragsersteller
 21.04.2020, 12:55

Ok super, vielen Dank!

Es gibt zwei Schöpfungsberichte, die verschiedene Blickwinkel auf das Geschehen werfen und einander ergänzen. Auf keinen Fall handelt es sich aber um verschiedene Schöpfungsberichte, die sich widersprechen. Wie beide zueinander passen, wird beispielsweise hier recht gut erklärt: https://www.bibelkommentare.de/index.php?page=qa&answer_id=615

Sehr empfehlenswert und interessant zur Frage ist auch folgender Artikel: http://www.wort-und-wissen.de/disk/d91/1/d91-1.pdf


Aischylos  28.05.2020, 15:42

Nein.

chrisbyrd  28.05.2020, 16:43
@Aischylos

Nein = Es gibt keine zwei verschiedenen Schöpfungsgeschichten, sondern nur zwei Schöpfungsberichte, die verschiedene Blickwinkel auf das eine Schöpfungsgeschehen werfen.

Stimmt!