Warum ist die Mitte der Tapferkeit nicht für jeden Menschen gleich sondern individuell bestimmt?

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Aristoteles versteht ethische Tugend/Charaktertugend/Vortrefflichkeit des Charakters/sittliche Tüchtigkeit/sittliche Werthaftigkeit als (richtige) Mitte (griechisch: μεσότης [mesotes]), die zwischen einem Zuviel (ὑπεϱβολή [hyperbole]; Übertreibung/Übermaß) und einem Zuwenig (έλλειψις [elleipsis]; Zurückbleiben/Mangel/Unzulänglichkeit) liegt.

Die Mitte in der Ethik bei Aristoteles ist eine innere Haltung/Einstellung (ἕξις [hexis]; lateinisch: habitus; denkbar ist, sie als eine Verhaltensdisposition zu bezeichnen). Sie findet und wählt bei den Leidenschaften und Handlungen das Mittlere. Die Mitte bzw. das Mittlere ist nicht einfach Mittelmäßigkeit, sondern es geht um das für jemand in einer Lage Angemessene. Was dies ist, kann durch Vernunft/richtige Überlegung ermittelt werden.

Das Mittlere bei der ethische Tugend/Charaktertugend/Vortrefflichkeit des Charakters/sittliche Tüchtigkeit/sittliche Werthaftigkeit ist eine richtige Mitte in Bezug auf die Person selbst (Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 5). Insofern ist die richtige Mitte nicht für jeden Menschen gleich, sondern individuell bestimmt.

Tapferkeit (griechisch: ἀνδρεία [andreia]) ist Mitte zwischen Tollkühnheit/maßloser Verwegenheit/sinnlosem Draufgängertum (griechisch: θρασύτης [thrasytes]) und Feigheit (griechisch: δειλία [deilia]). Menschen können sich von Angst/Schrecken übermäßig bestimmen lassen oder durch zuviel Mut/Zuversicht tatsächlich bedrohliche Gefahren nicht angemessen beachten. Beides ist falsch und hat nachteilige Folgen.

Was in einer Lage die richtige Mitte ist, kann nur mit Bezug auf die betreffende Person bestimmt werden. Es ist individuell unterschiedlich, wie gefährlich etwas für eine Person ist. Personen haben unterschiedlich viel Kraft, Schnelligkeit und allgemein unterschiedliche Fähigkeiten, gelernte Kenntnisse, die sie in einer Lage anwenden können, und Übung mit etwas.

Beispielsweise ist ein starker Mann mit schnellen Reaktionen und Kampfsportübung eher in der Lage, gegen einen Angreifer im Nahkampf zu bestehen, als eine alte, kleine und schwache Frau, die keine Erfahrung mit Kampftechniken hat. Wer im Bergsteigen geübt und geschickt im Klettern ist, kann mehr an schwierigen Aktionen im Gebirge unternehmen als darin ungeschickte und ungeübte Menschen.