"Eine Tugend ist die richtige Mitte zwischen zwei Lastern" ~ Aristoteles - Wie ist dies zu deuten?
Das ist ein Zitat von Aristoteles. Er war ja ein Schüler Platons und der von Sokrates. Sokrates hat keine Antwort auf die Frage nach der Tugend.
Im Internet habe ich dieses Zitat gefunden. Allerdings verstehe ich es nicht ganz...
Sind zwei bestimmte Laster gemeint? Oder generell, dass man keinem Laster nachgibt und nicht in Versuchung kommt?
Kann mir das jemand deuten?
4 Antworten
hi, ich interpretier das so. Zu jedem Pol gibt es einen Gegenpol. Man sollte aber nicht im einen, noch im anderen Extrem leben, sondern einen Mittelweg finden. Sozusagen soll man nicht Schwarz-Weiß denken. Es gibt auch Grauzonen. LG Korinna
In den beiden letzten Sätzen kommt es zu einem Hineinrutschen in eine falsche Deutung. Aristoteles unterscheidet deutlich zwischen guten und schlechten inneren Einstellungen, zwischen einem richtigen Handeln und einem verfehlten. In der Farbmetapher ist Tugend als Weiß zu denken, die Laster/Schlechtigkeiten (die Extreme) beide als Schwarz. Grau wäre Mittelmäßigkeit. Vielleicht hat die Nichtberücksichtigung der Dimension des Wertes (des Besten und des Guten) dazu beigetragen, die Aussage nicht voll zu verstehen.
Im Internet wird „Eine Tugend ist die rechte Mitte zwischen zwei Lastern.“ als Aristoteles-Zitat angegeben und mit „Eine Tugend ist die richtige Mitte zwischen zwei Lastern.“ ist die Aussage sachlich zutreffend wiedergegeben.
Ob Aristoteles genau zitiert ist, erscheint mir zweifelhaft. Es fehlt ein Stellenbeleg.
Inhaltlich hat Aristoteles die genannte Auffassung vertreten.
Es sind dabei nicht zwei bestimmte Laster gemeint. Die Aussage ist allgemein auf Charaktertugenden/Vortrefflichkeiten des Charakters bezogen (nicht dagegen auf Verstandestugenden/Vortrefflichkeiten des Verstandes wie z. B. Klugheit und Weisheit, bei denen ein gesteigertes Ausmaß kein Zuviel sein kann, bei dem es sich um ein Laster/eine Schlechtigkeit handelt). Allerdings ist in der Aussage nicht enthalten, ein tugendhafter/vortrefflicher Mensch komme mit nichts in Berührung, von dem eine Versuchung ausgehen kann. Charaktertugend/Vortrefflichkeit des Charakters zeigt sich darin, sich nicht zu etwas Falschem verleiten/hinreißen zu lassen. Aristoteles versteht Charaktertugend/Vortrefflichkeit des Charakters als in der Mitte zwischen zwei Lastern/Schlechtigkeiten liegend, nämlich zwischen zwei einander entgegengesetzten Extremen, die beide das Richtige verfehlen. Seine Begriffsbestimmung macht darauf aufmerksam, daß Verfehlungen nach zwei Extremen hin geschehen können, einem Zuviel (Übermaß/Übertreibung) und einem Zuwenig (Zurückbleiben hinter dem Erforderlichen/Mangel).
Bei der Deutung ist es wichtig, das Vorhandensein von zwei Dimensionen berücksichtigen, eine Dimension des Seins/Wesens und eine Dimension des Wertes.
Bei der Charaktertugend der Tapferkeit besteht die Dimension des Seins/Wesens in dem Mut/der Zuversicht, die Dimension des Wertes in einer guten inneren Einstellung gegenüber dem, von dem Schrecken ausgehen kann. Tapferkeit ist in der Dimension des Seins/Wesens Mitte zwischen Tollkühnheit als Laster/Schlechtigkeit des Zuviel (Übermaß/Übertreibung) und Feigheit als Laster/Schlechtigkeit des Zuwenig (Zurückbleiben hinter dem Erforderlichen/Mangel). In der Dimension des Wertes ist dagegen Tapferkeit Äußerstes/Höchstmaß.
Heranzuziehen ist für die Deutung der Text von Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 5 – 9; 3, 9 – 15; 4, 1- 15; 5, 9.
Lehre von der Mitte (μεσότης [mesotes]):
Aristoteles versteht Charaktertugend/Vortrefflichkeit des Charakters allgemein und die einzelnen Tugenden/Vortrefflichkeiten des Charakters als (richtige) Mitte, die zwischen einem Zuviel (ὑπεϱβολή [hyperbole]; Übertreibung/Übermaß) und einem Zuwenig (έλλειψις [elleipsis]; Zurückbleiben/Mangel) liegt.
Die Tugenden/Vortrefflichkeiten des Charakters haben einen Bezug zu Affekten (Leidenschaften), die mit Lust und Schmerz verbunden sind (Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 2; 2, 4; 2, 5).
Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 6, 1106 b 36 – 1107 a 8:
„Die Tugend/Vortrefflichkeit (ἀετή [arete) ist also eine wählende/vorsätzliche Haltung/Einstellung (ἕξις [hexis]; lateinisch: habitus), die in der auf uns bezogenen Mitte liegt, die durch vernünftige Überlegung bestimmt ist, und zwar durch die, mittels derer der Kluge die Mitte bestimmen würde. Sie ist aber Mitte von zwei Schlechtigkeiten, einer des Übermaßes und einer des Mangels. Und ferner ist sie insofern Mitte, als die Schlechtigkeiten teils hinter dem, was in den Leidenschaften und Handlungen sein soll, zurückbleiben, teils darüber hinausschießen, die Tugend/Vortrefflichkeit aber das Mittlere sowohl findet als auch wählt. Daher ist die Tugend/Vortrefflichkeit nach ihrem Sein/ihrer Wesenheit/ihrer Substanz (οὐσία [ousia]) und ihrem Begriff, der angibt, was sie ist, Mitte, hinsichtlich des Besten und des Guten aber Äußerstes/Höchstes.“
Die Mitte (μεσότης) bei Aristoteles ist eine innere Haltung/Einstellung (denkbar ist, sie als eine Verhaltensdisposition zu bezeichnen), die auf ein richtiges Verhältnis zu Affekten (Leidenschaften) und auf das in einer Lage angemessene Verhalten ausgerichtet ist. Sie ist nicht mit Durchschnittlichkeit und Mittelmäßigkeit zu verwechseln, worauf volkstümliche Vorstellungen über einen goldenen Mittelweg (lateinisch: aurea mediocritas) leicht hinauslaufen.
Die Mitte bei Aristoteles ist auch nicht etwas, das für alle und immer stets quantitativ genau das Gleiche ist. Die gemeinte Mitte hat nicht einen mathematisch genau gleichen Abstand von Extremen. Sie kann je nach einer bestimmten Situation und der handelnden Person (z. B. sind Körperkraft und finanzielle Verhältnisse individuell unterschiedlich) unterschiedlich liegen und auch mal deutlich zu einer Seite hin.
Die Mitte der Sache hat den gleichen Abstand von den beiden Extremen und ist für alle Menschen ein und dasselbe (Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 5, 1106 a 29 - 31). Das Mittlere in Bezug auf die Menschen (auf uns) ist dagegen weder zuviel noch zuwenig, dies aber nicht für alle als ein und dasselbe (Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 5, 1106 a 31 - 32).
Sonderfall Gerechtigkeit: Bei der Gerechtigkeit gibt es eine gewisse Abweichung vom Schema. Wie Aristoteles selbst darlegt (Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 9, 1133 b – 1134 a), ist Gerechtigkeit eine Mitte der Sache, nicht eine Mitte „für uns“. Gerechtigkeit ist nicht etwas, das bei Steigerung falsch ist, sondern die von der Mitte der Sache abweichenden Extreme sind jeweils Ungerechtigkeit. Dies ist kein grundsätzliches die Richtigkeit der Lehre von der Mitte widerlegendes Argument, sondern eines gegen die starke Betonung der Mitte durch Aristoteles; Mitte zu sein, ist eine Erscheinungsform bei den Charaktertugenden, aber das entscheidende Wesensmerkmal ist das Angemessene und nach der praktischen Vernunft/Klugheit (φϱόνησις [phronesis]; sie verbindet ein Wissen über allgemeine Prinzipien mit umsichtiger und geschickter Anwendung im Einzelfall) Richtige.
Beispiele für eine bestimmte Charaktertugend/Vortrefflichkeit des Charakters:
Tapferkeit (ἀνδρεία [andreia]) ist Mitte zwischen Tollkühnheit (θρασύτης [thrasytes]) und Feigheit (δειλία [deilia]). Menschen können sich vom Schrecken übermäßig bestimmen lassen oder tatsächlich bedrohliche Gefahren nicht angemessen beachten. Beides ist falsch und hat nachteilige Folgen. Die Bedrohung fügt einen wirklichen Schaden zu oder Menschen lassen sich unnötig davon abhalten, ihre Lebensziele zu verwirklichen.
Wenn Menschen vor gar nichts Angst zu haben, steht dies zu kluger Überlegung in Gegensatz. Zwar ist bei der Tugend der Tapferkeit das Standhalten vor dem, das erschrecken kann, wichtig. Es kommt aber auf richtige Ziele und angemessene Beurteilung der Verhältnisse an. Ein Höchstmaß an Zuversicht in allen Fällen ist nicht gut, weil es auf eine dumme Selbstüberschätzung und eine Unterschätzung von Gefahren hinausläuft. Wenn tatsächliche Gefahren zu Unrecht geringschätzt und vernachlässigt werden, ist diese Tollkühnheit etwas, das Grund für ein Scheitern sein und unangenehme Folgen haben kann. Sie ist ein unvernünftiges Verhalten und ein Charakterfehler.
Freigiebigkeit (ἐλευθεριότης) ist Mitte zwischen Verschwendungssucht (ἀσωτία) und Knauserei/Geiz (ἀνελευθερία). Bei Verschwendung wird nicht ausreichend darauf geachtet, woher gegeben wird und was das ist, wofür ausgegeben wird. Es mangelt an kluger Auswahl: Das Nützliche und Angenehme ist im Verhältnis zum Aufwand gering. Beim Geiz ergibt sich kein schönes und gutes Leben. Auch der Nachteil im Bezug auf ein freundschaftliches Verhältnis zu anderen Menschen könnte angegeben werden.
Aristoteles stellte die ,,goldene Mitte´´ als Prinzip dar. So z.B. zwischen Tollkühnheit(Laster und Feigheit(Laster) liegt der Mut(Tugend),hat aber dabei nicht beachtet,auf welche Handlungen oder Verhaltensweisen sich diese 3 Dinge überhaupt beziehen.Das kann positiv,aber auch negativ ausfallen,ist daher auch Auslegungssache.Taugt daher nicht als Prinzip und ist schon vor langer Zeit widerlegt worden.Tollkühnheit kann mitunter dazu beitragen Menschenleben zu retten.Wäre in diesem Fall also kein Laster. Gruß
So ähnlich sagen es auch die Antroposophen: Das Gute ist nicht das Gegenteil des Bösen, sondern liegt immer zwischen zwei Bösen.
Beispiele:
- Guter Umgang mit Geld liegt zwischen Geiz und Verschwendung.
- Guter Umgang mit Menschen liegt zwischen Vertrauensseligkeit und notorischem Misstrauen.
- Gutes Autofahren liegt zwischen Schleichen und Rasen.
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