Kann ein materieller Verlust einen Menschen so fertig machen wie der Tod eines geliebten Menschen?
Hallo!
Einem guten Bekannten von mir geht es seit rund einem Jahr ziemlich schlecht, er baut immer weiter ab. Selbst bei seiner Arbeit - er arbeitet bei meinem Arbeitgeber in einer anderen Abteilung - ist er nur noch "halb" dabei, hat dort ständig Stress und bringt Dinge durcheinander, er ist kaum bei der Sache, träumt rum und trinkt Tee, wirkt völlig apathisch.
Das alles ist erst so, seit er seinen Ende der 80er neu gekauften Opel Ascona auf Druck seiner Familie und durch einige teure Reparaturen in die Entsorgung gab und einen neueren Opel kaufte.
Er igelt sich seitdem ein und verbringt sogar die Freizeit komplett zuhause. Er hat kaum noch Kontakte, ist ein total stiller Mann geworden, obwohl er immer so lebensfroh war - nach dem Motto "sein Ascona und er gegen den Rest der Welt, man schafft es schon irgendwie". Der Ascona war sein Markenzeichen, er hat ihn wirklich geliebt - man sah im Stadtteil den weißen Ascona und wusste, aha, der ist das und das ist der, der seinen Ascona so gerne hat.
Ich sehe ihn nur lachen, wenn er von seinem Ascona spricht, ansonsten ist er ernst und traurig. Seine Familie lacht ihn nur aus, er soll sich nicht so haben und hätte den schönen neuen Astra mit Klimaanlage.
Was mir Sorgen macht: Er redet seit dem Auto-Wechsel ganz offen vom Tod und von der Sinnlosigkeit zu leben, wenn man sowieso sterben müsste, macht sich nach eigener Aussage Sorgen wegen Krankheiten, denkt an seinen eigenen Tod, hat eine vorher nie dagewesene Furcht/Angst vor anderen Menschen, die ihm etwas antun könnten (ohne dass er Konkretes nennt) und davor, dass er irgendwann auch gehen muss - er hätte mit dem Ascona einen "Freund" sterben lassen und ans Messer geliefert, der ihm immer treu zur Seite stand. Er spricht kaum noch, ist in allem sehr "langsam" geworden. Er war so lebensfroh und herzlich, jetzt ist er ein gebrochener Mann - kein Vergleich mehr zu dem kräftigen, starken Mann, der unser Entertainer des ganzen Betriebs war wie vor 1-2 Jahren noch, als er den Ascona noch fuhr.
Er wollte sich, damit es ihm besser geht, einen anderen Ascona kaufen und hat mehrere besichtigt, aber es war wohl so, dass er alle ablehnte mit dem Argument, dass das irgendein anderer Ascona ist und nicht seiner, mit dem er 30 Jahre lang unterwegs war. Er scheint dieses Auto sehr zu vermissen, ist oft auffällig in sich gekehrt und trauert als wäre ein Freund oder ein Familienmitglied gegangen.
Ist es möglich, dass ein letztlich materieller Verlust wie der eines Autos, das man 30 Jahre lang fuhr, einen Menschen so fertig macht? Irgendwie kann ich das verstehen, aber manchmal bin ich auch fassungslos. Mein Bekannter tut mir einfach nur extrem leid, weil ich sehe, wie schlecht es ihm geht. Und wie kann einem dann geholfen werden oder ... geht das überhaupt?
Wäre euch dankbar, aber gefühllose, ironische Kommentare könnt ihr euch bitte sparen.
9 Antworten
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Hallo rotesand,
ich fürchte, Dein Bekannter ist durch den Verlust seines Asconas so sehr getroffen worden, daß ihm am Ende nur ein Psychologe/Psychotherapeut helfen kann. Er läßt sich total hängen, weil die Familie immensen Druck ausgeübt hat - vermutlich ohne zu wissen, welche Folgen es für Deinen Bekannten nach sich zieht. Das Auto abzugeben war eben keine freiwillige und selbstverantwortliche Aktion. Und daß sich die Familie nun über ihn lustig macht "Er solle sich nicht so haben..." ist in dieser akuten psychischen Notlage sicher nicht hilfreich - das Gegenteil ist der Fall: Er fühlt sich zurecht nicht ernstgenommen und verzweifelt daran. Letztlich ist es das unglückliche Verhältnis zur Familie, das Schmerzen ausgelöst hat und immer noch auslöst. Daß er sich über den Ascona definiert hat, war seine Reaktion auf die Ansagen der Familie. Und nun ist dieser Halt leider Vergangenheit. Einen geeigneten Psychologen zu finden ist nicht gerade einfach - ich wurde wegen Schlafstörungen behandelt und mußte satte drei Monate auf einen ersten Termin warten, im letzten Herbst habe ich die "Behandlung" beendet, auch weil sich Hausärztin und Neurologe/Psychologe nicht gut ergänzt haben. Vielleicht kannst Du auf Deinen Bekannten dahingehend einwirken, daß er sich helfen lässt.
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So in etwa habe ich das auch vermutet bzw. so wirkt das Ganze auf mich - der Ascona war eben immer für ihn da, und diesen "Halt" hat er in der Familie, so wie er sich mal äußerte, nie gehabt.
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Vielen lieben Dank für den Stern :-). Ich schätze - mir würde es auch sehr schlecht gehen, sollte ich mich irgendwann aus irgendwelchen Gründen von meinem BMW trennen müssen.
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Ich würde "küchenpsychologisch" vermuten, dass es nicht der Verlust dieses Autos war, sondern das, was er damit verbindet. Was das genau ist kann man natürlich schwer sagen. Vielleicht war das Auto sein Verbindungsstück zu einer vergangenen "besseren" Zeit.
Du sagtest, dass er das Auto auf Druck seiner Familie verkauft hat. Ist der jemand, der sich generell sagen lässt, was er zu tun hat? Hast du das Gefühl dass er eine autonome Person ist? Weil es ist doch etwas komisch, dass ich ein erwachsener Mann sagen lässt, dass er sein Auto zu verkaufen hat.
Seine ständige Angst vor Krankheiten hören sich für mich nach einer Angstneurose an. Die sind gar nicht mal so selten. Deuten aber m.M. nach auf ein tieferes Problem als ein verkauftes Erinnerubgsstück hin.
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Von dem, was du erzählst, ergibt das schon Sinn. Er ist ja ständig in seiner Autonomie eingeschränkt. Ich befürchte nur, dass du von außen da nicht so viele Möglichkeiten hast. Vielleicht kann man ihn ganz vorsichtig darauf hinweisen, dass er sich auch professionelle Hilfe suchen kann (Angstneurose/Depressionen sind ja keineswegs selten).
Aber wenn er selbst den Schritt nicht geht, kannst du ihm m.M. nach nicht so viel helfen. Gegen festgefahrene Familienstrukturen, vielleicht sogar große Machtgefälle und "strukturelle Gewalt" kommt man von außen schwer an. Du kannst ihm nur eine Freundin sein. Na ja, das ist aber auch schon einiges :). Und an deiner Frage merkt man ja, dass er dir wirklich am Herzen liegt
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Er hat mich neulich mal gefragt, ob es Sinn macht, sich in Hilfe zu begeben, aber andererseits zögert er wohl trotzdem - er hat Angst, dass ihn jemand als geisteskrank einstuft, weil er um sein Auto trauert und möchte auch nicht mit Pillen vollgestopft werden.
Wir haben schon öfters drüber geredet, vor einigen Tagen sagte er mir erstmals, dass er an professionelle Hilfe denkt, aber nicht als geisteskrank eingestuft werden will. Er hat mich auch gefragt, ob ich einen Therapeuthen kenne, der ihn ernst nehmen würde und nicht lacht oder ihn insgeheim belächelt/abtut.
Ja, gerade in den letzten Jahren hatten wir viel Zeit zusammen verbracht. Wenn er am Ascona schraubte, habe ich das zwei Meter nebendran an meinem alten Benz gemacht, wir haben immer Spaß gehabt und er war immer fröhlich und heiter.
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Also ich war selbst mal in therapeutischer Gruppentherapie und da wäre dies sicherlich nicht die "komischste" Geschichte :). Es geht in der Psychotherapie ja nicht um die Bewertung der einzelnen Symptome, sondern um einen weg da raus.
Du sagst, er hätte Angst vor Tabletten. Ich kann dazu natürlich nur meine persönliche Meinung äußern. Die lautet, dass erstens handelüblige Psychopharmaka die Persönlichkeit nicht verändern. Sie machen dich halt etwas ruhiger bzw können dich stimulieren . Zweitens darf ein Psychotherapeut die nicht verschreiben. Das darf nur der Arzt. Die meisten Psychotherapeuten versuchen es aber doch eher erstmal mit Gesprächen und Verhaltenstherapie.
Um es kurz zu machen, ich denke es gibt da nichts wovor dein Freund Angst haben müsste. Die Psychotherapeuten sind mit Problemen, die nach außen vielleicht schräg wirken bestens vertraut. Und Tabletten sind in der Psychotherapie die ultima ratio. Zum einen sind sie nicht so schlimm wie oft dargestellt, zum anderen ist der Patient ja autonom. Wenn er sie nicht nehmen möchte, dann kann ihn absolut niemand zwingen.
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Wenn der Mensch das verliert, woran sein Herz hängt, kann natürlich auch depressiv werden. Wir können nichts festhalten. Versuchen wir es trotzdem, leben wir nicht auf dem Boden der Realität. Leben wir nicht in der Realität, werden wir krank.
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Ich denke schon das das Auto ein Riesenverlust ist. Er wird dort viele Erinnerungen und Erlebnisse gehabt haben. Und wenn die Familie ihm Druck gemacht hat, ist natürlich menschlich total daneben. Er hätte mal seinen lieben Opel behalten sollen und seine Familie an die Luft. Dann wäre er der Alte. Da hing einfach zuviel dran.
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Ich kenne deinen Bekannten zwar nicht, aber es hat mich sehr gerührt und erfreut, dass er einen ähnlichen wiedergefunden hat und jetzt so glücklich damit ist!
Grüße
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Er trennte sich ja davon, weil die Familie mal ein neues Auto wollte - bis er depressiv wurde, sich sogar das Leben nehmen wollte, sich total veränderte, apathisch wurde und in Therapie ging, damit er die Trennung von seinem Ascona verarbeiten konnte.
Er hatte sich aber andererseits viel über seinen geliebten Opel definiert, betrachtete ihn als seinen besten Freund und alles in seinem Leben hatte direkt oder indirekt mit dem Ascona zu tun. Der kurz vor Ende des Studiums fabrikneu gekaufte Ascona hatte einen Namen, war immer präsent, half ihm durch eine schwere Krankheit, die gescheiterte erste Ehe, den Tod des jüngsten Kindes durch einen Unfall beim Schulausflug mit langer Gerichtsverhandlung wegen unterlassener Aufsicht durch den Lehrer und so weiter - der Mann klopfte auch Sprüche wie "mein Ascona und ich, wir schaffen das" oder "mein Ascona, der bringt mich überall hin, im dicksten Winter im tiefsten Schnee" und sprach ständig irgendwie von seinem Ascona oder davon, dass er mit seinem Ascona irgendwelche Freunde besucht hat, hier und dort war mit seinem Ascona, dass er gerade einen Urlaub plant, in der er natürlich mit dem Ascona fährt und so weiter - man kannte den weißen Opel Ascona C 1.6i "Touring" im ganzen Stadtteil und weit darüber hinaus und wusste, wer den fährt und wie sehr er an ihm hing. Ich glaube, dem fehlte wirklich alles, als der Ascona nicht mehr da war.
Der arme Mann wurde erst dann wieder glücklich, nachdem er durch halb Deutschland gefahren und sich exakt den selben weißen Opel Ascona, wie er ihn hatte, in neuwagenähnlichem Zustand von einem Rentner irgendwo im Ruhrgebiet gekauft und das Ding komplett konserviert hatte, damit er nicht mehr rostet. Jetzt fährt er damit rum, als wäre nie was gewesen, hat sogar das gleiche Kennzeichen wieder. Ich sagte mal. Wenn ich es nicht wüsste, würde ich denken, das wäre dein alter Ascona. Er hat nur genickt und gesagt, es ist der alte Ascona und es ist das alte Gefühl.
Auf einmal hat er dann auch wieder Tennis gespielt, Musik gemacht und ging wieder zur Bandprobe, es war wirklich schön das anzusehen.
Ich kenne ihn schon lang und würde sagen, er hat einen eigenen Willen, aber eine dominante Familie, die ihn schon immer klein gehalten hat - nicht selten auch eingeschüchtert, er hat auch mal vor Jahren von körperlicher Gewalt geredet, die er früher erlitten hat.Mehr weiß ich aber nicht.