Haben Autisten mangelnde Empathie?
6 Antworten
Nein, nicht grundsätzlich. Das ist ein gefährliches Halbwissen, welches leider von vielen verbreitet wird. Sowohl hier, als auch z.B. von anderen Seiten im Internet.
Zuerst einmal hier etwas Interessantes bezüglich der Theory of Mind:
Viele wissen auch nicht, dass Alexithymie regelmäßig zusammen mit Autismus auftritt und dass die fehlende Empathie mancher Autisten, viel eher mit Alexithymie, als mit Autismus an sich, erklärt werden kann: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2859151/
Ebenfalls wissen viele nicht (oder sie vergessen es absichtlich ganz gerne, um ihr Narrativ über uns Autisten aufrechtzuerhalten, keine Ahnung), dass viele von uns eine sehr enge Bindung zu Tieren und Objekten aufbauen können (object personification). Diese ist sogar oft noch stärker, als bei vielen neurotypischen Menschen. Ich denke, einige Autisten gehören zu den mitunter empathischsten Menschen, die man jemals kennenlernen wird. Es kann nur sehr gut möglich sein, dass wir diese Empathie anders zeigen und dass wir oft nicht wissen, wie wir reagieren sollen.
Denn nein, ich persönlich wüsste nicht, wie ich reagieren soll, wenn eine Freundin von mir nun bitterlich weinend bei mir ankäme. Soll ich sie umarmen? Möchte sie das überhaupt? Was soll ich ihr sagen? Soll ich überhaupt etwas sagen? Soll ich ihr Vorschläge geben, wie sie da wieder rauskommt?
Und ich denke, dass die Tatsache, dass ich mich das alles frage, zeigt, dass ich sehr wohl Mitgefühl habe und dass ich ein starkes Interesse daran habe, dass es meinen Freunden gut geht. Nicht jeder wird gerne umarmt, wenn er weint. Auch nicht jede neurotypische Person. Manchmal ist man damit okay, nächste Woche will man es gar nicht. Wenn ich z.B. einen Meltdown habe (passiert zum Glück relativ selten), würde ich es auch nicht wollen, wenn man mich anfässt. Wobei Meltdowns natürlich nochmal ne andere Stufe sind als "einfaches Weinen und simple Traurigkeit" ... but still.
Etwas anderes, was viel zu wenig thematisiert wird, ist Hyperempathie (Hyperempathy) im Zusammenhang mit Autismus. Viele Leute (auch hier) reden von reduzierter Empathiefähigkeit, selten sehe ich, dass die andere Seite genauso ins Licht gerückt wird. Deshalb hier mal kurz:
We must also look at the other side to this. Some autistic people experience empathy so intensely that it can be really overwhelming.
Imagine feeling the emotions of every single character on TV and everyone you speak to in your daily life with such intensity.
Imagine what a rollercoaster of emotions that would be for you every single day.
Imagine feeling grief, devastation and distress so intensely that it feels like you have lost someone yourself. It can be incredibly exhausting. Especially when it’s only a fictional character.
This is known as hyper-empathy. Even the thought of someone in pain or suffering can be overwhelmingly painful, emotionally and physically. It is very common for autistic people to have this hyper-empathy towards animals. This can cause meltdowns and be quite debilitating.
Even where an autistic person struggles with cognitive empathy (understanding another’s thought processes and emotions), this affective empathy (feeling what another feels) may not be lacking.
Dann gibt es da auch das Double-Empathy-Problem:
The theory posits that non-autistic people also struggle to empathize with autistic people, leading to a breakdown in communication and understanding from both sides. The basic idea of the double empathy problem is that when people with very different experiences of the world – like neurotypical and neurodivergent individuals – try to communicate and understand each other, they may both struggle.
In other words, just as a neurotypical person might find it hard to understand or predict the thoughts, feelings, and behaviors of a person with autism, the reverse is also true. A person with autism might find it equally hard to understand or predict the thoughts, feelings, and behaviors of a neurotypical person. This mutual misunderstanding is what's referred to as the "double empathy problem."
Ich denke, das Problem liegt auch darin, dass einige meinen, nur weil jemand Probleme damit hat, Empathie zu verspüren - und ja, manche Autisten können damit tatsächlich Probleme haben, aber die Sachlage ist eben viel komplexer - ist diese Person nicht interessiert an dem Wohlergehen von anderen. Das ist jedoch meistens nicht der Fall. Man kann Empathie verspüren, aber man kann sich dann auch entscheiden, das alles zu ignorieren und seinem Gegenüber trotzdem wehzutun.
Das Hindernis bei der kognitiven Empathie ist, dass sie viel mit Körpersprache, Mimik, Gestik, Tonfall etc. zu tun hat. Alles Dinge, womit viele von uns Autisten unsere Problemchen haben. Aber die Sache ist die: Wenn man uns erklärt, wie man sich fühlt, weshalb man sich wie fühlt, dann ... verstehen wir das meistens. Die meisten von uns können dann absolut mitfühlen. Somit denke ich, dass es nicht richtig ist, von einem flächendeckenden Empathiemangel zu sprechen, nur weil man nicht "in die Köpfe" der anderen schauen kann.
Man stelle es sich wie eine Behinderung vor. (Autismus kann man als viele kleinere Behinderungen beschreiben.) Genauso wie jemand, der blind ist, nicht sehen kann, können einige von uns Autisten Körpersprache usw. nicht lesen. Man könnte uns ins offene Messer laufen lassen und von uns erwarten, dass wir trotzdem sofort verstehen, was man von uns will und dann sauer auf uns sein, weil wir es nicht verstanden haben, aber das wäre genauso unmenschlich wie dem Blinden seinen Blindenstock wegzunehmen, alle Blindenschriften wegzumachen, das Klackern/Piepen der Ampeln ebenfalls uvm. und wir, als eine Gesellschaft, sind im Kern sehr darauf bedacht, human zu handeln und ... Oh ... Oh, wie war das? Die Gesellschaft verlangt seit Anbeginn der Zeit, dass wir Autisten ihre Emotionen problemlos lesen können, selbst wenn sie tausendmal breitgrinsend behaupten, sie wären voll glücklich und alles wäre in Ordnung und sie wären gar nicht enttäuscht oder ähnliches und wir bekommen dann oft den Anschiss, wenn wir es eben missverstehen, weil einige neurotypische Leute einen Kommunikationdefizit haben, und dadurch werden wir Autisten dann oft sozial ausgeschlossen und als die "Komischen" verschrien ...?
... Ahhh!
Ergibt Sinn. *hust*
Das erinnert mich gerade dabei, dass ich vor einigen Monaten mal aus Spaß so einen Mimikerkennungstest im Internet gemacht hatte und da war ich angeblich sogar im neurotypischen Bereich ... Die Sache ist jedoch die: Ich war mir bei fast keinem Bild sicher und hab minutenlang überlegt und herumgeraten - Etwas, was die allerwenigsten neurotypischen Personen tun müssen. Na ja, ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn.
(Lustigerweise habe ich vor einer Weile mal ein Video von einer autistischen YouTuberin gesehen, in dem sie meinte, wir Autisten könnten die individuellen Muster bei einzelnen Personen erkennen und somit besser deren Emotionen lesen, was für mich Sinn ergab. Viele von uns können gut mit Mustern und nicht jede Person zeigt ihre Emotionen auf die exakt gleiche Art und Weise wie die nächste Person. Jeder hat so seine kleinen Muster und die gilt es, zu entschlüsseln. ... Or, you know, Leute könnten auch einfach versuchen, so gut es ihnen möglich ist, direkt zu sagen, was Sache ist, aber das ist nur mein naives Wunschdenken.)
Nicht selten kann es auch nur so vorkommen, als würde jemand empathielos sein, obwohl es in Wahrheit genau anders herum ist. Viele Autisten, die Hyperempathie verspüren, sind konstant so sehr erschöpft davon, dass sie sich viel häufiger zurückziehen müssen und wir Autisten müssen uns sowieso schon viel häufiger in unsere ruhige Ecke, sozusagen, begeben, als die neurotypische Durchschnittsperson. Oder man stelle sich mal vor: Ein Autist, der super empathisch ist, aber für seine Art, wie er seine Empathie zeigte, immer ausgelacht, schikaniert, komisch beäugt wurde usw. Dann wird derjenige natürlich sehr unsicher, zieht sich zurück und dadurch kann auch das falsche Bild entstehen, besagter Autist hätte keine Empathie, kein Mitgefühl. Genauso wie oft behauptet wird, wir Autisten hätten generell kein Interesse daran, Freundschaften zu schließen, wenn die meisten von uns sogar sehr einsam sind und sich sehnlichst Freunde wünschen, wir jedoch nicht wissen, wie das funktioniert, wir oft ausgeschlossen und missverstanden (und weitaus Schlimmeres) werden, weil wir so anders sind.
Persönlich denke ich sogar, dass die Tatsache, dass einige neurotypische Leute vehement behaupten, wir hätten grundsätzlich einen Empathiedefizit und dass wir deshalb zum Beispiel schlechte Partner oder Eltern wären oder wir deshalb generell ein vermindertes Gefühlsleben hätten, ein perfektes Beispiel für das Double-Empathy-Problem ist. Ich frage mich dann immer, wie man so unempathisch sein kann, solch eine Falschinformation weiter zu verbreiten, obwohl man weiß, dass man damit ein Teil des Problems wird. Es ist ja nicht so, als müssten wir (Autisten) nicht unser Leben lang gegen dieses falsche Bild von uns ankämpfen ... Genauso fehlt die Empathie für uns, wenn wir wollen, dass mehr an uns gedacht wird und dass einzelne Bereiche im Alltag mehr autism-friendly gestaltet werden. Dann heißt es, die Gesellschaft könne sich doch nicht für irgendwelche Minderheiten verbiegen - was übrigens nie Thema war, witzig allerdings, dass ein Großteil von uns Autisten sich seit schon immer für die neurotypische Gesellschaft verbiegen muss (Stichwort: Masking), aber das ist dann anscheinend wieder nicht so wild (Weil Depressionen, Suizidgedanken und so vieles mehr auch nicht so wild ist, ne?) -, Autismus seie ja gar keine richtige Behinderung, oder es wäre nicht so wie bei einer gehörlosen Person beispielsweise und so weiter und sofort. Viele realisieren auch nicht, dass viele Veränderungen, die einigen von uns Autisten helfen können, auch vielen Nicht-Autisten helfen können. Dann wird aus einer Minderheit schnell mal viel mehr.
Was ich damit sagen will, ist, dass ich es lustig-frustrierend finde, dass uns Autisten ein Mangel an Empathie vorgeworfen wird, während die Empathie und das Verständnis für unsere Probleme in der allgemeinen Gesellschaft meistens irgendwo zwischen Erdkern und Mariannengraben pendelt.
Ich bin wirklich davon überzeugt, dass die Idee mit dem Double-Empathy-Problem wahr ist. Dass sie die Antwort ist. Sie ergibt einfach so viel Sinn. Ich kann kurz ein Beispiel geben, wie ich häufig meine Empathie/Sympathie/emotionale Anteilnahme zeige: Sagen wir mal, jemand erzählt mir etwas. irgendetwas Schlechtes. Und die Person ist traurig deshalb. Dann versuche ich, in meinem Gehirn, eine ähnliche Erinnerung zu finden, um das traurige Erlebnis von meinem Gegenüber sozusagen mit einem ähnlichen traurigen Erlebnis von mir zu verbinden. Wenn ich das irgendwie geschafft habe, dann rede ich davon, dass mir sowas Ähnliches auch mal passiert ist. Nun mag das für manche so vorkommen, als würde ich die Aufmerksamkeit von meinem Gegenüber wegnehmen wollen. Das ist jedoch nicht der Fall. Ich will meinem Gegenüber damit zeigen, dass ich prinzipiell weiß, was die Person durchmacht.
... Aber kann ich tatsächlich so fühlen wie die Person in diesem Moment?
Kann das irgendjemand, wirklich? Ohne, dass man es auf sich selbst bezieht? Ich kann mir das schlecht vorstellen. Dafür sind wir alle viel zu unterschiedlich. Ich bin nicht wortwörtlich in dem Körper, in dem Gehirn der anderen Person. Und ich denke, so geht es auch neurotypischen Menschen.
Das heißt nicht, dass ich, wenn ich keine ähnliche Erinnerung aus meinem Leben finde, nicht z.B. weiß, dass der Tod eines Familienmitgliedes, welches einem nahe stand, etwas sehr Schlimmes ist. Ich habe noch nie ein Familienmitglied verloren, mit dem ich dicke war, aber das ist eben einfach der logische Menschenverstand, der sich dann einschaltet. Genauso wie eine bestandene Führerscheinprüfung, als Beispiel, etwas Positives ist.
Auf der anderen Seite hatte ich gestern oder so einen Kommentar von einem Autisten gelesen, der meinte, wenn neurotypische Menschen davon reden, dass sie so viel Empathie haben, meinen sie damit meistens nur "Also wenn ich in deiner Situation wäre ..." Also es ist kein wirkliches "Ich bin in deinen Schuhen" ... Sorry, ich kann es gerade wirklich nicht gut erklären. Keine Ahnung, ob das stimmt. Ich bin ja nicht neurotypisch. Höchstwahrscheinlich gibt es da viele verschiedene Variationen. Fand ich nur ganz interessant. Food for thought, I suppose.
Womöglich bin ich kein gutes Beispiel dafür, da ich nicht denke, dass ich zu den Autisten gehöre, die Hyperempathie haben - außer für Tiere, insbesondere Vögel, und manchmal auch für Objekte, bei Letzterem allerdings nicht in einem Ausmaß, der meinen Alltag einschränkt -, doch es ist so oder so falsch, dieses Narrativ von uns "prinzipiell empathielosen Autisten" noch länger aufrechtzuerhalten. Es existierte lange genug. Es ist an der Zeit, es zehn Meter tief unter der Erde zu vergraben. Für immer.
Und ein weiteres Problem ist, dass viele Nicht-Autisten noch immer das Narrativ über uns Autisten dominieren.
Meine Güte, meine Finger fallen ab. Ich muss die mal eben suchen gehen ...
Nein. Nach aktuellem Stand der Forschung ist davon auszugehen, dass Menschen mit ASS eine andere Art von Empathie haben und z. B. empathischer mit Tieren und leblosen Objekten umgehen als neurotype Menschen (vgl. White & Remington. (2019). Object Personification in Autism: This Paper Will be Very Sad if You Don't Read it. Autism, 23 (4), S. 1042–1045.); es ist nicht davon auszugehen, dass ASS automatisch bedeutet, weniger Empathie zu empfinden (vgl. Fletcher-Watson & Bird. (2020). Autism and Empathy: What Are the Real Links? Autism, 24 (1), S. 3–6.).
LG
Nein. Wir kőnnen es äusserlich nur nicht gut zeigen. Gruss einer Aspergerin
naja ich bin autist und kann das manchmal bestätigen aber nicht immer es gibt situationen die mich überhaupt nicht berühren andererseits gibt es auch dinge die mich extrem berühren
Das gehört allgemein zum Autismus-Spektrum. Es fällt Autisten schwer, über ihre eigenen Gefühle zu sprechen und sich in die Gefühle Anderer hinein zu versetzen.
Es ist ein Unterschied, ob keine Empathie vorhanden ist oder nur schwer bis gar nicht über seine Gefühle gesprochen werden kann.