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Die folgende Passage ist - wie sonst üblich - im Präteritum erzählt (Vergegenwärtigung des Vergangenen durch "episches Präteritum"). Im letzten Satz wechselt der Erzähler aber wieder in die Gegenwart des Tagebuchschreibens und gebraucht für die von da aus vorzeitigen Ereignisse "vollendete Gegenwart" (Perfekt):

"Ich stand da, hart an der Friedhofsmauer, und die hohe Weide verbarg mich seinen Blicken. Frühmorgens war ich gekommen – der allererste. Im Häuschen des Totengräbers brannte sogar noch ein Licht. Bald nach mir aber erschienen andere, Frauen zumeist... Endlich er... Ruhig schritt er dem Platze zu, wo er gewöhnlich weilt... Immer dieselben großen, klagenden Augen... Und er kniete nieder... Ich schaute hin, scharf hin... Er kniete auf dem Grabe meiner Gattin... Ich aber stand da, atemlos, hatte meine Finger in den Weidenästen. Das dauerte minutenlang... Er kniete, er betete nicht... Er weinte auch nicht... Nun erhob er sich wieder... wandelte, wie er's gewöhnlich zu tun pflegt, die Wege kreuz und quer. Nach einiger Zeit kam er wieder in meine Nähe... Ich hatte mich dem Grabe meiner Gattin genähert und stand da, gestützt auf das Gitterwerk eines benachbarten Grabmals... Er schritt an mir vorüber, sah mich gelassen an... Ich wollte ihn anrufen, ich habe es nicht getan ..."

Das heißt: Der (fiktive) Tagebuchschreiber schildert seine Gegenwart im Präsens, die Vorvergangenheit dieser Zeit im Perfekt.


Fontanefan  25.07.2015, 12:17

In der folgenden Passage mischen sich die Zeiten sehr eindrucksvoll:

"Er hat sein Leid zu Ende gelitten... Er hat gefühlt, daß es immer linder wurde... er ist tagtäglich befreiter von hinnen gegangen. Und eines Morgens erwacht er und kann wieder lächeln... Wie hasse ich die Leute, die wieder lächeln können... Aber eines Morgens werde ich auch wieder lächeln!... Auch ich werde vergessen!... In mir taucht heute die Erinnerung an meine Jünglingszeit auf... wie ich an der Seite der Süßen, Liebsten durch den Wald schritt und so unendlich glücklich hätte sein können... Ich war es ja auch. Es gibt Augenblicke, die alles verschlingen, Vergangenheit, Zukunft, die eben die Ewigkeit selber sind... Aber ich habe nie zu jenen gehört, die geruhig ihres Weges zu seiten der Landstraße wandern, sich ab und zu tiefer in die Wiesen und Wälder verirren und sich ins Grüne legen können, selig den Morgen eintrinkend. Auf die Bäume bin ich gestiegen und habe ins Weite hinausgesehen, dorthin, wo die Landstraße im Grauen verschwindet und der Lenz zu sterben anfängt... Und hier... hier in diesem Zimmer, beim Fenster, war es ja, als mein Weib einmal zärtlich meine Wangen küßte und mich ein so eisiger Schauer durchlief... Die Minuten, Stunden, Tage, Jahre tollten davon, unsere Zeit war um... Alt, beide, das Ende, das Ende!... So habe ich meine Liebe entheiligt, weil ich dachte, daß sie verblassen mußte... Und nun entheilige ich meinen Schmerz, indem ich daran denke, daß ich wieder einmal lächeln werde!..."

Insofern ist die Haupterzählzeit des Textes Präsens; aber die anderen Zeiten, bis auf das Plusquamperfekt, kommen durchaus auch relativ häufig vor. 

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Davi19 
Beitragsersteller
 25.07.2015, 14:50
@Fontanefan

Herzlichen Dank für die ausführliche Erklärung!!! 

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Die Erzählzeit ist Indikativ Präsens (Gegenwart Wirklichkeitsform). Wenn sich der Autor auf vergangene Dinge bezieht, muss er dafür Perfekt (Vollendete Gegenwart) oder Präteritum (Vergangenheit) verwenden. Das erfordert die so genannte Zeitenfolge. Wenn für die Beschreibung vergangener Abläufe auch das Präsens verwendet werden würde, wäre es für den Leser nahezu unverständlich.

Wäre die Erzählzeit das Präteritum, müssten alle vorzeitigen Abläufe im Plusquamperfekt (Vollendete Vergangenheit) stehen.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Unterricht - ohne Schulbetrieb

Davi19 
Beitragsersteller
 25.07.2015, 09:57

Vielen Dank für die äußerst hilfreiche Antwort! Ich dachte, die Verwendung der Vergangenheitsformen sei ein Ausschlusskriterium für den Indikativ Präsens. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist das aber nicht so? LG

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Volens  25.07.2015, 13:23
@Davi19

Es kommt auf den Hauptstrang der Erzählung an. Wenn du den Verlauf der Geschichte im Präsens hast, brauchst du eine Zeit, um Dinge darzustellen, die sich bereits vorher ereignet haben, und das ist dann das Perfekt (oder auch das Präteritum). Die nutzt der Autor dann, - aber auch nur zu diesem Zweck!

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Was jedoch möglich ist, das ist eine durchgehende Erzählung im Präteritum (das ist ja meistens der Fall) mit Vorzeitigkeit im Plusquamperfekt, wie ich schon schrieb. 
Wenn besonders spannende Teile auftreten, wechselt ein Autor dann gern eine Zeitlang ins Präsens, aber nur einige Absätze lang.

Täte er es zu oft, könnte man seinen Stil durchaus kritisch betrachten. Aber so etwa tun dann meist nur Amateurautoren oder Anfänger.

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Ich habe nur den Anfang gelesen, aber da ist auch Präteritum und Perfekt drin.

In weiten Teilen schon.


Davi19 
Beitragsersteller
 24.07.2015, 21:39

Danke vorab für deine schnelle Antwort! Wo hast du Abweichungen bemerkt? LG

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