Wie weit zurück können sich Deutsche noch verstehen?

9 Antworten

Deutschland als Nation ist ein Neuzeitprodukt, es gab davor nur Fürstentümer und die Dialekte waren die Sprachen, die fließend ineinander übergingen, was auch sonst? Ob jemand heute einen Muttersprachler von vor 500 Jahren verstünde, hat natürlich viel damit zu tun, welche Sprachkompetenz beide Personen mitbrächten, die heutige und die historische. Zwei Sprachgelehrte würden viel besser zueinander finden in der Verständigung als zwei Tagelöhner ohne Bildungshintergrund, was nicht verwundern dürfte, oder? Ich denke, dass gut ausgebildete und kommunikative Charaketer sich sogar über fast 2.000 Jahre Distanz bei der Sprachentwicklung verständigen könnten.


adabei  10.04.2020, 13:32

Wenn du 1000 Jahre zurückgehst, würden sich auch Gelehrte nicht mehr verstehen, außer sie haben in einem heutige Germanistik-Studium Althochdeutsch gelernt.

Die Kommunikation könnte vielleicht über Latein oder Altgriechischen klappen.

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Dass es 'Deutsche' im heutigen Sinn nicht gab, ist ja bereits erläutert worden. Auch, dass es lange Zeit kein standardisiertes Deutsch gab, sondern nur verschiedene deutsche Dialekte (und vielleicht teilweise überregionale Standards, aber auch eher nur in Ansätzen).

Zur Frage der Verständigung: Das kann man wohl nur sehr schwer pauschal beantworten. Grundsätzlich ist vieles möglich, sofern alle Gesprächsteilnehmer geduldig und aufgeschlossen sind und sich entgegenkommen (der Einfachheit halber werde ich das jetzt einfach mal voraussetzen).

  • Mit Personen des 18. oder 19. Jahrhunderts sollte die Verständigung noch einigermaßen flüssig funktionieren, wenngleich es auch da immer wieder mal zu ein paar Missverständnissen kommen wird (vor allem was die Bedeutung von einzelnen Wörtern und die allgemeinen Umgangsformen angeht). Im 16. und 17. Jahrhundert wird es schwieriger, aber auch das ist machbar.
  • Für das 15. Jahrhundert sollte man schon einiges an Geduld mitbringen, denn ab hier abwärts ändert sich auch die Aussprache immer deutlicher.
  • Zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert wirst du verschiedene Varianten des Mittelhochdeutschen hören und das klingt nun wirklich fast wie eine andere Sprache. Vor allem allemannische Dialekte haben viele der Lautveränderungen zw. dem Mhd. und dem Nhd. nicht mitgemacht - da ist "mein Haus" vielerorts immer noch "mîn hûs". Wenn du dir in besonders wildem Dialekt sprechende Schweizer, Schwaben oder Vorarlberger anhörst, bekommst du ansatzweise vielleicht einen Eindruck davon, was in mittelhochdeutscher Zeit auf dich zukommt. Unterschiede in Bedeutung, Grammatik und Umgang erschweren das Ganze natürlich.
  • Zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert werden althochdeutsche Dialekte gesprochen und spätestens die werden eine echte Herausforderung darstellen. Zu großen Teilen wird sich das wie eine Fremdsprache anhören - allerdings wie eine, die dem modernen Deutschen verwandt ist. Mit Geduld und aufmerksamem Zuhören wirst du vermutlich einige Wörter erkennen, was eventuell eine oberflächliche Verständigung ermöglicht.

Mit Geduld und Kooperation ist wie gesagt einiges möglich - man kann schließlich auch nonverbal kommunizieren, indem man etwa auf etwas deutet oder etwas nachahmt. Das wird zwar kein sehr flüssiges Gespräch, aber eine rudimentäre Verständigung ist das allemal.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung

Ein Verständigung heutiger Deutscher wäre wohl mit Deutschen bis Mitte des 17. Jahrhunderts (Ende des Dreißigjährigen Krieges) ohne Weiters möglich. Ab da kann man von Neuhochdeutsch sprechen, womit wir uns eigentlich auch heute noch verständigen.

Weitere 150 Jahre zurück, also bis zum Ausgang des Mittelalters ginge mit Abstrichen wahrscheinlich auch noch. Schließlich ist Luthers Deutsch uns heute auch noch größtenteils verständlich. Noch weiter zurück wird es dann aber immer schwieriger.

Ich denke also, das wir heutigen Deutschsprecher die Deutschen der letzten 500 Jahre verstehen könnten, wenn wir uns in deren Sprache ein wenig hineinhörten.

Vor 500 Jahren gab es das Heilige Römische Reich deutscher Nation und einen Sprach- und Kulturraum, der sich als deutsch verstanden hat. Doch der war größer als der heutige und dafür von unterschiedlichem, eher losem Zusammenhang. Die eigentliche Oberhoheit hatte der deutsche Kaiser, doch das war keine sehr starke Figur. Er war auf das Wohlwollen und die Unterstützung der mächtigen Regionalherrscher angewiesen wie zum Beispiel den König von Bayern oder den Fürstbischof von Mainz. Alles in allem ähnelte das deutsche Reich eher einem Staatenverbund wie der EU als einem Nationalstaat.

"Deutsch" war in diesem Rahmen ein eher kulturell gemeinter Oberbegriff, wobei man mit der damals gesprochenen Version des Neuhochdeutschen wohl überall durchkam; gebildete Schichten sprachen jedoch eher französisch oder Latein. Die Staatszugehörigkeit wurde allgemein auf das jeweilige Fürstentum bezogen, dessen Untertan man war, also Württemberger bzw. Schwabe, Sachse, Preusse etc.

Was die Verständigung betrifft, wäre es sehr schwierig. Wenn du jetzt plötzlich auf einem Dorfplatz des Jahres 1520 stehst und nach einem Wirtshaus fragst, würde das wohl gerade noch klappen, aber ein längeres Gespräch über alltägliche Themen dürfte kaum funktionieren.

Martin Luther zum Beispiel hätte ich 1519 bequem verstanden. Walther von der Vogelweide (um 1200) wohl nur noch ansatzweise.

Gruß, earnest