Kann mir jemand die biogenetische Grundregel erklären?

1 Antwort

Hi,

"die Formbildungsprozesse von der befruchteten Eizelle, über die Embryonalentwicklung, bis zur Geburt, sind eine Zusammenfassung der Stammesgeschichte" oder "die Ontogenese eines Organismus ist die Rekapitulation seiner Phylogenese".

Haeckel hat beobachtet, dass in der frühen Entwicklung Organisationsmerkmale der stammesgeschichtlichen Ahnen des Organismus auftauchen. Die Formbildungsprozesse laufen nicht geradlinig, sondern nehmen Umwege in Kauf, um zu einem adulten Zustand zu gelangen. Wie z.B. das Auftreten von Kiemenbögen bei Landwirbeltieren, z.B. uns Menschen, die offensichtlich gar keine Kiemen haben oder brauchen, sondern Lungen. Trotzdem ist die Anlage der Kiemenbögen nie verloren gegangen, sondern im "Gedächtnis" des Erbgutes geblieben und so kann man sie, in einem ganz jungen Entwicklungsstadium, vorübergehend noch nachweisen.

Junge Bartenwale bilden in der Embryonalentwicklung Zahnanlagen aus, obwohl sie im Erwachsenenalter gar keine Zähne besitzen. Sie haben spezielle Hornplatten, als Filterapparat, die aber Anhangsgebilde der Haut sind und nicht aus Zähnen hervorgegangen sind. Trotzdem ist die Anlage der Zähne nie verloren gegangen und der Umweg über die Anlage der Zähne wird weiterhin in Kauf genommen, auch wenn der erwachsene Wal keine Zähne aufweist. Seine stammesgeschichtlichen Ahnen waren aber Wale, die Zähne hatten. Es zeigt sich also in seiner Embryonalentwicklung ein kurze Rekonstruktion seiner Ahnen. Seine Embryonalentwicklung verweist darauf, in dem sie dieses Kapitel aus seiner Vergangenheit, wenn auch nur vorübergehend, wiederholt.

Haeckel hat dem Phänomen eine starke Bedeutung beigemessen. Dazu muss man die Zeit beachten, 1866, da hat man solche Dinge als extrem faszinierend empfunden, denn viele glaubten noch an ein statisches Weltbild. In dem, wie die Kirche lehrte, die Lebewesen so leben, wie Gott sie schuf. Ohne dass sie sich je verändert hätten. Der Blick auf die Embryonalentwicklung brachte dieses, als unantastbar geltende, Dogma ins Wanken.

Man schaute auf die Embryonalentwicklung der Tiere und sah Bilder aus der Vergangenheit, die mit dem aktuellen Aussehen des Tieres nicht in Einklang zu bringen waren. Sondern sie entsprachen offenbar einem früheren Zustand. Wie konnte das sein, wenn die Arten unveränderlich sein sollten? Das waren starke Hinweise auf etwas, wofür man einige Jahre davor noch auf dem Scheiterhaufen geendet wäre, wenn man es veröffentlicht hätte, denn es widersprach der Vorstellung der göttlichen Ordnung und erschütterte den Anspruch auf absolute Gültigkeit der Lehren der Kirche in seinen Grundfesten.

Man kann sich vorstellen, dass solche Belege, die die Naturwissenschaften hervorbrachten, eine gewisse Sprengkraft hatten. Sie brachen ein altes Weltbild auf und gaben den Startschuss, es in Schutt und Asche zu legen. Die Lebewesen und die Welt in der sie lebten, waren nicht statisch.

Die Rekapitulation der Merkmale der Vergangenheit im Lebewesen selbst, ist ein wunderschöner Hinweise darauf, dass Evolution tatsächlich wirkt und kein Hirngespinst einiger "irrer Frevler" war.

Die Evolution hat die Eigenart, dass sie nicht gern bei "0" anfängt, sondern Neuerungen wurden gern einem bereits existierenden System aufgesetzt und damit blieben frühe ontogenetische Entwicklungsschritte erhalten und es werden auf Umwegen nicht mehr verwendete Strukturen, über komplizierte Umbauverfahren in solche verwandelt, die nun im neuen adulten Lebewesen verwendet werden. Das genetische Programm wurde dazu nicht komplett aufgegeben und neu geschrieben, sondern es wurde an dem Grundbestand konservativ festgehalten und nur in seinen Endschritten modifiziert. Gruß, Cliff