Kann man lange verdrängte Trauer mit einer Vertrauensperson aufarbeiten oder braucht es dafür grundsätzlich einer Therapie - was ist Eure Erfahrung?

Das Ergebnis basiert auf 12 Abstimmungen

Eine Vertrauensperson hilft da sehr. 75%
Ohne Therapie geht nichts. 25%

9 Antworten

Von Experten rotesand und Rosenmary bestätigt
Eine Vertrauensperson hilft da sehr.

Es gibt eine große Schwankungsbreite für menschliche Gefühlsregungen, und je nachdem, wie man individuell aufgestellt ist, verarbeitet man Gefühle wie Trauer selbst.

Manchen helfen dabei gute Gespräche mit einfühlsamen, seelsorgerisch begabten Menschen im Umfeld, Nachdenken über philosophische Sätze, Literatur zum Tod und das Leben danach. Auch Schreiben hilft, ebenso wie die Zeit: 'Die Zeit heilt alle Wunden'

Um in Trauer aber einen medizinischen Fall zu sehen, braucht es schon mehr. Den Trend, alle Gefühle außerhalb der üblichen sehr kreativ in versicherungsrelevante Abrechnungscodes zu packen, und so zu einer behandlungsbefürftigen Krankheit zu machen, gibt es schon seit Jahren (auch 'Liebeskummer' gehört dazu). Motto: Jeder Mensch ein Patient. '

Das bürgert sich zunehmend ein, wie mir öfter auch bei stereotypen Antworten von Usern hier auffällt: auf jegliche Frage in Bezug auf Befindlichkeiten kommt der Hinweis: geh zum Arzt!

Vorteil: schon innerhalb der normalen Bandbreite können Zustände des menschlichen Daseins medikamentös behandelt werden; zusätzlich kann das Umfeld Druck aufbauen, sich deswegen vom Arzt etwas verordnen zu lassen. Diesen Weg habe ich vermieden.

Trauer ist etwas so Persönliches! Sie kann ein Leben lang dauern und in unterschiedlicher Tiefe immer wieder hochkommen: bei Musik, bei Gerüchen, beim Nachdenken über die verpasste gemeinsame Zukunft. Das gehört aber alles zum normalen menschlichen Empfinden.

Wenn allerdings Schuldgefühle als Auslöser für Trauer mit im Spiel sind, kann es sich schon um ein schwereres Kaliber handeln.

Bei lang verdrängter Trauer kann dann auch mehr erforderlich sein: eine Kur zum 'Reset' bietet sich an, da gibt es Hilfe beim Verstehen und Verinnerlichen von Zusammenhängen.

Vorteil: bei Kuren gilt 'Heilen' als Geschäftsmodell (und nicht bloß 'Behandeln').

Hauptsache, die Seele verspürt etwas als heilend: es ist auch die Absicht, die zählt.


Spielwiesen  24.04.2021, 19:05

☆☆ Ganz vielen Dank für den Stern und die Auszeichnung! Freut mich sehr! ♡☆♧☆♤

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Das kommt ganz auf den Menschen an, denke ich. Es gibt sicherlich Menschen, die das mit einer Vertrauensperson aufarbeiten können, aber es gibt auch Menschen, die das besser innerhalb einer Therapie tun sollten.


Eine Vertrauensperson hilft da sehr.

Wenn man in die Therapeutenrolle rutscht, verschiebt sich das Gefälle. Eine Begegnung auf Augenhöhe wird schwieriger, die Abhängigkeit jedoch grösser.

Im Idealfall ergänzen sich beide Personen: der Therapeut arbeitet mit professioneller Distanz. Die Vertrauensperson bleibt als Begleitung wichtig.

Es ist sehr persönlich, ob man alleine einen Weg findet, um damit umzugehen oder nicht. Wenn man Hilfe braucht, sollte man sich Hilfe holen.

Verallgemeinern kann man nur selten. Es kommt immer auf die jeweilige Person, das Thema und wie tief die Verletzung wirklich sitzt, an.

Die Beziehung zu meinem Vater war früher nie sonderlich gut, weil er mich sehr oft verbal verletzt hat, ohne es überhaupt zu merken. Er kann auch kaum Emotionen zeigen und ist nicht empathisch. Das hat sich immer wieder angestaut und irgendwann war das Verhältnis dann sehr sehr schwierig. Einerseits liebte ich ihn natürlich, anderseits hasste ich ihn. Wollte also Nähe, aber irgendwie auch weg von ihm und Abstand zwischen uns bringen. DAS ist tatsächlich etwas, was mich sehr sehr tief verletzt hat und ich das wohl auch erst durch eine Therapie so richtig bemerkt habe. Damals hatte ich eine Therapie wegen Depressionen ab meinem 18. Lebensjahr angefangen, hatte dann paar Jahre keine Therapie und nun bin ich 24 und habe vor kurzem eine zweite Therapie wegen sozialen Ängsten angefangen. Letzte Stunde habe ich wieder geheult, als ich über das Verhältnis zu meinem Vater geredet habe. Obwohl ich mittlerweile Erwachsen bin, von daheim ausgezogen bin und in einem anderen Bundesland sehe und das Verhältnis zu meinem Vater schon sehr viel besser geworden ist, sitzt der Schmerz nach wie vor tief!

Also ich denke das kommt immer auf den individuellen Fall an. Eine Therapie finde ich aber sehr nützlich, daran bereue ich gar nichts.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Langjährige Erfahrung mit Depression und Psychotherapie

Mornarovsky  23.04.2021, 16:48

Eine sehr gelungene und ausführliche Antwort!

Ich kann sehr gut verstehen wie es dir geht, mir ging bzw. geht es genau gleich.

Mein Vater war im Krieg und ist daher seelisch sehr mitgenommen. Er hat mich in der Kindheit sehr oft beleidigt bzw. verletzt und irgendwann entwickelte ich eine sehr große Abneigung gegen ihn – aber trotzdem war er immer noch mein Vater.

Einerseits und trotzdem liebt man diese Person, andererseits ist man sehr gekränkt.

Ich wünsche dir Alles Gute! :-)

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TheTrueSherlock  23.04.2021, 18:20
@Mornarovsky

Dankeschön.
Genau, du beschreibst es sehr treffend. Ich glaube das ist für Außenstehende schwer nachzuvollziehen, aber wenn man es selbst erlebt hat, dann ist man erstaunt über diese gegensätzlichen Emotionen. Und das aufzuarbeiten dauert echt lange, weil der Schmerz sehr tief sitzt.

Ich wünsche dir ebenso alles Gute!

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Rosenmary 
Beitragsersteller
 24.04.2021, 17:56
@Mornarovsky

Mein Vater wurde auch im Krieg groß und ihm rutschte ab und zu mal die Hand aus. Dennoch habe ich stark um ihn getrauert.

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