Cicero-Tusculanae Disputationes 5: Erklärung

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Der Cicero-Text ist so gemeint, wie der Wortlaut ist. 59 – 62 sind Kapitelangaben (zu Marcus Tullius Cicero, Tusculanae disputationes, Buch 5), nicht Verse (Verse gibt es in Dichtung; die Gliederung in fortschreitend feinerer Unterteilung bei antiken Prosa-Werken wird gewöhnlich nach Buch, Kapitel, Paragraph vorgenommen). Die Vermutung, mit der Darstellung sei einfach gemeint, Dionysios (lateinisch: Dionysius) sei heimlich fremdgegangen und habe dies zu vertuschen versucht, geht in die Irre.

Geschildert wird in Kapitel 59 nur das Zusammenkommen des Tyrannen Dionysios I. von Syrakus mit seinen zwei Ehefrauen (Aristomache und Doris), keiner anderen Frau. Dionysios wird als jemand dargestellt, der bei allen möglichen Gelegenheiten einen Anschlag/ein Attentat auf sich befürchtet. Dies versuchte er mit seinen Gewohnheiten und Maßnahmen zu vermeiden, nicht Seitensprünge zu vertuschen.

In Kapitel 60 geht es ebenfalls um diese Furcht. Was über die Liebe des Dionysios zu einem Jüngling/jungen Mann) erzählt wird, betrifft eine Verbindung, die in den damaligen griechischen Brauch der sogenannten »Knabenliebe« (παιδεραστία) einzuordnen ist, die Beziehung eines erwachsenen Mannes zu einem männlichen Jugendlichen. Von besonderer Heimlichkeit und einem Vertuschungsversuch ist nicht die Rede. Die Tötungen geschehen wegen des Hinweises auf einen möglichen Weg zu einer Beseitigung des Dionysios durch einen Anschlag und einer vermuteten Einstellung dazu.

M. Tullius Cicero, Tusculanae disputationes : Lateinisch/Deutsch = Gespräche in Tusculum. Übersetzt und herausgegeben von Ernst Alfred Kirfel. Stuttgart : Reclam, 1995 (Universal-Bibliothek : Römische Literatur ; Nr. 5028), S. 428 – 431

5, 59 cumque duas uxores haberet, Aristomachen civem suam, Doridem autem Locrensem, sic noctu ad eas ventitabat, ut omnia specularetur et perscrutaretur ante. it cum fossam latam cubiculari lecto circumdedisset eiusque fossae transitum ponticulo ligneo coniunxisset, eum ipsum, cum forem cubiculi clauserat, detorquebat. idemque cum in communibus suggestis consistere non auderet, contionari ex turri alta solebat.

5, 60 atque is cum pila ludere vellet - studiose enim id factitaba - tunicamque poneret, adulescentulo, quem amabat, tradidisse gladium dicitur. hic cum quidam familiaris iocans dixisset: 'huic quidem certe vitam tuam committis' adrisissetque adulescens, utrumque iussit interfici, alterum, quia viam demonstravisset interimendi sui, alterum, quia dictum id risu adprobavisset. atque eo facto sic doluit, nihil ut tulerit gravius in vita; quem enim vehementer amarat, occiderat. Sic distrahuntur in contrarias partis impotentium cupiditates. Cum huic obsecutus sis illi est repugnandum.

„(59) Und da er zwei Frauen hatte, Aristomache, eine Mitbürgerin, und Doris aus Lokroi, ging er nachts zu ihnen, nicht ohne vorher alles einer genauen Prüfung zu unterziehen. Und da er sein Schlafzimmerbett mit einem breiten Graben umgeben und diesen Graben mit einem kleinen Holzsteg überbrückt hatte, drehte er diesen, wenn er die Tür des Schlafzimmers geschlossen hatte, selbst weg. Und da er nicht wagte, sich auf die allgemeine Tribüne zu stellen, pflegte er von einem hohen Turm herab seine Reden zu halten. (60) Und wenn er Ball spielte - denn das tat er oft und gern – soll er einem Jüngling, den er liebte, sein Schwert übergeben haben. Als da ein Vertrauter im Scherz sagte: »Diesem wenigstens vertraust du dein Leben an«, ließ er beide töten, den einen, weil er einen Weg aufgewiesen hatte, wie man ihn aus dem Weg räumen könne, den anderen, weil er durch sein Lachen das Gesagte gutgeheißen habe. Und diese Tat schmerzte ihn so, daß er in seinem Leben an nichts schwerer trug; denn er hatte denjenigen umbringen lassen, den er heftig geliebt hatte. So werden die Begierden der Unbeherrschten in gegenteilige Richtungen auseinandergerissen. Folgt man der einen, muß man der anderen widerstehen.“


Albrecht  17.03.2013, 01:49

Die Ehen, die Dionysios schloß, dienten offenbar politischen Zwecken, einer Verbindung mit vornehmen und reichen Leuten (Aristokraten/Oligarchen).

Plutarch, Dion 3 und 6 enthält eine Darstellung.

Plutarch, Große Griechen und Römer. Band 4. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Konrat Ziegler und Walter Wuhrmann. 3., revidierte Auflage. Düsseldorf : Artemis & Winkler, 2010, S. 8 - 9:
„3. Als der ältere Dionysios zur Herrschaft gekommen war, heiratete er sogleich die Tochter des Syrakusiers Hermokrates. Diese, wurde, als die Tyrannis noch nicht fest begründet war, von den abgefallenen Syrakusiern so grausam und schändlich mißhandelt, daß sie freiwillig aus dem Leben schied. Nachdem Dionysios die Herrschaft wiedergewonnen hatte, nahm er zwei Frauen zugleich, die eine aus Lokroi mit Namen Doris, die andere aus der eigenen Stadt, Aristomache, eine Tochter des Hipparinos, als er zum ersten Mal zum obersten Feldherrn gewählt wurde. Es heißt, daß er beide Frauen an einem Tag heimgeführt habe, aber kein Mensch habe erfahren, welcher von beiden er zuerst beigewohnt habe. In der Folgezeit widmete er sich beiden in gleicher Weise, so daß sie gewöhnlich gemeinsam mit ihm speisten und nachts abwechselnd mit ihm schliefen. Das Volk von Syrakus wünschte freilich, daß die einheimische Frau vor der Fremden den Vorrang haben sollte, aber die andere hatte das Glück, zuerst den ältesten der Söhne des Dionysios zu gebären und in ihm eine Stützte gegenüber dem Mangel ihrer Herkunft zu gewinnen. Aristomache hingegen lebte lange Zeit mit Dionysios, ohne Kinder zu bekommen, obwohl er dringend wünschte, von ihr Kinder zu haben, weshalb er denn auch die Mutter der Frau aus Lokroi unter der Anschuldigung, die Aristomache verhext zu haben, hinrichten ließ.“

S. 11: „6. Dionysios hatte drei Kinder von der Frau aus Lokroi und vier von Aristomache, von denen zwei Töchter waren, Sophrosyne und Arete.“

Dionysios (* um 430 v. Chr.; † 367 v. Chr.) wurde im Frühjahr 405 v Chr. zum bevollmächtigten Feldherrn/Strategen (στρατηγός αὐτοκράτωρ) gewählt. Nach einem angeblichen Attentat auf ihn (nicht tatsächlich ernsthaft auf Dionysius verübt, sondern vorgetäuscht) wurde Dionysios eine Leibwache bewilligt (Sommer 405 v. Chr.). Damit vollzog er faktisch den Schritt zur Tyrannenmacht. Sein offizieller Titel wurde dann wohl Archon (ἄρχων). Dionysios stützte hauptsächlich auf ausländische Söldner (vor allem Italiker aus Kampanien) und besetzte alle Schlüsselstellungen mit Verwandten und »Freunden«. Nach der Überlieferung zeigte er Grausamkeit, ging rücksichtlos gegen Gegner vor und setzte geheime Überwachung ein.

vgl. mit einem kurzen Überblick:
Klaus Meister, Dionysios [1]. In: Der neue Pauly (DNP) : Enzyklopädie der Antike ; Altertum. Herausgegeben von Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Band 3: Cl - Epi. Stuttgart ; Weimar, Metzler, 1997, Spalte 625 – 629

Marcus Tullius Cicero, Tusculanae disputationes, Buch 5 erörtert die Aussage, Tugend (virtus) genüge sich selbst für ein glückliches Leben (5, 1 virtutem ad beate vivendum se ipsa esse contentam). Marcus Iunius Brutus hat diese Aussage gefallen.

Diese Lehre, nach der Tugend/Vortrefflichkeit (griechisch: ἀρετή) sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingung für Glückseligkeit (griechisch: εὐδαιμονία; lateinisch: beatitudo) ist, wurde von Stoikern vertreten. Dazu gehört die Aussage (5, 43), der Weise (sapiens; griechisch: ὁ σοφός) sei immer glücklich (beatus). Jedes Gut (bonum; griechisch: ἀγαθὸν) sei erfreulich (laetabile) und damit auch lobenswert (laudabile); was aber lobenswert sei, sei in der Tat schön und gut/anständig/ehrenhaft(honestum; griechisch: καλόν). Also sei das, was ein Gut ist, schön und gut/anständig/ehrenhaft. Was schön und gut/anständig/ehrenhaft sei, sei allein ein Gut (5, 44). Daraus ergibt sich: ein glückliches Leben ist in Ehrenhaftigkeit/Tugend/schöner und guter Handlungsweise und Einstellung allein enthalten (5, 44 honestate una vitam contineri beatam). Alles Gute sei lobenswert, woraus sich ergibt: Was schön und gut/anständig/ehrenhaft ist, das allein ist gut (5, 45). Das Leben der Guten sei glücklich (5, 47: bonorum beatam vitam esse). Das glückliche Leben werde durch Tugend/Vortrefflichkeit bewirkt (5, 48: beata igitur vita virtute conficitur).

Die Lehre, Tugend allein sei für ein glückliches Leben ausreichend, wird an Beispielen verdeutlicht. Sie sollen unter anderem zeigen, daß äußerer Glanz und Erfolg nicht ausschlaggebend sind. Dionysios wird dabei in einem Vergleich Archimedes entgegengesetzt (5, 57 – 67). Dionysios sei zwar in seiner persönlichen Lebensführung äußerst maßvoll, in seinen Handlungen tatkräftig und fleißig gewesen, er habe aber ein übles/bösartiges und ungerechtes Wesen gehabt (5, 57). Daher müsse er allen, die gut auf die Wahrheit schauen, als äußerst unglücklich erscheinen.

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Albrecht  17.03.2013, 01:49

Dionysios habe etwas nicht erreicht, das er gewünscht habe. Seinem Verlangen nach einem Vertrauensverhältnis und echter Freundschaft hätten andere Begierden im Weg gestanden. Wegen seiner ungerechten Begierde nach Herrschaft habe er sich auf gewisse Weise selbst in ein Gefängnis eingeschlossen (5, 58).

Das an einem einzigen Roßhaar von der Decke herabhängende Schwert über dem Nacken des Damokles (lateinisch: Damocles), eines seiner Schmeichler, der sagte, es habe niemals einen glücklicheren Menschen als Dionysios gegeben, und daraufhin angeboten bekam, eine Kostprobe dieses Lebens zu erhalten, zeigt eine ständig drohende Gefahr, ein immer unter einem drohendem schrecklichen Ereignis stehendes Leben voller Mißtrauen. Dies verdeutlicht nach Ciceros Überzeugung, wie ein Leben als ungerechter Tyrann nicht glücklich sein kann.

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Durch Albrechts Übersetzung (besonders die letzten drei Sätze) erkennst du, dass Dionysios den Rest seines Lebens unglücklich war wegen seiner "nicht tugendhaften" Tat. Hier hat Cicero für seine These (s.u.) ein Negativbeispiel durch die Geschichte von Dionysios gebracht.

Du siehst also, dass dein Textabschnitt zu b3.2) der Gliederung passt.


Buch 5 der Tusculane disputationes hat Ciceros Theorie zum Thema:

„Tugend allein reicht aus, um ein glückliches Leben zu führen.“

a) In 1-11 erörtert er die Frage unter philosophischen Aspekten

b) 12-82 handeln von Ciceros These

b1) 12-17 Cicero widerlegt die Gegenthese, dass Tugend allein nicht für ein glückliches Leben ausreicht

b2) 18-28 beweisen seine These; Tugend kommt der Hauptanteil zu, um ein glückliches Leben zu ermöglichen

b3) 41-82 Cicero erörtert seine Theorie philosophisch

b3.1) 41-45 unter Berufung auf Platon und die Stoa (wenn Tugend das einzige Gut ist, muss der Weise glücklich sein)

b3.2) 46-67 anhand des Beispiels bekannter Persönlichkeiten (vernunftgemäßes, tugendhaftes Leben führt zu Glückseligkeit)

b3.3) 68- 72 Beispiele philosophischer und politischer Tätigkeit (und das Glück, das dich daraus ergibt)

b3.4) 73-83 Cicero bestätigt seine Theorie als richtig

c) 83-118 Cicero erörtert die praktische Bedeutung für die übrigen philosophischen Richtungen, die seine These hat

c.1) 83-85 Einteilung der verschiedenen philosophischen Systeme

c.2) 84-87 Peripatetiker und Ältere Akademie

c.3) 88-118 Epikureer

d) 119 -121 Cicero fasst gedanklich 83-118 zusammen und zieht als Resümee, welchen persönlichen Nutzen er von der philosophischen Schriftstellerei hat.

Ich empfehle dazu Dionysios I. von Syrakus unter Wikipedia durchzulesen, vor allem die Abschnitte "Familienpolitik" und "Rezeption", wo man lesen kann, dass Cicero bezüglich Dionysios I. Fehlinformationen aufgesessen war. Es handelt sch um übertriebene Legenden.