ACI und NCI bei Seneca?

2 Antworten

Hallo,

das vacare im ersten Satz ist ein Infinitiv, der von vis abhängt: Wenn Du im Geist frei sein willst...

Mit einem AcI hat das nichts zu tun.

Salutare ist kein Infinitiv, sondern das Neutrum zum Adjektiv salutaris und gehört zu studium. Fieri ist von potest abhängig: Ohne die Liebe zur Mäßigung kann wissenschaftliche Beschäftigung nicht erfolgreich sein.

Auch das parare im dritten Satz gehört nicht zu einem AcI. Es ist vom Imperativ disce abhängig:

lerne, dich vorzubereiten (auf das Ende nämlich).

Das te nach si quid könntest Du mit Gewalt in einen AcI pressen:

Wenn etwas verbietet, daß du gut lebst.

Das wäre aber überflüssig, weil es doch viel einfacher geht, wenn man das te einfach als Objekt auffaßt:

Wenn dich etwas daran hindert, gut zu leben, hindert es dich nicht daran, gut zu sterben.

Herzliche Grüße,

Willy

Bei einem NcI (Nominativus cum Infinitivo) steht beim Infinitiv ein Subjekt im Nominativ. Der NcI als Ganzes und das im Nominativ stehende Subjekt in ihm sind formal grammatisches Subjekt des übergeordneten Satzes. Der Infinitiv ist von einer Verbform im Passiv (z. B. videor, iubeor, vetor, dicitur, fertur, traditum est) abhängig.

Bei einem AcI (Accusativus cum infinitivo) steht beim Infinitiv ein Akkusativ. Der AcI als Ganzes ist formal grammatisches Objekt des übergeordneten Satzes. In der deutschen Sprache kann ein AcI immer mit einem „dass-Satz“ übersetzt werden.

Ein Infinitiv im Lateinischen bedeutet nicht in jedem Fall einen AcI oder NcI.

In den drei Sätzen kommt kein NcI vor. Sehr einfach bemerkbar ist dies daran, dass der Infinitiv nicht von einer Verbform im Passiv abhängig ist, sondern von einer Verbform im Aktiv (Satz 1: vis; Satz 2: potest; Satz 3; disce [Imperativ] und vetat).

In Satz 1 steht kein AcI, der Infinitiv vacare ist vom Verb vis abhängig, ein Akkusativ kommt nicht vor.

In Satz 2 steht kein AcI, salutare ist hier kein Verb im Infinitiv, sondern ein auf das Subjekt studium bezogenes Adjektiv im Neutrum. Der Infinitiv fieri ist von potest abhängig.

In Satz 3 ist parare te vom Imperativ disce abhängig („Lerne zugleich, auch dich vorzubereiten“) und te ist zu parare gehörendes reflexives Personalpronomen. Ein AcI liegt nicht vor, was sich auch daran zeigt, dass eine Übersetzung mit einem „dass“ - Satz nicht wirklich passend ist. Bei si quid te vetat bene vivere, bene mori non vetat. ist es am einfachsten, te als Akkusativobjekt zu verstehen. Mit einer eher gewaltsamen Deutung kann ein AcI konstruiert werden, bei dem von vetat ein te bene vivere abhängig ist („verbietet/hindert, dass du gut lebst“), aber dies ist unnötig.

Lucius Annaeus Seneca, Epistulae morales ad Lucilium 17, 5:

(1)  Si vis vacare animo, aut pauper sis oportet aut pauperi similis. (2) Non potest studium salutare fieri sine frugalitatis cura; frugalitas autem paupertas voluntaria est. (3) Tolle itaque istas excusationes: 'nondum habeo quantum sat est; si ad illam summam pervenero, tunc me totum philosophiae dabo'. (4) Atqui nihil prius quam hoc parandum est quod tu differs et post cetera paras; ab hoc incipiendum est. (5) 'Parare' inquis 'unde vivam volo.' (6) Simul et parare (te) disce: si quid te vetat bene vivere, bene mori non vetat.

(1)  Wenn du für den Geist/für geistige Tätigkeit frei sein willst, ist es nötig, dass du entweder arm oder einem Armen ähnlich bist/musst du entweder arm oder einem Armen ähnlich sein.

vacare mit Dativ = frei sein (für), freie Zeit haben (für), Muße haben (für), sich (einer Sache) widmen; bei vacare animo ist animo ein Dativobjekt und bedeutet „für den Geist“/„für geistige Tätigkeit. Eine Deutung als Ablativ („frei vom Geist“) ist das Gegenteil des Gemeinten. Seneca rät als stoischer Philosoph zu einer Hinwendung zur Philosophie, nicht zu einer Abwendung von ihr. vis ist an dieser Stelle 2. Person Singular Indikativ Präsens Aktiv vom Verb velle.

Im Konditionalsatz steckt das Subjekt („du“) im Prädikat vis. Auch beim unpersönlichen Ausdruck oportet („es muss“/„es ist nötig“/„es gehört sich“) steckt das Subjekt („du“) im Prädikat. Im davon abhängigen Satz ist sis Prädikat - in ihm steckt auch das Subjekt („du“) -  und dazu gibt es die auf das Subjekt bezogenen Prädikatsnomen (bei sis ist an dieser Stelle das Verb esse als Hilfsverb verwendet) pauper und similis.

(2)  Ein Studium [der Philosophie] kann ohne Sorge/Bemühung um Mäßigung nicht heilsam/zuträglich werden; Mäßigung aber ist freiwillige Armut.

salutare ist an dieser Stelle nicht Infinitiv Präsens Aktiv des Verbs salutare („begrüßen“), sondern Nominativ Singular Neutrum des Adjektivs salutaris.

studium ist Subjekt, potest Prädikat, salutare auf das Subjekt bezogenes und mit fieri verbundenes Prädikatsnomen. Im nächsten Satz ist frugalitas Subjekt, est (an dieser Stelle ist das Verb esse als Hilfsverb verwendet) ist Prädikat zusammen mit dem Prädikatsnomen paupertas, zu dem als Attribut voluntaria gehört.

(3)  Beseitige deshalb diese Entschuldigungen: „Ich habe noch nicht so viel, wie genug ist; wenn ich zu jener (Wunsch-)Summe hingekommen sein werde/wenn ich zu  jener (Wunsch-)Summe gelangt sein werde/ wenn ich jene (Wunsch-)Summe erreicht haben werde, werde ich mich ganz der Philosophie hingeben/widmen.“

tollere =  wegnehmen, entfernen, beseitigen, tilgen, vernichten; tolle ist davon Imperativ Präsens Singular und als Satzteil Prädikat. Ein Subjekt gibt es nicht, es könnte höchstens ein ergänztes „du“ als Subjekt gedacht werden. excusationes ist Akkusativobjekt. summam ist kein Akkusativobjekt, der Akkusativ steht wegen der Präposition ad. Der Ausdruck ad illam summam ist eine adverbiale Bestimmung des Ortes (Frage: „Wohin?“, nicht „Was?“). Danach ist habeo Prädikat, in dem auch das Subjekt („ich“) steckt. Im Konditionalsatz ist pervenero Prädikat, in ihm steckt auch das Subjekt („ich“). Im folgenden Hauptsatz ist dabo Prädikat, in dem auch das Subjekt steckt. me ist Akkusativobjekt, totum ist dazu Prädikativum.

(4)  Doch nichts muss früher bereitet/verschafft/erworben werden als das, was du aufschiebst und nach dem übrigen bereitest/verschaffst/erwirbst; damit muss begonnen werden.

nihil ist im Hauptsatz Subjekt, parandum est Prädikat. Im Relativsatz ist tu Subjekt, differs und paras Prädikat und quod Akkusativobjekt. Danach ist incipiendum est Prädikat. In ihm steckt ein unpersönliches „es“ als Subjekt. Wenn gedanklich tibi hinzugefügt wird, würde in der deutschen Sprache ein „du“ Subjekt sein („Du musst damit beginnen).

(5)  „Ich will bereiten/verschaffen/erwerben“, sagst du, „wovon ich lebe/leben kann.“

inquis ist Prädikat, in dem auch das Subjekt steckt. Im direkten Redesatz ist volo (parare) Prädikat, in dem auch das Subjekt steckt.

(6)  Lerne zugleich, auch dich vorzubereiten. Wenn etwas dir verbietet/dich hindert, gut zu leben, verbietet/hindert es nicht, gut zu sterben.“

disce ist Imperativ Präsens Singular vom Verb discere und als Satzteil Prädikat. Ein Subjekt gibt es nicht, es könnte höchstens ein ergänztes „du“ als Subjekt gedacht werden. vivam ist Prädikat in einem Nebensatz. Danach ist quid im Konditionalsatz Subjekt, vetat Prädikat und te Akkusativobjekt.

Eine grammatikalische Besonderheit ist, dass vom unpersönlichen Ausdruck oportet ein finites Verb im Konjunktiv (sis) abhängig ist (Satz (1)).

In Satz (4) gibt es zweimal ein Gerundivum: parandum (est) und incipiendum (est)

einige Stilmittel:

Alliteration in Satz (1) vis vacare, in Satz (2) studium salutare, in Satz (5) vivam volo

Polyptoton in Satz (1) pauperpauperi, in Satz (4), (5) und (6) verbunden mit wortspielerischem Gebrauch des Verbs parare (parandum est, paras, parare, parare).

Imperative (Befehlsformen) in Satz (3) tolle und Satz (6) disce und direkte Rede in Satz (3) und (5) dienen der Nachdrücklichkeit und Lebendigkeit.

Ellipse (Auslassung) in Satz (3): nur quantum, kein vorausgehendes tantum

Repititio (Wiederholung) in Satz (6): bene

Antithese (Entgegenstellung) und Chiasmus (Überkreuzstellung) in Satz (6): vetat bene vivere, bene mori non vetat.