Ist Vernunft wichtiger als die Erhaltung unserer Leitkultur
Hallo zusammen,
in einem 8 Werte Test den ich mache Ist die Frage ob Vernunft wichtiger ist als der Erhalt unserer Kultur.
meine Meinung nach ist beides wichtig.
bin auf eure Meinungen gespannt.
LG Julian
13 Stimmen
8 Antworten
Solange sich Vernunft und Kultur nicht widersprechen, kann man problemlos beides haben.
Und unvernünftige Elemente der Kultur sollte man zumindest überdenken.
Warte mal, ist nicht Vernunft einer der Werte der Aufklärung und auch Grundgedanke der ursprünglichen Leitkultur, also der Definition von Bassam Tibi?
Da ging es ja NICHT um Kultur im Sinne von Normen im Alltag, sondern mehr um europäische Werte wie Toleranz, Demokratie, Vernunft meines Wissens im Sinne der Aufklärung, also gerade KEINE spezifische Landeskultur.
Insofern wäre nach seiner Definition die Frage nicht beantwortbar bzw. man müsste sagen, Vernunft wäre TEIL der (deutschen/ europäischen) Leitkultur.
Nehmen wir das Wort "Leit-" mal raus, dann fragst du, was potenziell wichtiger wäre als der Erhalt unserer Kultur.
Das ist schon ein schwieriges Thema, weil sich schon aus der Frage zahlreiche andere Fragen ergeben.
Ernsthafte, keine rhetorischen.
Ganz ernsthaft:
Wer sind "wir"?
Also, auf welche Gruppe bezieht sich die Frage nach der Leitkultur?
Sind das alle Deutschen? Was genau versteht man unter "Deutschen"? Wenn das Deutsche in Abgrenzung zu Migranten sind, dann versteht man darunter also Deutsche, die seit mehreren Generationen keine anderen Vorfahren hatten. Oder Deutsche, die seit mehreren Generationen (fast) keinen Einfluss anderer Kulturen in ihrem Alltag hatten, so dass sie in Abgrenzung zu den Migranten eine "reinere" deutsche Kultur hätten.
Hier stellt sich aber wiederum die Frage, wenn nur der Teil der deutschen Kultur erhaltenswert ist, den wir alle gemeinsam haben, ist dann lokales Brauchtum nicht erhaltenswert? Geht es nur um Werte, Normen, Traditionen, die länderübergreifend begangen werden? Die anderen dürften dann verfallen, die wären nicht schützenswert?
Oder geht es um lokales Brauchtum UND länderübergreifende Werte, Traditionen, Normen?
Und noch mal: Wer ist deutsch und was ist erhaltenswert und wogegen wird das geschützt?
Die deutschen Normen, Traditionen usw. haben sich ja seit 1950 auch stark verändert. Wenn jetzt etwas erhaltenswert wäre, müsste man ja auch dafür kämpfen, dass wir zu diesen Werten etc. zurückkehren. Das möchte aber wohl (fast) keiner.
Die weitere Frage, die sich ergibt ist, ob zwingend "deutsche Kultur" ausstirbt, wenn andere Einflüsse hinzukommen, oder ob es nicht - wie meist in der Kultur!!! - eine Vermischung gibt, eine allmähliche Änderung. Man feiert bspw. Weihnachten und das Zuckerfest öffentlich, ohne eines als wichtiger darzustellen. Damit hätte man ja den Weihnachtsbräuchen gar nichts getan, es kämen nur neue Bräuche aus anderen Einflüssen hinzu.
Was ich daraus schließe ist, dass die Frage komplex und anfällig für Tunneldenken und Ängste ist (keiner möchte seine Kultur verlieren, die ist ja Teil der eigenen Identität), aber außer Acht gelassen wird, wie sich Kulturen (und Traditionen, Normen, Werte) normalerweise entwickeln und ändern. Über die Jahre. Durch zahlreiche Einflüsse. Oft auch durch Einflüsse, die einem nicht bewusst sind, bspw. durch veränderter Technologie, wirtschaftliche Änderungen, neue Literatur usw.
Bspw. wie hat man früher Ostern gefeiert, wie heute?
Vergleicht man aktuelle Kinder- und Großelterngenerationen, dann haben die Großeltern viel bescheidener gefeiert, da gab es keine Geschenke, nur ein paar Schokoeier und oft nur ein relativ bescheidenes Essen zu Hause.
Geht jetzt etwas verloren, wenn heutige Eltern Geschenke schenken, teilweise Kinder mehrfach bei mehreren Verwandten Eier suchen, man Essen geht, größer feiert?
Nein, es ändert sich nur.
Das kann man nicht verhindern.
Die heutigen Kinder werden mit ihren Kindern oder Enkeln auch komplett anders feiern als heute, weil sich bis dahin wieder viel verändert haben wird.
Das ist jetzt nur mal EIN Beispiel.
Wir haben Angst vor Veränderung, weil wir uns vorstellen, dass uns Veränderung von einem auf den anderen Tag übergestülpt wird und wir dabei viel für uns Wichtiges verlieren.
In Wahrheit verändert aber die Zeit das meiste.
Und irgendwann werden wir Großeltern sein oder aus der Großelterngeneration und vieles bedauern, das sich bis dahin verändert hat, eventuell auch durch den Einfluss von Migranten und deren Kulturen, aber für die dann lebenden Kinder und Jugendlichen wird es sich normal und natürlich anfühlen!
Das dürfen wir nie vergessen.
Wir haben Angst, etwas zu verlieren, aber JEDER MENSCH hat im Laufe der Zeit etwas "verloren", weil die Welt anders ist als zu seiner Kindheit, wenn er bspw. 50 ist. Oder 70. Oder 90.
Ohne Vernunft, ohne Gesetze, ohne Diskurs über bestimmte Werte und Entscheidungen werden wir keine Gesellschaft bleiben, die überleben kann. Das wird es also immer geben. Aber es werden sich Gesetze und auch Normen und Traditionen langsam verändern, manche auch zu schnell für einige Menschen, daran können wir nichts ändern.
Wir können versuchen, uns zu informieren, Veränderungen zu verstehen, wirklich Verständnis für Veränderungen zu entwickeln, die uns erst mal Angst machen, wir können auch versuchen, politisch oder im Kleinen aktiv mitzugestalten, was sich ändert - aber dagegen anzukämpfen ist meist sinnlos.
Bedenke, früher gab es keine Anschnallpflicht, keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Straßen etc. und bei deren Einführung gab es hitzige Diskussionen und Proteste. Heute ist das für fast alle normal.
Früher war Fleischessen verbreitet, heute weiß jeder, was Veganismus ist und viele konsumieren Fleisch viel bewusster als früher. Hätte man damals vorgeschlagen, das man ein vegetarisches Weihnachtsmenü machen könnte, wären viele wütend geworden, weil sie sich einer wichtigen Tradition beraubt gefühlt hätten.
Früher war Telefonieren in Bus und Bahn verboten und die Fahrgäste regten sich oft lautstark auf, wen einer mal ans Handy ging. Heute ist jeder gelassen und keinen stört das groß, wenn man nicht bewusst andere Fahrgäste stört.
Ängste machen immer nur Untergangsszenarien.
"Unsere Kultur" wird sich ändern, wie sie das von Anfang an getan hat. Der Weihnachtsbaum war bspw. lange gar kein Teil von Weihnachten, Geschenke auch nicht unbedingt.
Das bedeutet aber nicht zwingend, dass die Vernunft geringer wird. Es wird immer Menschen geben, deren Beruf es ist, die Vernunft in der Gesellschaft aufrecht zu halten - Philosophen, Journalisten, Politiker, Lehrer etc. Nur manchmal ändert sich der Diskurs, das Thema, und manchmal können einzelne Menschen nicht Schritt halten - und oft wird das, was vorher so bedrohlich wirkte irgendwann normal und keiner denkt mehr darüber nach, wie die Anschnallpflicht. Oder Ramadanbeleuchtung in Städten. Oder Weihnachten als Konsumfest.
Das Wort „Leitkultur“ wird nun inzwischen seit einer halben Ewigkeit von Vertretern der CDU durch jede Talkshow geschmissen und das, ohne dass es dafür eine ausführliche Erläuterung oder Definition gibt. Das Wort ist ein belangloser Inflationärbegriff, der keiner festen Bedeutung unterliegt und lediglich als Identitätsbegriff verwendet wird.
Gewissermaßen funktioniert dieser Begriff ähnlich wie „woke“. Auch ein Wort, welches im politischen Kontext verwendet wird, aber nie so richtig im Detail geklärt wurde. Frage 10 Leute und du bekommst 20 Definitionen.
Von daher halte ich diese Frage für überflüssig.
Kultur kann schön sein und zusammenbringen. Jedoch sollte man sich schon mit der Welt mitdrehen. Ich finde es wichtig nicht ständig an alten Traditionen festzuhalten, sondern offen für Neues zu sein.
Auf die Leitkultutur kann man verzichten, aber dann unterwirft man sich dem Islam, der dann definieren wird, was Vernunft sein soll.