Was ist eine mögliche Deutungshypothese für das Gedicht „Wenn alle untreu werden“ von Novalis?
Geistliche Lieder. VI.
(Novalis)[5]
Wenn alle untreu werden,
So bleib’ ich dir doch treu;
Daß Dankbarkeit auf Erden
Nicht ausgestorben sey.
Für mich umfing dich Leiden,
Vergingst für mich in Schmerz;
Drum geb’ ich dir mit Freuden
Auf ewig dieses Herz.
Oft muß ich bitter weinen,
Daß du gestorben bist,
Und mancher von den Deinen
Dich lebenslang vergißt.
Von Liebe nur durchdrungen
Hast du so viel gethan,
Und doch bist du verklungen,
Und keiner denkt daran.
Du stehst voll treuer Liebe
Noch immer jedem bey,
Und wenn dir keiner bliebe,
So bleibst du dennoch treu;
Die treuste Liebe sieget,
Am Ende fühlt man sie,
Weint bitterlich und schmieget
Sich kindlich an dein Knie.
Ich habe dich empfunden,
O! lasse nicht von mir;
Laß innig mich verbunden
Auf ewig seyn mit dir.
Einst schauen meine Brüder
Auch wieder himmelwärts,
Und sinken liebend nieder,
Und fallen dir ans Herz.
3 Antworten
Man kann der Kritik, zu solch einem Gedicht eine Deutungshypothese verfassen zu müssen, durchaus zustimmen. Das ändert aber nichts daran, dass so ein Gedicht einen herausfordert, ihm eine Aussage zu entnehmen, die einem selbst vielleicht auch etwas bedeutet. Und das Bemühen darum beginnt immer mit einem ersten Schritt, der bei einem guten Gedicht dann weiter entwickelt werden muss, weil man es gar nicht auf den ersten Blick sofort komplett in seiner Bedeutung erfasst.
spannend wird es, wenn man darüber nachdenkt, dass dieses Gedicht als Bestandteil der geistlichen Lieder sich zunächst einmal wohl auf das Zentrum des christlichen Glaubens, nämlich Jesus als den Heiland, bezieht. Es ist aber wohl mehr als ein produktiver Irrtum, wenn man dieses Gedicht auch als ein Liebes Gedicht versteht und zwar an einen geliebten Menschen, der einem zur Unzeit weg gestorben ist und nun fehlt, den man aber auf eine ganz besondere Art und Weise für sich wieder zum Leben erweckt.
Hierzu gibt es auch ein Video:
https://www.einfach-gezeigt.de/novalis-wenn-alle-untreu-werden
Auf der folgenden Seite wird es näher ausgeführt und es wird sogar eine Verbindung zum Konzept der Romantisierung hergestellt.
https://www.einfach-gezeigt.de/novalis-wenn-alle-untreu-werden
Das ist ein Gedicht so angefüllt mit Gefühlen der Liebe, Dankbarkeit und unendlicher Trauer über den Tod einer über alles geliebten Frau, die auch dieser Liebe offenbar wert gewesen ist, dass ich mich scheue, in diesem Kontext von einer "Deutungshypothese" zu sprechen. Das ist kein Gedicht für die philologische Deutung, sondern ein Gedicht, dessen Innigkeit so offen und klar zu Tage liegt, dass es sich jeder "Deutung" entzieht. Du solltest dich schlichtweg weigern, ein derartiges Dichtwerk "deutungshypothetisch" zu beschreiben. Man kann hier nur die Gefühlswelt beschreiben, die solche Verse hervorbringen ließ. Dein Deutschlehrer, der dir vermutlich diese Aufgabe gestellt hat, scheint mir ein Literaturtheoretiker zu sein, dem die Tiefe der Empfindungen, die dieses Gedicht ausstrahlt, vielleicht entgangen ist oder der sie nicht aufnehmen kann.
Bei diesem Gedicht hatten wir doch das Problem, dass man zunächst glaubt, dass es ein liebes Gedicht ist, bis man dann feststellt, dass es sich wohl eher um ein religiöses Gedicht handelt. Hier hat man genau verschiedene Deutungshypothesen, die man gegeneinander abwägen muss.