Warum wird aus edere manchmal esse/es/est?

3 Antworten

Edere ist hinterhältig, denn hinter diesen 5 Buchstaben verstecken sich zwei völlig verschiedene Vokabeln:

1) edere, edo, ēdi, ēsum = essen

2) ēdere, ēdo, edidi, editum = herausgeben

Da die untere Vokabel sehr viel häufiger vorkam, "musste" sich - so schätze ich - die obere Vokabel eine Niesche suchen, um nicht ständig verwechselt zu werden. Und so entwickelte sich, wie ich vermute, die obere Vokabel zu einem unregelmäßig konjugierten Verb. Dabei konnte eine Verwechslung mit esse ausgeschlossen werden, weil dessen Anfangs-E grundsätzlich immer kurz ist, während das Anfangs-E von den verkürzten edere-Formen grundsätzlich immer lang gesprochen wird.

Hilft dir das weiter?

Von Experten Willy1729 und Miraculix84 bestätigt

Du hast bereits zwei Antworten bekommen, die Dir erklären, wie sich ĕdĕre in seinen Formen verhält — schnell gesagt gibt es ein paar verkürzte Formen (ēsse, ēs, ēst, ēstis auch Konj. Impf. ēssem etc), die sich nur im langen Vokal von denen des Hilfverbs ĕsse unter­scheiden, sowie einen Konjunktiv Präsens auf -i-, nämlich ĕdim, …. Die eigent­lich erwarteten langen Formen tauchen erst in der späteren Kaiserzeit auf.

Stellt sich nur mehr die Frage, warum das so ist.

Wenn Du ein bißchen nachdenkst, wird Dir ein anderes Verb in den Sinn kommen: velle, vis, vult, vultis, vellem, … hat genau dasselbe Muster von Kurzformen, und eben­falls einen Kon­junktiv auf -i-, nämlich velim, …. Auch im Griechischen zeigt das ent­spre­­chen­de ἔδω édō ‘ich esse’ ein paar kleine Unregelmäßigkeiten: Es kommt vor al­lem im Prä­sens vor und nimmt in den Singularformen des Konjunktiv ungewöhnliche, sehr al­ter­tüm­­liche En­dun­gen (z.B. ἔδῃσθα édēⱼstha ‘du essest’ statt wie erwartet ἔδῃς édēⱼs). Das Verb starb bereits früh und ist in der klassischen Epoche sehr selten.

All das ist konsistent damit, daß das Wort ursprünglich, also im Indogermanischen, in eine andere Konjugationsklasse fiel, nämlich in die athematische. Diese Verben ver­wen­­den keine Bindevokale; die rekonstruierten indogermanischen Formen lauten da­her *h₁édmi, *h₁édsi, *h₁édˢti, *h₁dmós, *h₁dˢté, *h₁dénti oder wenn Du ein Anhänger des Narten-Präsens bist *h₁ḗdmi, *h₁ḗdsi, *h₁ḗdˢti, *h₁édmos, *h₁édˢte, *h₁édn̥ti.

Diese Klasse wurde im Lateinischen fast völlig ab­ge­schafft; ĕsse ist das einzige voll­wer­ti­ge Beispiel, sonst gibt es nur noch vĕlle und sei­ne Ver­wand­ten, ire und (umstrit­ten) fĕrre, sowie kleine Relikte bei dăre (fast nur sicht­bar in der Kür­ze des Stamm­vokals). Alle anderen Verben aus dieser Klasse, z.B. stāre, wur­den im La­tei­ni­­schen voll­­kom­men regularisiert.

Die Kurzformen sind also nicht nachträglich gekürzt worden, sondern genau so aus der Vorläufersprache ererbt; die Langformen sind jünger und wurden in Analogie zu den anderen Verben nachgebildet. Formen wie edam für den Konjunktiv gibt es erst seit der Kaiserzeit, und die meisten davon (edit, edĕrem, edĕre) tauchen erst im 2. und 3. Jhd. n.Chr. auf; das war dann die letzte Stufe der Regularisierung.

Letztlich hat dem Verb aber alle Regularisierung nichts geholfen, es ist nämlich in allen ro­ma­ni­schen Sprachen ausgestorben und bestenfalls als Kompositum erhalten (port. como ‘ich esse’, Inf. comercomĕdo, comēsse), das dann völlig regelmäßig kon­ju­giert wird

Lateinische Konjuktive auf -i- sind übrigens indogermanische Optative, die im Latei­ni­schen fast völlig ausgestorben sind und nur in ein paar ursprünglich athematischen Ver­ben erhalten blieben: sim, velim, edim, duim (letzteres ist im klassischen Latein sel­­ten und im wesentlichen auf Wünsche oder Flüche beschränkt: di te perduint ‘mö­gen die Göt­ter dich verderben’).

Natürlich stammt auch Deutsch essen von derselben indogermanischen Wurzel *h₁ed- ab, aber es hat seinen athematischen Charakter längst verloren und ist ein nor­ma­les star­kes Verb der Klasse V geworden.

Woher ich das weiß:Hobby – Angelesenes Wissen über Sprach­geschich­te und Grammatik

Miraculix84  08.05.2022, 05:21

Herausragend!

Hast du eine Literaturempfehlung für mich, mit deren Hilfe ich mir diese Hintergründe auch anlesen kann?

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indiachinacook  08.05.2022, 13:58
@Miraculix84

Meine Geheimwaffe ist: Michael Weiss, Outline of the Historical and Comparative Grammar of Latin, Beeche Stave Press, 2009.

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Von Experte indiachinacook bestätigt

Hallo,

deswegen steht über dem e bei est ein Strich, der andeutet, daß das e lang ist im Gegensatz zum e von est in der Bedeutung er/ sie/ es ist.

Est mit langem e ist eine Kurzform von edit, er/ sie /es ißt.

Es gibt auch noch die Kurzform zu editis, ihr eßt, nämlich estis.

Herzliche Grüße,

Willy