Warum sagt man oft, dass die soziale Herkunft über die Zukunft eines Menschen entscheidet?

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51 Antworten

Warum lese und höre ich oft davon, dass in Deutschland keine Chancengleichheit herrscht?

Es entspricht den Tatsachen. Dich als Argument dagegen zu verwenden ist hoffentlich nicht dein ernst. Wenn du Medizin studierst, solltest du irgendwann in deiner Ausbildung mal mitbekommen haben, warum.

Die selektive Wirkung unseres Schulsystems ist beispielsweise bewiesen und im europäischen Vergleich stehen wir diesbezüglich ziemlich schlecht da.

Gerade Schüler mit Migrationshintergrund bekommen z.B. nur selten eine Gymnasialempfehlung trotz passender Leistungen.

Schuld daran sind neben handfesten und gewollten (politisch forcierten) Selektionsmechanismen auch gesellschaftliche Aspekte. Auch hier zeichnet sich zunehmend ein Spalt ab, der zu großen Ängsten führt. Man hat Angst den Sprung auf die andere Seite nicht zu schaffen. Dass die Gesellschaft eine solche Spaltung in zwei Seiten zulässt ist ein Problem.

In Deutschland erleben wir ähnliches wie in den USA aber auch anderen europäischen Staaten. Das Kapital konzentriert sich stark zunehmend und einflussreiche Positionen werden immer unzugänglicher von außen. Macht wird vererbt. Auch für diese Kapital- und Machtkonzentration gibt es genügend Belege.

Ich finde es schade, wenn einem der eigene Erfolg so in den Kopf steigt. Natürlich ist vieles möglich - aber ist in Deutschland wirklich etwas gewonnen, wenn einige wenige die gesellschaftliche Spaltung überwinden? Für mich ist mein persönlicher Erfolg kein Grund den Tatsachen nicht mehr ins Auge zu blicken. Die Vorstellung eine gute Position innerhalb einer selektiven, elitären Gesellschaft einzunehmen hat für mich keinerlei Reiz. Was mich reizt, ist das gute Gefühl in einer offenen Gesellschaft zu leben, in der nicht nur ganz bestimmte, selektive Fähigkeiten Anerkennung erfahren und in der es mehr Menschen gibt, die es innerhalb der Gesellschaft schaffen, den für sie und für die Gemeinschaft besten Platz einzunehmen. Davon sind wir weit entfernt.


Bswss  23.04.2014, 18:59

Genau DIESE Position ist die der linksliberalen Mainstreampresse, wobei Du allerdings noch einen Schuss Antiamaerikanismus und Salonkommunismus hinzufühlst.

Usnber Schulsystem ist längst nicht mehr selektiv - heute erreichen doch in manchen Gebieten (v.a. Berlin) 70% mühelos das (völlig entwertete) Abitur.

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Gegengift  26.04.2014, 20:20
@Bswss
Usnber Schulsystem ist längst nicht mehr selektiv - heute erreichen doch in manchen Gebieten (v.a. Berlin) 70% mühelos das (völlig entwertete) Abitur.

Doch. Und wenn du das Gegenteil behauptest, dann erkläre doch, was an den Studien falsch ist, die alle zu diesem Ergebnis kommen im internationalen Vergleich.

doch in manchen Gebieten (v.a. Berlin) 70% mühelos das (völlig entwertete) Abitur.

Auf eine Quelle für diese Zahl dürfen wir wohl vergebens hoffen...

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Snowgirlice  19.04.2014, 19:01

Lustig was du als Tatsachen empfindest. Komisch dass bei mir in der Abi-Stufe so viele sind, die Migrationshintergrund haben, deren Eltern geschieden sind oder geringstes Einkommen haben. Bei einigen auch alles davon. Diejenigen von ihnen, die schleche Noten haben (wenige!) sind schlicht faul. Auch das gibt es.

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Gegengift  19.04.2014, 23:38
@Snowgirlice
Komisch dass bei mir in der Abi-Stufe so viele sind, die Migrationshintergrund haben, deren Eltern geschieden sind oder geringstes Einkommen haben. Bei einigen auch alles davon.

Lustig was du als Tatsachen empfindest. Bzw. was du meinst, was Relevanz hat. Aus meiner Sicht macht es wenig Sinn seine unmittelbare Umgebung zu analysieren, um dann Schlüsse auf die Gesamtsituation zu ziehen.

Ich mache genau die gegenteilige Erfahrung. Ich sehe eben viele Einzelschicksale und Personen, wo genau dieser selektive Prozess voll durchgreift.

Aber für die Bewertung der Gesamtsituationen sollte man sich hingegen die internationalen Vergleiche ansehen.

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issle  20.04.2014, 17:05
@Snowgirlice

Warum lese und höre ich oft davon, dass in Deutschland keine Chancengleichheit herrscht?

ich schließe mich hier gegengift an: es gibt doch zugenüge studien, die eben das zeigen (ganz berühmt: PISA ^^ http://de.wikipedia.org/wiki/Auswertung_der_PISA-Studien:_Einfluss_des_sozialen_Hintergrunds#Soziale_Herkunft_und_Bildungsbeteiligung). vielleicht sind die ergebnisse der iglu studie diesbezüglich sogar noch deutlicher formuliert wikipedia [2 links gelten als spam xD] .org/wiki/IGLU-Studie#Soziale_Selektion

hier die grobe zusammenfassung:

  • Lehrer empfehlen Kinder aus der obersten Schicht bereits mit 537 Punkten zum Gymnasium; Kinder un- und angelernter Arbeiter müssen hierfür aber 614 Punkte erreichen

  • Eltern aus dieser obersten Dienstklasse (Großunternehmer, höhere Verwaltung ...) sehen ihre Kinder bereits gymnasialtauglich, wenn sie nur 498 Punkte erreichen; Arbeiter möchten ihre Kinder erst dann aufs Gymnasium schicken, wenn sie 606 Punkte erreichen.

  • Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil sind es nicht in erster Linie Arbeiter, die ihre Kinder nicht aufs Gymnasium schicken möchten (bereits bei 606 Punkten), sondern Lehrer (erst ab 614 Punkten).

  • Während bei allen Kindern die erforderliche Punktzahl für eine Gymnasialempfehlung gesunken ist, stieg sie bei Kindern aus der untersten Schicht. Dabei ist zu beachten, dass die Hürde für einen Gymnasialübergang von Lehrern gegenüber Kindern aus der unteren Schicht stärker angestiegen ist als bei den un- und angelernten Arbeitern. Dramatisch gesunken ist die Hürde für Kinder aus der höchsten Herkunftsgruppe, sowohl bei den Lehrern, aber noch viel stärker bei den Eltern.

  • Akademiker setzen sich gegenüber Lehrern besser durch als Arbeiter, wenn sie ihre Kinder aufs Gymnasium schicken wollen.

  • fazit: Während also Kinder aus der oberen Schicht für den Wechsel zum Gymnasium lediglich die Kompetenzstufe III ("Relevante Einzelheiten im Text auffinden und miteinander in Beziehung setzen") erreichen müssen, benötigen Kinder aus der untersten Schicht die höchste Kompetenzstufe (Kompetenzstufe V: "Abstrahieren, Verallgemeinern und Präferenz begründen") für dieselbe Gymnasialempfehlung.

dann kann ich hier noch gerne crysaetos' aussage aufgreifen:

Übrigens, jede Gleichheit, die alle Menschen gleich behandelt, ist eine Ungleichheit.

stichwort "institutionelle diskriminierung": kann man von chancengleichheit sprechen, wenn an eine person mit sprachlichen defiziten (z.b. wegen migrationshintergrund) die gleichen sprachlichen leistungsanforderungen gestellt werden, wie an einen native speaker? der native speaker hat hier doch von vornherein bessere chancen die leistungsanforderungen zu erfüllen. ist das chancengleichheit?

dabei fehlt jegliche wertschätzung der tatsache, dass der migrant mehrsprachig ist. er kennt ja im prinzip min. 2 sprachen, im gegensatz zum native speaker. und dennoch bekommt der native speaker die bessere leistungsbewertung? der migrant vermag doch sprachlich vielmehr zu leisten: er kann sich in zwei sprache ausdrücken, wenn auch in min. einer nicht ganz perfekt.

vllt wären hier ein paar schriften von ingrid gogolin zu empfehlen.

und @Snowgirlice:

Lustig was du als Tatsachen empfindest. Komisch dass bei mir in der Abi-Stufe so viele sind, die Migrationshintergrund haben, deren Eltern geschieden sind oder geringstes Einkommen haben. Bei einigen auch alles davon. Diejenigen von ihnen, die schleche Noten haben (wenige!) sind schlicht faul. Auch das gibt es.

das, was du hier schilderst ist leider gottes keine "wissenschaftliche" tatsache. während sich gegengift wohl auf studien beruft ( = "wissenschaftliche tatsachen"). das was du hier machst, ist eine heuristische schlussfolgerung. wiki hierzu:

Heuristische Verfahren basieren auf Erfahrungen; sie können auch auf "falschen" Erfahrungen (z. B. verzerrte Wahrnehmung, Scheinkorrelation) basieren.

um genau zu sein, ist das, was du nutzt, der verfügbarkeitsheurismus. wiki:

Die Verfügbarkeitsheuristik wird, oft unbewusst, eingesetzt, wenn die Wichtigkeit oder Häufigkeit (resp. Wahrscheinlichkeit) eines Ereignisses beurteilt werden muss, aber gleichzeitig die Zeit, die Möglichkeit oder der Wille fehlt, um auf präzise (z. B. statistische) Daten zurückzugreifen. In solchen Fällen wird das Urteil stattdessen davon beeinflusst, wie verfügbar dieses Ereignis oder Beispiele ähnlicher Ereignisse im Gedächtnis sind. Ereignisse, an die wir uns sehr leicht erinnern, scheinen uns daher wahrscheinlicher zu sein als Ereignisse, an die wir uns nur schwer erinnern können.

kurz: "wenn ich viele solche migranten kenne, dann trifft das wahrscheinlich auf die meisten migranten zu" (stichwort: verfügbarkeitsfehler). die statistik sagt nun mal was anderes...

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Hallo, wenn man in einer Familie aufwächst, in der Bildung nicht so die große Rolle spielt, kann es sein, dass man in das gleiche Schema verfällt, also die Meinung der Eltern über Lebensabschnitte selber für richtig hält. Es ist für Kinder sehr schwer zu merken, was falsch ist und was richtig, wenn sie eine bestimmte Auffassung immer eingetrichtert bekommen. Das schaffen nur Leute, die sich wirklich Gedanken machen, ihr Leben zu ändern.

Es ist möglich, auch durch schlechtes Umfeld und schlechte Eltern, seine Lebenseinstellung zu verändern (zb. Kind wird geschlagen, jedoch weiß es, dass dies falsch ist und erzieht sein Kind gewaltlos), es ist eben sehr schwer und für nicht weitdenkende Menschen fast unmöglich.


issle  20.04.2014, 17:46

wenn man in einer Familie aufwächst, in der Bildung nicht so die große Rolle spielt

das ist ein vorurteil ^^ - sorry, wenn ich das so direkt sage, aber studien zeigen nunmal, dass migranten hohe bildungsaspirationen haben und sich (mindestens) ein abitur für ihre kinder wünschen.

Bezüglich der Bildungsanstrengungen von Sozialhilfeempfängern kommen eine Langzeitstudie der Arbeiterwohlfahrt und eine Studie im Auftrag der Stadt Nürnberg zu konkreteren Ergebnissen der Bildungsaspiration armer Eltern: In 93 Prozent der befragten Familien verzichten die Sozialhilfeempfänger selbst auf genauso viel oder auf mehr als ihre Kinder. Am seltensten sparten die Befragten an Lebensmitteln und Anschaffungen für die Schule. Die Mehrheit verzichte dafür meist auf Urlaub und gibt nur selten Geld für die Wohnungseinrichtung aus. „Besonders auffallend“ war dem Wissenschaftler zufolge der ausgeprägte Wunsch der Eltern nach „möglichst hoher schulischer Bildung für ihre Kinder“[12]. Die AWO-ISS-Längschnittstudie „Kinderarmut“ kommt zu dem Ergebnis, dass Eltern in Armut die Unterstützung ihrer Kinder wichtig sei, dass allerdings oftmals die Zugänge zu sozialer Hilfe blockiert seien. (quelle:http://de.wikipedia.org/wiki/BildungsbenachteiligunginderBundesrepublikDeutschland)

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Weil "man"(wer ist das denn bitte?) die Dinge gerne etwas überspitzt ausdrückt. Fakt ist nämlich: Es gibt tatsächlich keine Chancengleichheit.

Du bist mit deiner Geschichte leider eine Ausnahme. Die meisten Kinder aus sozial schwächeren Familien schaffen es, unabhängig von ihrer persönlichen Leistung, ihrem Fleiß oder ihrer Begabung, nicht so weit wie du.

Die Gründe dafür sind vielfältig: Benachteiligung bei der Benotung(besonders bei "Kopfnoten") aufgrund eines- häufig unbewussten- Klassismus der Lehrkräften(oder auch aufgrund von häufig unbewusster Ausländerfeindlichkeit), die mangelnde Förderung durch das Elternhaus, fehlende finanzielle Möglichkeit etc.

Das führt eben dazu, dass der deutschstämmige Sohn eines Arztes weit bessere Chancen hat als der eines türkischstämmigen Arbeitslosen.

Du bist das beste Beispiel dafür, dass es nicht so kommen MUSS. Tendenziell kann man das viell. pauschalisieren, aber Ausnahmen bestätigen die Regel, sagt man ja so schön. Denn wenn es ausnahmslos so ist, wie gesagt wird, dann würden auch alle Akademikerkinder selbst Akademiker werden. Das ist aber überhaupt nicht so, im Gegenteil sieht und hört man oft (selbst erlebt), dass diese Kinder genau das Gegeteil von dem machen, was sie an den Eltern gesehen haben: Schulabbrecher, arbeitslos etc.

Nichts muss, aber alles kann. Letztlich hängt sehr viel davon ab, wie die eigene Einstellung zum leben ist. Ist doch super, dass du es geschafft hast! Sei stolz!

Also erst mal meinen Glückwunsch zum Einser-Abitur und deinem Studienplatz!

Aber du musst auch sehen, dass du da mit deinem familiären Hintergrund ziemlich allein auf weiter Flur stehst, denn bei vielen Grundschülern mit Migrationshintergrund kommt es oftmals selbst bei sehr guten Leistungen nachweisbar gar nicht zu einer Gymnasialempfehlung, und noch weniger trauen sich deren Eltern sich über eine niedrigere Empfehlung hinwegzusetzen. Vielleicht hast du einfach das Glück gehabt von Anfang an Lehrern zu begegnen, die dein Potential sowohl erkannt als auch gefördert haben.


janfred1401  18.04.2014, 15:57

Man kann seine sozale Herkunft auch als Alibi nutzen, wenn man keinen Bock auf Lernen hat. Ich kenne genug Gastarbeiterkinder die es zu etwas begracht haben.

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Dummie42  18.04.2014, 15:59
@janfred1401

Die gibt es selbstverständlich auch und leider nicht zu knapp. Aber normalerweise noch nicht im Grundschulalter, sondern erst ab der Pubertät.

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