War das Leben früher einfacher?

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Die Schreibmaschine braucht ein neues Farbband.

Sie haben die Videokassette nicht zurückgespult? Dass kostet drei Mark Strafe.

Verdammt, Bandsalat. Wo ist denn der Bleistift?

Leg endlich auf, ich erwarte einen Anruf.

Mist, nur noch 3 Bilder auf dem Film.

Deine Telefonnummer kenne ich auswendig.

Und wer steht jetzt auf und wechselt den Fernsehsender?

Nein, wir können den Radiosender jetzt nicht wechseln, ich nehme gerade ein Lied auf.

Guten Morgen JaquesSchabrack, Guten Morgen liebe Community,

gerade gestern bekam ich ein Video auf mein Smartphone gesendet, mit dem Titel "Kannst du dich noch erinnern, als du ein Kind warst?" Und jeder dieser Gegenstände hat mich in meine Kindheit/Jugend zurückgesetzt. Erinnerungen kamen hoch, meistens sehr positiv und auch ein klein wenig wehmütig. Also eine optimale Frage heute für mich.

Einfacher war das Leben mit Sicherheit nicht, aber wir waren einfach nur glückliche Kinder, die mit dem was sie hatten, einfach zufrieden waren. Die Sorgen, die unsere Eltern und Großeltern in der Zeit hatten, bekamen wir so nicht mit.

Kleidung und Schuhe spielten noch keine große Rolle, im Sommer liefen wir barfuß und trugen zum Spielen eine kleine Lederhose. Sonst sollte die Kleidung praktisch sein und im Winter warm halten. Dass änderte sich erst, als ich einer anderen Kreisstadt als Jugendliche in eine weiterführende Schule gegangen bin. Wir Landkinder waren gänzlich anders gekleidet. Ich habe dann ab dem 13. Lebensjahr bis zum 18. Lebensjahr in den Ferien und den Wochenenden gearbeitet, um mir auch die moderne Markenkleidung kaufen zu können.

Ich war nach der Ausbildung in der Abteilung Kundenbetreuung für die Inlandkunden. Wir arbeiteten mit Karteikarten, das Ablagesystem war in großen, offenen Kästen, jeder Kunde hatte eine Mappe mit Kundennummer und ein Mädchen war nur dazu eingestellt, alle Vorgänge abzulegen. Unser Computer hatte zwei Programme, lach. Ansonsten arbeiteten wir mit den Katalogen, änderten die akutellen Beiblätter für neue Kollektionen. Wenn es um Lieferanmahnungen ging, musste man in die Versandabteilung und wir suchten gemeinsam nach vielleicht doch verfügbaren Modellen. Wenn etwas mit der Buchhaltung zu klären war, griff man ans Telefon oder ging in das Gebäude, in dem die Abteilung untergebracht war.Die Aufträge wurden mit der Hand auf das entsprechende Formular notiert.

Es gab noch ein Telefax, dort musste man den Text schreiben, automatisch lief ein Lochband mit. Dieses musste man einlegen und die Telefonnummer wählen, ganz toll, wenn man ins Ausland, besonders der Schwellenländer versucht hat, durchzukommen.

Es gab noch die Telefonvermittlung, um sich vom Fräulein an der Rezeption verbinden zu lassen oder Gespräche entgegen zu nehmen.

Wir mussten auch viel mit anderen Abteilungen telefonieren, da gab es dann die berühmten Gesprächsnotizblöcke Din 5.

Später kam das Internet, die vielen neuen Programme, um das Arbeiten zu erleichtern, die Emails, das Scannen, das interne Intranet, Konferenzräume, sämtliche Abteilungen und viele geschäftliche Begriffe wurden anglisiert.

Wir bekamen eine neue Abteilung PCO, wir mussten erst einmal im Internet nachsehen. Personal Controlling Organisation. Auf einmal war wir keine Mitarbeiter, sondern Kostenstellen.

Betriebsstrukturen wurden verändert - effizienter - aber weniger menschlich.

Vorher war es anders, wenn man in eine Abteilung ging, hat man sich natürlich auch ein wenig unterhalten, man telefonierte häufig. Man kannte sich, wusste von privaten Problemen oder Glück.

Je konstruktiver und mit technischem Hightech, umso weniger Kontakt hatte man mit den Menschen. Immer mehr Schulungen, um mit den technischen Erneuerungen mithalten zu können.

Es gab, was aber sehr positiv war, Sprachschulungen in vielen Sprachen, die gerade für unsere Exportmitarbeiter sehr wichtig waren. Seminare, um Wissen zu vertiefen, Neuerungen kennen zu lernen.

Aber die alte Zeit vermisse ich trotzdem, gerade den persönlichen Kontakt.

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"Dieser Moment, wenn du alte Lieder hörst, die dich an die guten alten Zeiten erinnern - unbezahlbar."

Und die Sätze, die als Einleitung geschrieben wurden, sind jetzt bereits Nostalgie.

Jetzt wünsche ich euch einen schönen Samstag.

Herzliche Grüße RM

 - (Menschen, Leben, Gesellschaft)  - (Menschen, Leben, Gesellschaft)

IQDimma  25.04.2020, 11:46

Perfekt beschrieben---10 Sterne dafür.....

8
RMRADSE  25.04.2020, 11:51
@IQDimma

Danke dir, wie prägend war doch diese Zeit - und wie schnelllebig ist sie jetzt.

LG

4
Lazarius  25.04.2020, 12:01

Meine liebe Freundin RM,

jeder von uns hat diese Zeit in seiner eigenen kleinen Welt anders erlebt. Du hast uns an deiner Welt teilhaben lassen. Vielen Dank für diese hervorragende Antwort.

Herzliche und liebe Grüße dein W.

7
RMRADSE  25.04.2020, 12:25
@Lazarius

Mein lieber Freund Lazarius, vielen Dank für den anerkennenden Kommentar.

Ich wollte eben die alte Arbeitswelt den Usern, die diese Zeit nicht miterlebt haben, näher bringen.

Herzliche Grüße von deiner RM

4
Lazarius  25.04.2020, 12:39
@RMRADSE

Das hast du sehr gut gemacht. Meine Enkelkinder interessieren sich sehr für diese Zeit. Wenn man mit ihnen darüber spricht, entsteht für mich oftmals der Eindruck, das wir über das Mittelalter sprechen ;-)) Herzliche Grüße von deinem W.

4
Amorette  25.04.2020, 13:17

Herzlichen Dank so habe ich es auch empfunden.LG

6
RMRADSE  25.04.2020, 13:27
@Amorette

Wir haben eben schon Zeitgeschichte erlebt.

Herzliche Grüße an dich lieber Amorette.

5
JaquesSchabrack 
Beitragsersteller
 25.04.2020, 16:28
 Und jeder dieser Gegenstände hat mich in meine Kindheit/Jugend zurückgesetzt. 

Geht mir genauso. Danke dafür! :)

7
RMRADSE  25.04.2020, 17:13
@JaquesSchabrack

Gerne, ich hatte gestern das Video weitergeleitet und wir schwelgten in Erinnerungen. Hat Spaß gemacht. : ) LG

5
Spielwiesen  25.04.2020, 16:35

Nach deiner schönen umfassenden Antwort, liebe D., muss ich schon sehr überlegen, was mir überhaupt noch schreiben bleibt. Schließlich hat sich das alles bei mir so ähnlich abgespielt und ich erinnere mich gut an diese Zeiten - aber nicht immer nur positiv. Mal sehen, auf welchen Nenner ich komme! LG und ein schönes Wochenende!

6
RMRADSE  25.04.2020, 17:24
@Spielwiesen

Danke liebe Spielwiesen,

dass nenne ich aber einmal ein Kompliment. : )

Herzliche Grüße deine RM

6
Spielwiesen  25.04.2020, 18:05
@RMRADSE

Nun, ich bewundere natürlich besonders, wie ansprechend du alles formuliert und präsentiert hast. Du weißt doch und wir wissen: darin bist du eine Meisterin! :-) LG

4
RMRADSE  25.04.2020, 20:06
@Spielwiesen

Danke liebe Spielwiesen und dass aus so berufenen Mund, über dieses Kompliment freue ich mich wirklich sehr. Ich schreibe einfach nach Gefühl.

Ganz liebe Grüße, deine RM

4
RMRADSE  26.04.2020, 11:43

Vielen Dank Jaques für deinen Stern, wir sind halt Nostalgiker : )

Liebe Grüße und einen schönen Sonntag

1

Ja, definitiv!

Es war gefährlicher, unkalkulierbarer und weniger kontrolliert, es wurde mehr gestorben und das auch öffentlicher, man wurde krank und unsere Alten und Schwerstkranken durften in Würde sterben.

Aber wir waren unbeschwerter und glücklicher.

Natürlich gab es auch Ängste und Sorgen, aber die wurden nicht schon im Vorfeld "begrübelt", sondern erst wenn sie auftraten.

Die Erwachsenen waren sich der Gefahren des Lebens bewusst, hatten sie doch einen- oder sogar schon zwei- Weltkrieg/e überlebt. Da waren Masern, Diphterie, Scharlach genauso gefährlich wie heute, aber man machte sich erst einen Kopf, wenn es wirklich gefährlich wurde und nicht schon vorher.

Ich hatte als Kind auch die Masern, und das einzige, an das ich mich erinnern kann ist, dass ich die Fieberträume geliebt habe. Jede Kinderkrankheit hat und stärker gemacht.Es gab noch soetwas wie eine "natürliche Auslese", es wurden keine Kinder/Alten auf Druck und Zwang durch Krankheiten gequält, die Unheilbar irgendwann zu Tode führten- und das im Namen einer Mitleidsmenschlichkeit. Nein, das Leiden wurde nicht verlängert, damit Eltern den Tod ihres Kindes nicht ansehen müssen. Heute quälen sich Kinder oft jahrelang, bis sie endlich gehen dürfen. Alte genauso. Ja, ich finde es tatsächlich besser, manche Menschen sterben zu lassen, anstatt ihr Leben künstlich (aber für den Betroffenen qualvoll) zu verlängern- einfach nur weil man es kann! Sterben war normal und gesellschaftlich anerkannt.

Wir haben damals nicht den Konsum zum Lebensinhalt auserkoren um ein sinnentleeretes Leben füllen zu müssen. DAS taten nur die (ganz) Reichen. Wir haben keine Produkte kaufen müssen, die wir ein paar Wochen später wieder wegwarfen, weil Medien und Industrie uns einreden, das sei ein "Musthave"- alleine das Wort ist schon abartig- sorry...

Oder Shopping- Einkaufen als Hobby- ist an sich schon pervers, weil es Resourcen verschwendet, die unseren Enkeln und Urenkeln einmal fehlen werden. Nur um das gekaufte kurze Zeit später wegzuwerfen- in einen nicht vorhandenen Recyclingkreislauf.

Mein Papa hat rostigen Draht aufgehoben, und neben zwei Rollen neuen gehängt- kann man ja noch gebrauchen. DAS ist Recycling- besser vermiedenes Recycling. Die Generation kannte noch Mangel- und dadurch auch Wertschätzung von Gütern.

Das "menschliche Leben" wird über alles gestellt- um jeden Preis- aber nur solange es sich um das Eigene handelt- die armen Wichte die im Mittelmeer ertrinken, weil es in ihrer Heimat nicht genug zu essen gibt (nicht zuletzt auf Grund westlicher Interventionen), was ist mit denen? An die denkt keiner.

Früher, die Generation konnt sich selbst noch daran erinnern, wie es war auf der Flucht zu sein. Viel kamen aus dem Osten, Sudetendeutsche, Schlesier usw., alles Deutschstämmige- die trotzdem, genauso wie die Flüchtlinge heute- erst ihren "Makel in zweiter oder dritter Generation loswurden.

Ja, in der Zeit gab es weniger Mitleid- aber dafür Mitgefühl!

Wir leben heute in einer künstlichen Welt mit künstlich erzeugten Bedürfnissen. Wissen nicht mehr was Lebensmittel wert sind, weil wir sie nicht selber produzieren und die damit einhergegangene Arbeit kennen. Genauso wie bei anderen Gütern.

Wie kann es angehen, dass Haushaltsgeräte unreparierbar, aber einem "Verfallsdatum" produziert werden, um einen Bedarf künstlich zu erhöhen? Diese ganze Verschwendung! Und wann merken wir endlich, dass wir mit unserem Verhalten den Ast absägen, auf dem wir sitzen?

Der Standart der Fünfziger-sechziger Jahre war ausreichend.

(Jetzt polemisiere ich nochmal ein paar Stufen höher ;-))

Ich denke, dass uns Corona noch ein paar Jahrzehnte auf Trab halten wird- die Pest wütete 20 Jahre und hat nur ein Drittel der Bevölkerung ausgelöscht, bis sie ihre Wucht verlor- und dass die Pharma es nicht schaffen wird ein wirksames Impfmittel zu entwickeln, weil das Virus zu schnell mutiert. Aber sie werden sich dumm und dämlich daran verdienen!

Ja es hat schon seinen Vorteil, wenn die Reproduktionszeit sehr kurz ist!

In jedem Massenbestand treten irgendwann Seuchen auf, egal ob Hühner, Rinder oder Schweine. Tja, und jetzt sind halt wir dran, wir sind ja auch nur Säugetieren, und ziemlich dumme obendrein- so what! Schulterzuck...


RMRADSE  25.04.2020, 17:19

Chapeau für diese Antwort, ich stimme dir absolut zu.

2

Hallo und einen schönen Samstagmorgen allesamt...

Einfacher war das Leben bestimmt nicht, dennoch nicht so hektisch wie heute.

In der Jugend unbeschwerter, bis der Arbeitsalltag anfing.

Man musste wesentlich länger arbeiten um sich etwas leisten zu können und sparte darauf, bis man sich das Eine oder Andere kaufen zu können.

Der Zusammenhalt untereinander war auch m.E. wesentlich besser als heute, da es mehr soziale Kontakte gab, als es heutzutage im digitalen Zeitalter ist.

Kommt halt auf jeden selber darauf an, was er/sie/es aus seinem Leben macht oder machen kann.

Habt´s einen schönen un sonnigen Samstag und bleibt oder werdet gesund.

LG vom chazzy13(-:

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 - (Menschen, Leben, Gesellschaft)

adianthum  25.04.2020, 12:54
Man musste wesentlich länger arbeiten um sich etwas leisten zu können und sparte darauf, bis man sich das Eine oder Andere kaufen zu können.

Und man hatte eine Wertvorstellung von dem was man sich erabeitet hatte und wertschätzte es. Wegwerfen? Nein, es wurde repariert!

7
chazzy13  25.04.2020, 13:00
@adianthum

Und man hatte eine Wertvorstellung von dem was man sich erabeitet hatte und wertschätzte es. Wegwerfen? Nein, es wurde repariert!

So isses...und wenn möglich, mache ich das heute genau so, weggeworfen dann nur, wenn unreparierbar.

VG chazzy13(-:

5
Amorette  25.04.2020, 13:18

Lieber chazzy auch Dir einen schönen, sonnigen Samstag. GLG Dieter

4
chazzy13  25.04.2020, 13:23
@Amorette

Servus, lieber Amorette...

Einen tollen Sonnensamstag wünsche ich Dir auch. GLG chazzy13(-:

4
JaquesSchabrack 
Beitragsersteller
 25.04.2020, 16:35
Man musste wesentlich länger arbeiten um sich etwas leisten zu können und sparte darauf, bis man sich das Eine oder Andere kaufen zu können.

Dafür hielt dann ein Fernseher mindestens 15 Jahre und ein Schlafzimmer tat locker ein Viertel Jahrhundert seinen Dienst. Heute zählt eher Quantität und weniger Qualität.

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chazzy13  25.04.2020, 17:18
@JaquesSchabrack Ja, leider ist das Vergangenheit... Kurz nach der Garantie weg damit, da die geplante Obsoleszenz ihren Dienst erfüllt und man muss neu kaufen...oder man lässt´s.
5
JaquesSchabrack 
Beitragsersteller
 25.04.2020, 17:32
@chazzy13

Obsoleszenz. Ein schöner Fachbegriff. Wir nannten das früher Pfusch oder Betrug. Aber Obsoleszenz klingt natürlich gleich viel besser. :D

5

Guten Tag!

Vor 30, 40, oder 50 Jahren war die Welt eine ganz andere. Aber war das Leben in ihr einfacher? Was denkt ihr darüber?

Wie es vor 40, 50 oder mehr Jahren war, kann ich nicht sagen.. meine ältesten Erinnerungen dürften ca. 27-28 Jahre alt sein. In meiner Kindheit habe ich schon relativ viel mitbekommen, über die 90er kann ich einiges sagen und soviel, dass es nicht durchweg einfacher war, aber oft gemütlicher.

Es zählten noch wichtigere Dinge als nur der Fun-Faktor, der Genuss und der Hedonismus und es gab die besonnene Kriegs- und Nachkriegsgeneration, die den Leuten durchaus mal auf den Finger klopfte, wenn es zu bunt wurde (solche hatten wir noch als Lehrer, mein Grundschullehrer wird dieses Jahr 80) - das Klima in der Gesellschaft war ganz anders, solange diese Leute noch Einfluss hatten und da ging viel Klasse und Anstand verloren, als diese Leute in Rente gingen und eine Generation kam, die schon in Sorglosigkeit und Überfluss groß geworden war. Eigentlich müsste ich das auch schon geworden sein, aber ich wuchs beim Opa auf - deswegen bin ich vielleicht in vielem etwas "älter". Ist nicht immer gut, aber nicht immer schlecht, man muss das Beste draus machen.

Ich persönlich vermisse im direkten Vergleich aus den 90ern am ehesten den relativ ruhigen Alltag und den Umstand, dass die Menschen sich eher treu blieben und nicht jeden Tag aufgrund "gesellschaftlicher Quasi-Diktate" meinten sich selbst und ihr Umfeld komplett neu erfinden zu müssen. Man konnte sich auf alles eher verlassen, der Alltag und das Leben in diesem waren insgesamt berechenbarer; es ging ruhiger zu.

Man sollte dennoch nicht die rosarote Brille aufsetzen: Damals war nicht alles besser.. es gab genügend Kriminalität, genauso Sexualdelikte, nur wurde das damals einmal pro Monat bei Eduard Zimmermann im "Aktenzeichen XY" gezeigt und nicht in jedem semi-seriösen Klatschblatt und TV-Magazin schamlos aufgewärmt als gäbe es kein Morgen mehr, weil es weniger Medien gab als heute.

https://www.youtube.com/watch?v=7sarfcf2CV4

Im Gegenteil ... die Kriminalitätsrate war damals höher, auch das Denunziantentum untereinander war sehr stark verbreitet und die Stimmung war eher feindseliger und verkrampfter als heute. Leute aus dem Nachbarhaus, die einen freundlich grüßten, verpfiffen einen anonym bei der "Neuen Heimat", weil man nach 20 Uhr geduscht hat oder die Kehrwoche nicht 120-prozentig ausgeführt wurde. Man machte sich gegenseitig hinterrücks klein ohne den Mumm zu haben, sich gegenseitig anzusprechen. Freundlicher war der Umgangston früher nicht sondern eher rauer. So habe ich das aus meiner Kindheit teilweise noch in Erinnerung, damals redete man oft nicht mit- sondern über- oder hintereinander.

Ansonsten gab es auch Konsumrausch und Konsumdenken, nur in geringerem Ausmaß. Ich kenne noch aus Mitte der 90er die Situation, wo man nicht am Ende der Welt wohnte und trotzdem 20-25 Kilometer zum nächsten Aldi auf sich zu nehmen hatte - es gab nicht überall ein großes Geschäft.

Es war vielleicht in den Dörfern ganz gemütlich, aber da ist es oft heute noch wie in den 90ern und in meinem Umfeld waren auch die 90er nicht einfach... ich erinnere mich an eine Situation ca. 1996, wo die ganze Gegend unsicher war und kein Kind aus dem Haus durfte, weil irgendwo ein Kinderschänder ein paar Kilometer weiter angeblich gesehen worden war wie er auf die Autobahn fuhr oder von der Autobahn runter ging - ich weiß bis heute nicht, ob das stimmte, aber es war schon heftig. Angst vor Fassadenkletterern, Einbrechern, Lug und Trug usw. gab es ebenfalls, aber das gab es schon weit vorher wahrscheinlich.

Auch in den 90ern war die Welt nicht so lässig und "in Ordnung", wie sie einem heute als "die guten alten Zeiten" zu sein scheinen ... in Sachen Verbrechen braucht man sich wie gesagt nur mal alte "Aktenzeichen XY" Folgen bei YouTube anzusehen (siehe oben), da gab es Räuberpistolen genug, außerdem gab es auch gesellschaftliche und politische Probleme zuhauf: Stichworte wären die Nachwendezeit mit Arbeitslosigkeit und VEB Abwicklung in den frühen 90ern, die letzten RAF-Attentate und Fremdenhass/aufkeimender Neonazismus! Das waren grob auch die Themen der "Tagesschau" mit Wilhelm Wieben am Mikro und die Themen, über die sich mein Opa am Abendbrot Sorgen machte oder über die in von ihm abonnierten "Spiegel" und "Focus" Heften ("Focus" ab 1993 ... Lesezirkel war Opas Passion) berichtet wurde. Mit Helmut Kohls Kabinetten war auch nicht jeder glücklich, spätestens ab 1990 und die Wahl 1994 hat seine CDU damals nur knapp gewonnen: Politische Unruhen gab es auch!

Hier ist mal eine "ZDF heute" Ausgabe von Oktober 1996, wahllos ausgesucht - Peter Hahne finde ich noch heute gut - und man merkt, es war allerhand los da draußen und viele betreiben halt heute nur eine Glorifizierung der Vergangenheit.

https://www.youtube.com/watch?v=xpVorDTeaCo

Die 80er und 90er sind nicht nur kultige Filme auf VHS Videokassetten von "Telerent" und BTX Bildschirmtext (hatte mein Opa damals) oder musikalische Klassiker, sondern auch durchaus eine Zeit mit ernsthaften Problemen. Klar, auch mir kommen sie irgendwie gemütlicher vor, aber der Zeitgeist war damals noch nicht so schnelllebig wie heute.. "besser" waren die 90er trotzdem nicht so wirklich, auch wenn sie sicherlich ihr gutes hatten und man sich dadran noch heute orientieren kann!

Ich sage mal, dass eine jede Zeit ihr Gutes hat. Gerade Medizin und Technik haben seit damals durchaus Fortschritte gemacht. Ich bin keiner, der jede Mode mitmacht, hatte lang kein Smartphone und fahre einen uralten Benz mit Kurbelfenstern ... aber einen MP3-Player und einen PC mit Internet sowie einen DVD Player habe ich auch, möchte darauf auch nicht verzichten. Man muss immer das richtige für sich entdecken!

Musikalisch: Wolfgang Herrmann fragt "Denkst du noch an früher?"

https://www.youtube.com/watch?v=hbBbwCBHH6E

Guten Morgen, lieber Jaques und in die Runde!

Ich schwärme selber gelegentlich von den "guten alten Zeiten", in denen wir jedes Jahr noch über 20.000 Verkehrstote hatten, in der ein Fahrradschlauch mindestens einmal im Monat geflickt werden musste und in denen ein Mann, der Sex mit einem anderen Mann hatte, dafür noch in den Knast kam - ein Hundertfünfundsiebziger.

Die Zeiten waren nicht besser, sie waren anders. Allerdings muss ich dazu sagen, dass ich meine Kindheit und Jugend in den Sechziger- und Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts verbracht habe, als so manche heutige Sorgen einfach noch nicht existent waren und es praktisch nur einen Weg gab: den nach vorn.

Der Glaube an die Zukunft war noch ungebrochen und selbst mit der täglichen Bedrohung durch "die Russen" kam man zurecht; die Amis haben uns ja beschützt und nebenher noch Kaugummis verteilt.

Wenn ich etwas von dieser guten alten Zeit vermisse, dann die Freiheit, die wir Kinder und Jugendliche hatten. Wenn es ging, waren wir draußen. Zuhause liefen wir nur Gefahr irgendwas im Haushalt mithelfen zu müssen. Unsere Eltern wussten abends meistens nicht, was wir an Abenteuern und Gefahren erlebt hatten, vielleicht wollten sie es auch gar nicht wissen.

Fernseher? Fehlanzeige - der erste kam ins Haus als ich etwa 10 Jahre alt war. Telefon? Fehlanzeige - erst ab 16. Auto? Fehlanzeige - meine Eltern hatten ihr erstes als ich bereits anfing auf den Führerschein zu sparen.

Irgendwohin gebracht werden, irgendwo abgeholt werden? Man hatte doch Füße und ein Fahrrad. Und man konnte trampen. Die Jungs zumindest.

Länger telefonieren? Im Telefonhäuschen mit einem Stapel Zehnerle. Zuhause war der FeTAp 611.2 abgesperrt. Wem diese Bezeichnung ein Rätsel ist, das war der Standard-Fernsprech-Tischapparat, wahlweise in mausgrau, grün und orange. Gelegentlich auch mit gehäkelter Haube verziert.

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Wenn ich mich jetzt nicht zusammenreiße, komme ich noch stundenlang ins Schwärmen.

Es gab aber nicht nur die schöne Freiheit. Es gab auch - gerade in der Kleinstadt - diese beengenden Zwänge. Das war nicht nur der sonntägliche Kirchgang um eine Zeit, die man nach einem verlängerten Samstagabend lieber im Bett verbracht hätte. Da war der allgegenwärtige Tratsch und das Mäulerzerreißen über alles, was nicht in die enge Vorstellungswelt der guten Kleinbürger passte. "Ach, die Dorothee, die geht doch jetz' mit an Neecher," für ein Mädchen meiner Altersgruppe, die sich einen farbige GI angelacht hatte.

Und dieses ewige ""was sollen bloß die Nachbarn von uns denken?", wenn du statt mit einer gutbürgerlichen Manchesterhose (mal sehen, wer den Begriff noch kennt) lieber mit einer Nietenhose, sprich: Jeans in die Öffentlichkeit gegangen wärst.

Langhaarige, Studenten, Leute, die eigene Vorstellungen über das Leben entwickeln wollten, waren höchst verdächtig und die Musik, die wir als Jugendliche liebten, war Lärm, Krach, Negermusik.

Noch heute hüte ich meine erste Schallplatte wie einen Augapfel: Abbey Road von den Beatles, die ich mir glatte sechs Jahre nach ihrem Erscheinen kaufte, sehr zum Missfallen meiner Eltern, die mehr auf Peter Alexander und Rudi Schuricke standen.

Nix zu sagen. Peter Alexander war tatsächlich ein sehr vielseitiger Künstler, dem ich auch zuhören oder zusehen konnte. Aber er war halt nicht der Fixpunkt meiner musischen Welt, zu der neben Rock und Beat auch Klassik und Jazz gehören.

Nein, das Leben war früher nicht einfacher, allenfalls überschaubarer. Es gab nicht gefühlte Zehntausend Telefontarife, sondern nur den einen bei der Bundespost: 27 Pfennige die Einheit.

Es war auch nicht besser. Es war nur anders.

Ich beneide keinen Jugendlichen, der heute aufwachsen muss. Aber das Aufwachsen war auch für mich kein Kinderspiel. Vielleicht mag ich deswegen die jungen Leute so gern, weil ich meine eigene Jugend noch nicht vergessen habe.

Kannst gern wieder mal so eine Frage stellen.

 - (Menschen, Leben, Gesellschaft)

RMRADSE  25.04.2020, 11:39

Auch dir ein großes Danke. LG

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Amorette  25.04.2020, 13:21

Vielen Dank für Deine Ausführungen und einen schönen Samstag. LG

6
Lazarius  25.04.2020, 14:29

Ich grüße dich, lieber Altersweise,

... Wenn ich etwas von dieser guten alten Zeit vermisse, dann die Freiheit, die wir Kinder und Jugendliche hatten. Wenn es ging, waren wir draußen ...

Wir wuchsen beide in verschiedenen Gesellschaftsformen auf, wie sie unterschiedlicher nicht sein hätten können. Aber eines hatten wir gemeinsam, wir waren »Draußen-Kinder« und nutzten jede Minute diese Freiheit zu genießen.

Mit sieben Jahren war ich mit meinen gleichaltrigen Freunden mit den Rädern z. B. in den Blaubeeren, wie wir es damals nannten und entfernten und dabei kilometerweit vom Elternhaus. Welche Eltern würden das heute noch erlauben? Nicht einmal der Regen konnte uns davon abhalten. Wir wussten immer etwas mit unserer Freizeit anzufangen und die Natur half uns dabei, dass es uns nie langweilig wurde.

... Vielleicht mag ich deswegen die jungen Leute so gern, weil ich meine eigene Jugend noch nicht vergessen habe ...

Die schöne Jugendzeit sollte man auch nicht vergessen. Und man sollte auch nicht vergessen das an die heutige Jugend weiterzugeben, wie wir damals unsere Freizeit verbrachten. Jugendliche wissen heute zum Teil gar nicht, dass es außer Handy, PC und Musik noch anderes gibt, mit dem man sich sehr kurzweilig beschäftigen kann.

Vielen Dank für eine Antwort voller Begeisterung und Rückblende in alte gute Zeiten.

Herzliche Grüße von Lazarius

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Altersweise  25.04.2020, 14:47
@Lazarius

Lieber Lazarius, da kann ich dir nur zustimmen. Ich weiß noch, wie ich mit Freunden draußen im Wald war und wir Indianer spielten. Als Tomahawk hatte ich mir kurzerhand ein Beil aus dem Hackstock mitgenommen, mit dem ich dann Zielwerfen auf Baumstämme übte, so wie das Karl May beschrieben hatte.

Ich kann mich auch nicht ums Verrecken dran erinnern, dass uns irgendein Mensch erklärt hätte, dass wir am Tag mindestens zwei Liter Wasser trinken müssten und uns die Hände waschen.

Wenn wir aus dem Spiel auftauchten, merkten wir halt plötzlich, dass wie einen ungeheuren Durst hatten. Und mächtig Kohldampf, denn von Hunger konnte da glücklicherweise keine Rede mehr sein.

4
Lazarius  25.04.2020, 16:50
@Altersweise

Das war bei uns auch so. Ich denke es war die Zeit, die das Gesetz schuf, um uns auch über Ländergrenzen hinweg, mit grundverschiedenen Voraussetzungen, gleich aufwachsen zu lassen. GLG Lazarius

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JaquesSchabrack 
Beitragsersteller
 25.04.2020, 16:57
Ich schwärme selber gelegentlich von den "guten alten Zeiten", in denen wir jedes Jahr noch über 20.000 Verkehrstote hatten, in der ein Fahrradschlauch mindestens einmal im Monat geflickt werden musste und in denen ein Mann, der Sex mit einem anderen Mann hatte, dafür noch in den Knast kam - ein Hundertfünfundsiebziger.

Mit einem Absatz, mal ganz locker aus der Hüfte, jeglichen Anflug von Romantisierung der Vergangenheit in die Tonne getreten. :D

Der Glaube an die Zukunft war noch ungebrochen...

Das ist ein guter Hinweis. Früher hat man vielleicht hoffnungsvoller in die Zukunft geblickt. Heute schaut man oft eher ängstlich und verunsichert in die Zukunft.

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