Urlaub ohne schwerbehindertes Kind, moralisch richtig oder falsch?

8 Antworten

Okay, ja, hier besteht ein Dilemma.

Für den Betroffenen ist natürlich die tägliche Pflege normal und er möchte nicht als Last empfunden werden, von der man Urlaub braucht.

Auf der anderen Seite haben die Eltern weniger Zeit für sich als andere Eltern und die Geschwister weniger Zeit und weniger Freiheiten als andere Kinder.

Unglücklich finde ich hier den Zeitvorlauf.

Eine Woche ist ein bisschen kurz.

Mein Bruder hatte auch Downsyndrom, konnte aber glücklicherweise alleine laufen und auch relativ gut reden. Der kam immer mit den Urlaub, bis auf wenige Einschränkungen war das auch kein Problem. Die Einschränkungen waren eher, das wir nichts machen "konnten", das ihn gelangweilt hätte, weil er dann gestört hätte - also, keine Museumsbesuche oder Kinofilme, die er nicht verstand.

Als er 19 war, starben die Eltern eines "Mitarbeiters mit Behinderung" in seiner Werkstatt und seitdem sagte er oft "wenn die Eltern sterben, müssen die Kinder ins Heim". Meine Mutter hatte ihre gesamte Freizeit um ihn arrangiert, kam aber dann ins Grübeln - was wäre, wenn sie mal ins KH müsste oder aus andern Gründen ausfallen würde?

Sie kam dann zu dem Schluss, dass er lernen müsse, auch mal ins Wohnheim zu kommen, und arrangierte ein Wochenende dort für ihn. Darauf wurde er intensiv und lange vorbereitet und das wurde ihm auch als interessanter Urlaub mit seinen Kollegen verkauft. Er nahm den halben Hausstand mit und es hat ihm dann doch sehr gefallen. Dort wurden auch viele gemeinsame Aktivitäten angeboten, man aß zusammen, was ihm sehr gefiel, er merkte, dass er mit den Bewohnern dort auf ganz anderer Ebene kommunizieren konnte als mit uns - viel alberner, der Humor wurde untereinander viel besser verstanden.

Wir haben das dann nicht mehr weitergeführt, er war insgesamt zweimal da, einmal tatsächlich aus Notwendigkeit.

Aber so würde ich das aufziehen - LANGE vorher darüber reden, so dass er das versteht (also auf seiner Ebene), immer wieder sagen, wie es dort ist, wie der Ablauf ist usw., das dann konkret ankündigen, sagen, wie lange er dort ist, was er dort alles Schönes erleben kann, wann man sich wiedersieht.

Meine Mutter hat es oft so gemacht, dass sie ein kleines Lied (Vierzieler) erfand, das den groben Ablauf oder einen bestimmten Aspekt beinhaltete, und das dann immer wieder zu einer bekannten Melodie mit ihm sang. So zum Beispiel vor der ersten Klassenfahrt. Als der Tag der Abreise kam, war er dann vorbereitet und freute sich auf darauf.

Ich würde so etwas als "wir fahren alle in Urlaub, jeder woanders hin" verkaufen und nicht als "wir machen Urlaub von dir und du musst mal ins Heim, damit wir uns erholen können".

Es sollte dann so arrangiert werden, dass er dort Bekanntes hat und auch Aspekte, auf die er sich freuen kann. Und halt so, dass es nicht abrupt für ihn kommt und er eine Übersicht hat, wann die Eltern wiederkommen, bspw. mit einem Kalender, in dem das eingetragen wird und Betreuern, die täglich die Tage runterzählen und auch mal, wenn das geht, Anrufe arrangieren.

Ich würde so etwas, wenn es geht, immer langfristig planen, - also eher so drei Jahre vorher - immer wieder davon erzählen (auf positive, begeisternde Weise!) und dann mit einem Tag anfangen, das ein paar Mal wiederholen, dann mal mit einer Übernachtung, einem WE, einem längeren WE, einer Woche. Und erst, wenn das routiniert gut geht, würde ich einen dreiwöchigen Urlaub planen.

Es gibt viele, die ihre Pflegebedürftigen in die Tagespflege geben, ständig oder hin und wieder, weil sie einfach mal eine Pause machen und oft kommen die Pflegebedürftigen damit gut zurecht, weil sie dort mal andere Menschen sehen, neue Aktivitäten, ein anderes Umfeld haben.

Das muss kein "Abschieben" sein.

Ich kenne keine vergleichbaren Fälle, aber an dieser Sache ist absolut NICHTS asozial. Die Eltern entscheiden nach ihrem Empfinden und für sie ist das die richtige Entscheidung. Da haben andere nicht mit zu reden. Es ist einfach ätzend, dass sich andere ständig in das Leben anderer einmischen. Ich bin mir sicher, dass die Eltern immer 300% geben und es ist in allen Maßen ungerecht ihnen 'asoziales' Verhalten vorzuwerfen!

Von Experte Selkiade bestätigt

Meine Schwester arbeitet in der Betreuung von Familien, wie Du sie beschreibst. Es ist absolut wichtig, dass die Familie auch mal Zeit hat ohne die Betreuung. Der Punkt ist, dass das behinderte Kind IMMER im Mittelpunkt steht, logischerweise, das ist, wie wenn noch ein Baby in die Familie kommt. Nur, dass die Betreuung über die Jahre hinweg nicht weniger wird und das Kind ja leider nicht "aus dem Gröbsten rauswächst".

Auch wenn sich die Familie den Alltag gut organisiert und alle an einem Strang ziehen, ist es nicht zu vermeiden, dass die anderen Kinder eigentlich immer an 2. Stelle kommen. Und die Eltern auch kaum zur Ruhe kommen. Um Kraft zu tanken, da mal zu viert wegzufahren, den Eltern eine Atempause zu geben und den anderen Kindern auch, aber auch mal fokussierte Elternzeit für die anderen Kind, halte ich für absolut legitim und führt eher dazu, dass wieder mehr Energie für die Betreuung da ist.

Was die Verwandtschaft sagt, darauf kann man im Grunde pfeifen - die Eltern müssen wissen, was gut für die fünf ist und was wichtig.

"die anderen halten es für asozial."

Wie oft kommen die denn in der Woche vorbei und kümmern sich um das behinderte Kind, um die Eltern und Geschwister zu entlasten? - Eben.


Netzschutz 
Beitragsersteller
 12.08.2023, 15:41

Hallo Stellwerk! (Auch Eisenbahner?)

Vielen Dank für diese Feedback!

Um deine Frage zu beantworten: Die Verwandschaft kommt so alle paar Wochen mal vorbei um seltsame Ratschläge zu erteilen und dein "Zeigefinger der Moral" zu erheben. Dann sind die ganz schnell wieder weg.
Das soll kein Eigenlob sein, der einzige der zum Helfen vorbei kommt bin ich. Ich so einmal im Monat versuche ich die jüngste und den ältesten abzuholen und z.B. in einen Freizeitpark, ins Kino o.ä. zu gehen. Durfte mir da auch schon anhören ich würde es mir leicht machen und den mittleren ausschliesen...

Aber, nun gut. Ich wünsche dir ein schönes Wochenende!

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Stellwerk  12.08.2023, 15:48
@Netzschutz

"Hallo Stellwerk! (Auch Eisenbahner?)" > Nein, Account erstellt, während ich wegen Stellwerksstörung an einem Provinzbahnhof festhing :D.

Na, das hab ich mir schon gedacht, dass die mit der größten Klappe den geringsten Beitrag leisten, das ist eigentlich immer so. Wenig Empathie und wenig Engagement geht oft Hand in Hand.

Und es ist super, dass Du Dich um die anderen Geschwister kümmerst - es sind ja gerade die kleinen Auszeiten, die mal Luft verschaffen und etwas Normalität. Lass Dir nichts einreden.

Es gibt dieses wunderbare afrikanische Sprichwort, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Damit ist ja gemeint, dass die Fürsorge nicht ausschließlich bei den Eltern hängen soll. Und das bei uns bis vor wenigen Jahrzehnten auch so, gerade in ländlichen Strukturen. Dass Kinder auch mal beim Nachbar rumhingen oder von einem Onkel was beigebracht bekamen oder irgendeine Tante mal aufpasste oder jemand auf der Straße die Kinder zusammenschiss, wenn sie was anstellten. Erziehung wurde da noch viel kollektiver gelebt.

Und das fehlt heute meiner Meinung nach zunehmend. Alles lagert auf den Schultern der Kernfamilie. Dabei wäre es soviel einfacher, wenn mehrere Schultern die Last tragen - und das gilt für Familien mit kranken oder behinderten Kindern erst recht.

Wird Zeit, dass Du mal anfängst zu kontern, wenn solche Sprüche kommen. Manchen Leuten muss man auch einfach mal eins vor den Latz knallen.

Lass Dich nicht unterkriegen! Und der Familie wünsche ich einen erholsamen Urlaub und eine dicke Haut gegenüber der buckligen Verwandtschaft!

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Netzschutz 
Beitragsersteller
 12.08.2023, 16:02
@Stellwerk

Ahhh! Verstehe! :D

Die Ausflüge mit meiner Cousine und meinem Cousin sind keine Last, es macht wirklich Spaß! Von daher mache ich es gerne.

Wir wohnen leider in der Stadt (Berlin. Dort merkt man wirklich diese Anonymität... von Kollektiver erziehung - keine Spur. Aus dem Land würde es durchaus anders aussehen^^

Deine Wünsche sind bereits ausgerichtet und ich wurde gebeten mich stellvertretend herzlichst hierfür zu bedanken! <3

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Stellwerk  12.08.2023, 20:08
@Netzschutz

Ah, meine Schwester arbeitet in Berlin, haha, wahrscheinlich kennt sie Eure Familie sogar. Ja, da ist das mit der Anonymität so ne Sache. Aber die Verwandten sind ja trotzdem da, um ihren Kommentare abzulassen, da könnten sie auch mal mit anpacken...naja.

"Deine Wünsche sind bereits ausgerichtet und ich wurde gebeten mich stellvertretend herzlichst hierfür zu bedanken! <3"

Süß von Euch. Danke :)

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Absolut in Ordnung und auch die einzige Möglichkeit die Leistungsfähigkeit der Pflegenden zu erhalten und den Rest der Familie nicht zu vernachlässigen.

Ähnlich wie die Kurzzeitpflege für Pflegebedürftige mit hohem Pflegebedarf/ Demenzkranke; das ist die einzige Möglichkeit für Pflegende wenigstens einen kleinen Rest Selbstbestimmung und Entspannung zu erhalten.

Wenn der Rest der offensichtlich recht arschlöchrigen Sippschaft dumm schwätzt, einfach mal fragen ob sie bereit wären für 3 Wochen die Pflege zu übernehmen....

Wie würdest du dich fühlen, wenn du aus irgendwelchen Gründen mit gerade mal in irgendeinem Heim "abgegeben" werden würdest? Irgendwie ist der Wunsch ja verständlich, mal so richtig relaxen können. Also, ich hätte da keine Ruhe damit

Hab selbst einen Downie zuhause. Urlaub war die ersten Jahre nur unter "erschwerten Bedingungen" möglich, wenn überhaupt. Auch der kleine Bruder hatte wie der Große damit umgehen lernen müssen, dass er der eigentliche "große " Bruder ist. Mittlerweile sind beide recht "wohlgelungene" junge Männer.

Kann das keiner aus dem näheren Umfeld, also eine ihm bekannte Bezugsperson, übernehmen? Das wäre vielleicht noch vertretbar. Oder kriegt er seine Umwelt gar nicht mit?

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

Netzschutz 
Beitragsersteller
 12.08.2023, 15:59

Hallo! Vielen Dank für deine Antwort, und das aus "erster Hand" von jemandem mit Erfahrung!

Ganz ohne moralische Bedenken bleibt es auch bei meiner Tante und Onkel nicht!

Mein Cousin ist die Trisomie 21 nur die primäre Diagnose. Er benötigt darüber hinaus einen Sauerstoffkonzentrator und und und. Ich weis nicht inwiefern er wirklich von seiner Umwelt etwas mitbekommt. Kleine Interaktionen sind Möglich, aber teilweise hat man das Gefühl einen Wachkomapatienten vor sich zu haben, wobei letzteres aber von Tag zu Tag unterschiedlich ist. Was er wirklich von seiner Ausenwelt mit bekommt, darüber haben wir von verschiedenen Ärzten sehr unterschiedliche Aussagen bekommen. Als vor zig Jahren mal jemand aus der Familie mal auf den mittleren aufpasste endete dies im völligen Chaos...

Zum Thema Trisomie 21 allgemein: Meine Nachbarn haben ein Kind mit Down Syndrom. Ich kenne ihn seit er relativ klein ist und ich muss sagen: Hochachtung! Vor wenigen Wochen schloss er seine Ausbildung als Fachpraktiker für Metalltechnik ab und ist im Grunde ziemlich selbstständig. Man sieht es ihm zwar an, aber wenn man mit ihm spricht, hat man nicht das Gefühl einen "Downie" vor sich zu haben... Seine Wohnung (Im Haus der Eltern) ist BLITZEBLANK.

Ich danke dir für deine Antwort und wünsche dir ein schönes Wochenende!

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