Sind wir die Generation der Depressiven?
4 Antworten
Gibt es eine Generation der Krebskranken? Generation Grippe? Gen MS? Solche Krankheiten haben keine Generation. Zwar werden die Stigmata um Depressionen abgebaut, mehr darüber geredet und so suchen sich mehr Leute hilfe, es gibt mehr Diagnosen - aber ob es tatsächlich mehr Fälle gibt als noch vor 25-30 jahren, kann man wohl kaum sagen. Die Dunkelziffer der Krankheit wird damals und auch heute deutlich höher (gewesen) sein. Auch wenn es scheint als hätte jeder heutzutage eine Depression, muss man natürlich die Selbstdiagnosen und auch die erhöhte Hilfesuche in Betracht ziehen. Mehr Leute haben einen Verdacht und lassen sich entweder professionell diagnostizieren oder stellen eben selbst eine diagnose.
Nein, das kann man sich auch - wie so vieles - einreden. Wenn man es lang genug im Kopf hat, glaubt man vieles im Sinne der "selbsterfüllenden Prophezeihung" - und man kann sich ohne Frage auch Depressionen oder anderes in der Art einreden.
Jugendliche haben zwar oft psychische Probleme, weil die Hormone ganz einfach Achterbahn fahren, aber das war schon immer so. Nur hat man es früher nicht so hochdramatisiert und analysiert und dann breit getreten. Bei den allermeisten Heranwachsenden verwächst sich so was; auch ich (Jahrgang '90) und die meisten meiner Freunde hatten in der Zeit manchmal schwache Stunden und Sorgen/Ängste usw., vor allem in Richtung Schulabschluss, weil einem einfach elementare Erfahrungen noch fehlten und man nicht wusste, wo links ist und wo rechts ist.
Uns wurde von einem Berufsschullehrer immer vermittelt, wir wären die "Generation Praktikum" und würden eh alle keine Festanstellungen mehr finden, am Ende war das auch "Pfeifedeggele" (Pfeifendeckel^^) - manches muss man einfach so stehen lassen und zur Kenntnis nehmen, ohne drüber nachzudenken.
Ich bin bei meinem Opa großgeworden wegen familiärer Probleme und habe daher faktisch eine Kindheit und Jugendzeit gelebt, die sich zwar in den 90ern und nach 2000 abspielte, aber in etwa dem Aufwachsen meiner Mam (Jg. 1968) entsprochen haben durfte - ich weiß was du meinst, wir hatten relativ lang nur drei Fernsehprogramme mit Zimmerantenne (Interfunk^^ sehe das Ding noch vor mir); mein Opa liebte Lesezirkel, Bildschirmtext und seinen Radiosender für Schlager und Volksmusik; Internet gab es nur in der Schule und zuhause war vieles wie vor 1990. Mein Opa war als Jahrgang 1925 im Krieg und hat über vieles nie gesprochen.
Musste auch manches aufarbeiten, vor allem meine Freundin bzw. meine heutige Frau und mein bester Kumpel haben mir extrem geholfen. Mein Opa war streng und ich sage es mal so, es wäre ihm am liebsten gewesen, hätte ich ockerfarbene Hemden und Bundfaltenhosen getragen, Volksmusik gehört und alles gemocht, was er mochte. Aber okay - er war halt so, wie er war und schlecht ging es mir bei ihm nicht.
Meine Kumpels und ich hatten in der Pubertät immer wieder schwache Stunden, das war aber meinem Opa egal und den Eltern der anderen sowie den Lehrern eigentlich auch, man musste allein klar kommen und zusehen, wie man sich durch die Tage boxt.. wir haben oft drüber geredet und wussten nicht, wo links ist und wo rechts ist - aber wir haben immerhin so tiefe Freundschaften gehabt (sind immer noch befreundet), dass wir im Gegensatz zu den meisten drüber reden konnten!
Gefühle waren weder zu hinterfragen noch zu zeigen, der Jugendpsychologe ein Fall für "Bekloppte"; man hätte sich als Eltern geschämt, mit den Kiddies dort gesehen zu werden und viele spotteten daheim über Eltern und Kinder, die da hin gingen oder da in der Nähe gesehen wurden (es gab einen Kinder- und Jugendpsychologen in unserer Stadt). Die einzige, die uns half war eine coole junge Lehrerin, die wir in der 10. Klasse hatten. Die war damals gerade 25, kam direkt vom Referendariat zu uns und war jung genug dass sie wusste, wie es uns manchmal auch echt dreckig gehen konnte. Habe mit der Frau immer noch Kontakt und werde ihr das nie vergessen - das war die einzige, die für uns da war.
Das mit Selbstmitleid usw. kenne ich von meiner jüngsten Cousine (geb. 2001), mit der ich mich sehr gut verstehe - sie ist ein Einzelkind und wurde absolut verhätschelt, hat daher auch viele Probleme im zwischenmenschlichen Bereich - und auch sie neigt dazu, sich dieses und jenes zu diagnostizieren und viel Mist (sorry) zu erzählen oder zu glauben, hält sich dabei aber für sehr reif und betont das immer. Ich habe zu ihr ein echt gutes Verhältnis, aber es geht genau in die Richtung, die du beschreibst.
Nein, auch kann man nicht unbedingt behaupten, dass alle jüngeren Menschen offener gegenüber der Psychotherapie geworden sind.
Es gibt immer noch viel Stigmata...
Hallo,
ich weiß jetzt nicht von welcher Generation du sprichst. Ich bin Baujahr 73 und ich muss mir meine Depressionen oder depressiven Verstimmungen (wie es der Hausarzt beschrieb) bestimmt nicht einbilden, wie es jemand hier beschrieb. Ich wurde als Frühgeburt in diese Welt geholt, was ich inzwischen bedauere. Die Natur hatte da etwas anderes vorgesehen, doch der Mensch meint ja, dass jedes Leben gerettet werden muss. Wie mir eine Ärztin bestätigte, tun sich Frühgeburten im Leben sehr schwer und das war bei mir seit 1995 der Fall. Ich bin in jeder Hinsicht gescheitert, doch trotzdem muss es ja irgendwie weitergehen. Hilfe bekommt man in dieser Gesellschaft, in der alles privatisiert wird, nicht mehr. In den 80er Jahren nahm sich der Hausarzt noch Zeit und kam notfalls auch bis ans Bett. Heute wird man nur noch abgefertigt. Es sind traurige Zeiten, doch der Klimawandel wird sowieso in einigen Jahren alles beenden.
Ich wünsch dir einen schönen Tag.
Wenn man "eine Generation" mit den üblichen 25 Jahren bemisst, trennt uns (ich meine "rotesand") genau eine und ich meine mich erinnern zu können, dass damals auch unsere Generation bereits ähnliche Probleme kannte. Es gab jedoch kein Internet und die damit verbundene Zeigefreudigkeit, stattdessen Griff man zu Drogen und verreckte dran oder man nahm sich gleich einen Strick. Die Hilfsangebote waren damals bei weitem noch nicht so umfassend wie sie es heute sind, hinzu kam, dass in vielen Familien noch überzeugte Nazimitläuferreste vorhanden waren mit der entsprechenden Einstellung zur Härte gegen sich selbst und dem scheinbaren Auftrag, Gefühle nicht zu hinterfragen. Dazu kam mit den Jahren natürlich die Angst, die der kalte Krieg auszulösen vermochte. Doch wie Du schon schreibst: Manches muss man einfach stehen lassen ohne darüber nachzudenken. Selbst eine scheinbar unüberwindbare Mauer ist inzwischen eingerissen...
Und die heutige Generation? Ich kenne keine, um die sich mehr gedreht, mehr gekümmert, mehr gesorgt wurde wie um diese (ich weiß, dass das nicht alle erfahren haben, aber ein sehr großer Teil). Ob das richtig ist, kann ich nicht beurteilen. Aber vieleicht trägt auch das zu der Einstellung mit bei, dass gerade die so verhätschelt groß werdenden und groß gewordenen zum Teil den Eindruck haben, eine in Depressionen verlorene Generation, eine "lost Generation" zu sein. Da schwimmt doch sehr viel Selbstmitleid im Unterton mit.