Ich habe mir selbst die Illusion genommen?

3 Antworten

Die meisten Menschen folgen blind dem System, glauben alles blind, ohne mal selbst zu denken. Sie lieben die Lüge, welche sie leben.

Ein Zustand, den du zugleich verurteilst - und zurückwillst, kann das sein?

Du musst dich schon entscheiden... Erkenne zunächst mal den Widerspruch in deiner eigenen Frage...


Polyhistor95 
Fragesteller
 09.05.2023, 20:45

Ich verachte die Menschen dafür nicht, denn viele wissen ja nicht einmal, dass sie Teil einer Lüge sind. Oder dass das System eben nicht so toll ist, zumindest nicht für jeden. Ich würde sofort wieder "blind" sein, hätte ich die Wahl dazu.

Vielleicht ist es ja auch genau diese Diskrepanz, welche der Nährboden meiner Unzufriedenheit ist?

1
cas65  09.05.2023, 20:48
@Polyhistor95

Das kann schon sein. Wer diese Welt toll findet - der sieht sie eben leider nicht so, wie sie ist. Aber er erkennt womöglich auch nicht, wie groß sein eigener Anteil daran ist, DASS sie ist, wie sie ist... Mir hat diese Welt nie wirklich gut getan. Doch je älter ich werde, desto grausamer wird es...

1
Polyhistor95 
Fragesteller
 09.05.2023, 20:53
@cas65

Ich liebe das Leben. Aber ich hasse die Art, wie wir leben (müssen). Wie du sagst..es ist eine grausame Welt. Die schlechteste aller möglichen Welten, wie Schopenhauer einmal sagte. :) Hast du denn einen Tipp, wie man dem gegenüber gleichgültiger werden kann? Wie man es lernt, einfach hinzunehmen, was nicht änderbar ist, ohne dadurch zu verbittern?

1
cas65  09.05.2023, 21:03
@Polyhistor95

Leider habe ich da auch kein Patentrezept. Meines ist; ich habe zumindest ein ganz konkretes "Bild" entworfen von einem Stückchen dieser Welt, in dem es sich besser leben ließe, als wir es gerade erleben. Ich habe die Menschen beschrieben, wie ich sie gerne hätte; ihr Handeln beschrieben, wie ich es für klug hielte; Lebensfreude und "Luxus" beschrieben, wie ich es mir vorstelle. Ein Bild von einer Welt, die zumindest beginnt, einen besseren Weg einzuschlagen.

Ich versuche, in vielen Dingen Vorbild zu sein und auch mitunter immer mal wieder meine Zeitgenossen mit der Nase drauf zu stupsen, wie unsinnig sie sich doch verhalten. Besser geht es mir damit zwar nicht. Und ich habe auch keine Hoffnung mehr. Aber trotzdem halte ich es für meine Pflicht, irgendetwas zu tun, dass es eines Tages doch auch wirklich besser zugeht mit dieser Menschheit auf diesem Planeten.

1

Du darfst dich nicht mit dem scheinbar Unveränderlichen abfinden, sonst wirst du wirklich depressiv und negativ gegen dich selber. Du solltest dem allgegenwärtigen Konformismus und Opportunismus offen entgegentreten - mit Witz und Humor, meinethalben mit Zweckpessimismus aber nicht mit wirklichen Pessimismus, mit unverhohlenem Zynismus und gnadenloser Offenheit gegen dich selbst und andere, schonungslos gegen Lüge und Lügner auftreten. Deine Kinderwelt ist untergegangen, aber die Naivität deiner Kindheit solltest du dir irgendwie bewahren und dich an Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern erinnern: Ein Kind wagt zu sagen: Der Kaiser ist nackt!

Ein "zurück zur Naivität" gibt es bedauerlicherweise nicht. Leider höre auch ich oft Menschen zu, die so ein wenig nach dem Prinzip leben: "Je meher Wissen, desto mehr Verdruss!" Sie entdecken überall, dass man sehr schlicht auf den eigenen Vorteil aus ist, dass man andere gern überlisten möchte, um selber Gewinne für sich verbuchen zu können. So ganz allgemein findet man, dass die Welt schlecht ist. Jede Woche weit mehr als hundert Krimis im Fernsehen, und auch die Spielfilme zeigen eigentlich immer nur, dass die Menschen scheitern. Man ist geneigt, deine Meinung zu teilen.

Das alles ist natürlich auch mir nicht verborgen geblieben. Doch die Kombination von Biologie und Philosophie haben mir aus diesem Dilemma herausgeholfen. In der Biologie tut man zunächst einmal gut daran, sich das ewige "Moralisieren" abzugewöhnen. Man schaut vielmehr, welche Lebensprinzipien ein Überleben ermöglichen oder zumindest erleichtern. Klar: Kraft, Durchhaltevermögen, Einsatzfreude, wohl auch Maßhalten, Vorsicht, zielführende Bescheidenheit und Einsicht in ausweglose Situationen sind sicher alles Tugenden, die im Überlebenskampf zählen. Doch dann findet auch die aus unserer Sicht eher moralisch fragwürdigen Strategien: Tarnen und Täuschen, mehr scheinen als sein, Neid, Eifersucht, Verdrängungskampf, das Abwerben einer attraktiven Partnerin, der Diebstahl von Nahrung, Wohnraum, Brutplätzen, Nistmaterial und viele weitere Handlungsmuster, die schon sehr weit dahin reichen, wo deine Klage über die Welt ihren Stoff findet.

Bilanz: Leben ist deutlich mehr als ein Agieren in christlich abendländischen Moralvorstellungen. Einfach mal das ewige "Moralisieren" beiseite lassen. Blumen treiben doch auch die herrlichen Blüten, nur um Insekten anzulocken. Vogelgesänge sind praktisch reine Reviergesänge, um klar zu stellen, dass jeder "Fremde" in dieser Umgebung bekämpft wird. Versuche deine Sicht auf die Dinge weit weniger moralisch und viel mehr in Bezug auf den Überlebenswert hin zu klassifizieren. "Neid" wird dann dann plötzlich zum Ansporn es auch gut machen zu wollen. "Eifersucht" schaft Strategien es noch besser zu machen als der Nebenbuhler/in. Und Parasiten findet man dann durchaus pfiffig, wie sie bestimmte Gegebenheiten, die eigentlich zur Stützung Schwacher gedacht waren, für sich in raffinierten Strategien ausnutzen. In der Biologie lernt man, dass "wer klein, wehrlos und schmackhaft" (also moralisch einwandfrei) ist, der hat ganz schlechte Karten im "Survival of the Fittest". Nicht die "Schlechtigkeit der Welt konstatieren", sondern die ungeheuer komplexen Handlungsmuster, die sich etablieren konnten, um einfach einen kleinen Vorteil zu haben, gegenüber den unendlich vielen, die alle irgendwie größer, stärker, gesünder, klüger und kompetenter sind als man selbst. Das ist eine durchaus spannende Entdeckungsreise, die manche depressive Daseinsresignation kompensieren kann.