Aus was setzt sich mein aktuelles "ICH" zusammen?

2 Antworten

Vom Beitragsersteller als hilfreich ausgezeichnet

Deine Frage beinhaltet ja bereits zu einem großen Teil eine mögliche Antwort, die viel Plausibilität anbietet.

Dennoch möchte ich dich darauf hinweisen, dass das "Ich" noch weit mehr aus psychischen Komponenten besteht - du hast das zwar auch erwähnt - selbst aber vermehrt auf Erkenntnismomente verwiesen (Erfahrungen der frühen Kindheit; Ansichten der Eltern).

Ganz wichtig ist es sich klar zu machen, dass das "Ich" kein in sich kohärentes Konstrukt ist, d.h. wir haben im Grunde verschiedene "Ichanteile", die eine divergente Entstehungsgeschichte haben, und die oftmals eine erhebliche Eigendynamik entfalten können. Das Besondere ist dabei, dass die Ichanteile auch in substantielle Konfliktsituationen geraten können, was die Person dann dann mitunter als qualvoll wahrnimmt. Sie erlebt sich zerrissen in ihren Antriebsmomenten, schwankt in ihren punktuellen dominanten Haltungen, die kommen und gehen, mal begrüßt mal verurteilt werden, und am Ende steht keineswegs eine stimmige Bilanz, sondern oft nur ein wirrer Kompromiss in den Ansichten und Haltungen, der ein erhebliches Maß an Unzufriedenheit als Gefühl zurücklässt.

Das Ganze liegt an dem stammesgeschichtlichen Gewordensein unseres Nervensystems. Dieses ist leider - im Gegensatz zu einer planvoll designten Gesamtpersönlichkeit - aus etlichen Anteilen von großen Nervenansammlungen entstanden, die millionenfache Verbindungen und Vernetzung ausgebildet haben. Das ganze Geschehen war immer den Gesetzen von Versuch und Irrtum unterworfen, d.h. wenn ein Lebewesen, mit seinem Gehirn leidlich gut an die momentane Umwelt angepasst war, dann konnte es weiterleben und sein Erbgut an die Nachkommen weitergeben. Es gab nie eine Situation, wo "man" (ein ordnender Geist oder ein Gott) von Grund auf alles "vernünftig" geplant hätte, d.h. eine Zentrale ausbildet hätte, die ihrerseits verschiedene Abteilungen hätte dirigieren und aufeinander abstimmen können, so dass es nicht zu Konflikten oder Unvereinbarkeiten kommen könnte.

Bilanz: Das "Ich" ist ein hochgradig komplexes Konvolut aus etlichen großen zentralnervösen Anteilen, die zwar zusammen wirken, aber grade bezüglich der Entscheidungen, was der Organismus nun tatsächlich nach außen für ein Verhalten zeigen soll, mitunter sehr divergente "Absichten" haben, was dann zu den bekannten Zerrissenheitsgefühlen führt. Im Grunde ist unser Gehirn permanent damit beschäftigt, die verschiednen Antriebsmomente zu harmonisieren, damit dann ein kohärentes in sich stimmiges Verhalten gezeigt werden kann. Vor allem kommen die "Querschläger" von den archaischen Instinkten nach Nahrung, Sex, Dominanz, Geltungsstrebigkeit, narzisstischen Bedürfnissen und andererseits Geliebtwerdenwollen und Wertschätzungssehnsüchten. Folglich ist es auch völlig falsch, wenn man z.B. einen in Rang und Würden stehenden Politiker oder einen Geistlichen pauschal aburteilt, wenn er sich gelegentlich zu erotische Eskapaden hinreißen läßt. Es sind seine unterschiedlichen Ichanteile, von denen mal die einen mal die anderen Dominanz entwickelt haben, ein Umstand, der von einer allgemeinen Ethik und ihrem Universalanspruch schwer zu akzeptieren ist.


Hakuji 
Beitragsersteller
 02.11.2024, 09:30

Vielen dank, diese Antwort hilft mir wirklich weiter. Wenn ich fragen darf, woher hast du das ganze Wissen?

rolfmengert  02.11.2024, 21:34
@Hakuji

Habe Neurophysiologie in Göttingen als drittes Fach, Psychologie in Freiburg und Philosophie (Schwerpunkt Anthropologie) in Berlin an der Freien Universität studiert.

Wir sind immer das Produkt der Umstände und Erziehung im positiven wie negativen Sinn. Mit dem Erlernen der Muttersprache entwickelt jeder Mensch sein individuelles Bewusstsein von sich, den anderen und der Welt, d.h. er übernimmt damit einen Teil des kollektiven o. gesellschaftlichen Bewusstseins u. Gedächtnisses seines Kulturkreises einer ganz bestimmten Entwicklungsepoche in seine sich aufbauende Vorstellung von sich, den anderen und der Welt. Dementsprechend fallen dann die einzelnen Ansichten aus, die die Leute vertreten. Deine Gesamtperspektive scheint nur anders im Verhältnis zu der deiner Eltern, weil die Maßstäbe anders ausgerichtet scheinen, also z.B. deine Eltern entscheiden sich für ein Haus mit Grundstück, aber du selber entscheidest dich aufgrund der Erfahrung, die du als Kind damit machen musstest, gegen so eine Wohn-Idee, d.h. du kennst dich in dieser Gedanken-und Wertewelt des Eigenheimbesitzers aus und hast auch Erfahrungen gesammelt, die du aber anders wertest als deine Eltern. Du modifizierst dein Bewusstsein aufgrund deiner Erfahrungen und entfernst dich etwas von deinen Eltern. Das ist das freie Denken, das dich vom Bewusstsein deiner Eltern etwas entfernt. Aber es ist nicht nur die Wohn-Idee, es gibt unzählig andere Themen und Wertvorstellungen in denen du mit deinen Eltern völlig einig bist, aber wieder andere, die dich deiner Familie völlig entfremden können. Es sind weniger "kognitive Verzerrungen" oder intellektuelle Beschränkungen, die am Verständnis und am freien Denken hindern als die gesellschaftlichen Bindungen und das kollektive o. gesellschaftliche Bewusstsein in unserem individuellen Bewusstsein. Bindung u. gesellschaftliches Bewusstsein sind mangels praktischer wie theoretischer Erfahrung nicht mal zu kritisieren, geschweige zu ändern, bzw. ist beidem das eigene individuelle Bewusstsein völlig hörig und verhaftet, weil wir selbst dadurch konstituiert sind. In unserem Ich wohnt die Gesellschaft. Das bedeutet, man will gar nicht frei denken und kann das dann auch nicht, wird man danach geradezu gefragt ...


Hakuji 
Beitragsersteller
 27.10.2024, 16:58

Ich danke dir für die detaillierte Antwort!

Hakuji 
Beitragsersteller
 27.10.2024, 17:05

Du wirkst sehr bewandert in dem Thema, kann ich dir privat schreiben?

User321412849  27.10.2024, 20:22
@Hakuji

Lies erst mal, was ich hier sonst noch poste, vielleicht hast du dann keine Lust mehr ...

Hakuji 
Beitragsersteller
 27.10.2024, 17:03

Wie wäre es frei zu denken? Geht das überhaupt?