Progressives Denken

4 Antworten

Na ja, du kannst dich einfach mal fragen, welche Bevölkerungsgruppen es schwer haben und zu welcher du ungern gehören würdest.

Menschen mit Behinderung, Langzeitarbeitslose, Geringverdiener, Obdachlose, Suchtkranke fielen mir ein. Wie sehen wir diese Menschen? Wie gehen wir mit ihnen um?

Warum dürfen Menschen in Deutschland obdachlos sein und warum dürfen sie, wenn überhaupt, meist nur die Nacht in Obdachlosenheimen verbringen, müssen aber tagsüber draußen sein, was unter anderem dazu führt, dass sie mehr frieren, mehr Kalorien verbrauchen, sich weniger um sich selbst kümmern können, mehr Geld für Lebensmittel benötigen, weil sie bspw. nicht kochen oder nichts auf Vorrat zubereiten, sondern alles fertig kaufen müssen.

Das ist jetzt nur ein Beispiel.

Sicherlich gibt es noch viele Aspekte, die für die meisten Menschen heute einfach normal sind, es aber nicht sein müssten. Man wohnt allein in einem Haus mit mehreren Zimmern, wenn bspw. die Kinder ausgezogen sind. Man verschwendet also Wohnraum. Man kauft Fertignahrungsmittel mit Inhaltsstoffen, die einem unbekannt sind und teilweise gesundheitlich bedenklich. Man pendelt ein bis zwei Stunden zur Arbeit.

Im Schulwesen ist es immer noch normal, Schüler auszusortieren durch schlechte Noten, Klassenwiederholung, Schulformenwechsel - statt die Schüler so zu fördern, dass sie das Maximale aus sich herausholen. Es geht oft um Bewertung und nicht um bestmögliche Förderung. Der Schüler soll nicht so viel lernen, wie er kann, sondern so viel Leistung bringen, wie er kann - wie er das schafft, ist dem Lehrer oder oft dem Schulsystem egal, das bewertet ihn nur.

Bei der Arbeit könnte man den 8+-Stunden-Tag und die 5+-Tage-Woche in Frage stellen. Parallel könnte man auch Öffnungszeiten in Frage stellen. Viele Supermärkte schließen, wenn andere Arbeitnehmer nach Hause kommen. Dagegen haben viele Geschäfte dann auf, wenn die meisten anderen Menschen arbeiten.

Man könnte das Reisen in Frage stellen. Wir haben das Internet. Müssen wir in Zeiten des Klimawandels noch Flugreisen forcieren oder könnten wir wieder Urlaub im eigenen Land propagieren, ohne Flugreise?

Inhaltsstoffe und Güter des täglichen Bedarfs sind mMn ein großes Thema. Was essen wir, wie gut tut uns das, wie gut nährt uns das, was nutzen wir für unsere Haut und Haare (waschen, pflegen) und mit was für Stoffen kommen wir damit in Berührung, was bewirken die im Körper? Darüber denkt man zunehmend nach, aber immer noch nicht jeder.

Vielleicht wäre es in 200 Jahren undenkbar, dass man einfach ein Fertigshampoo kauft mit zig Inhaltsstoffen, von denen man gar nicht weiß, was sie bewirken oder die halt sogar potenziell schädlich sind. Vielleicht wäre es in 200 Jahren auch undenkbar, Lebensmittel zu essen, die nicht in der eigenen Region angebaut wurden, sondern eingeflogen wurden. Oder Fleisch zu essen und Tiermilch zu trinken. Oder Plastiktüten etc. zu nutzen.

Vielleicht wäre es unbenkbar, ein Gerät zu kaufen und nach 2 Jahren zu ersetzen, weil es einen Nachfolger gibt. Vielleicht wäre es normal, ein Gerät zu kaufen und 10 bis 20 Jahre zu nutzen, bis man sich ein neues kauft. Vielleicht gäbe es bei Geräten keine Trends mehr, vielleicht wäre es undenkbar, ein neues Gerät zu wollen, nur, weil es irgendwie moderner, schöner wirkt und ein paar kleine Funktionen zusätzlich hat oder nur ein neues Design.

Vielleicht wäre es seltsam, Fruchtsäffte etc. zu kaufen oder Wasser in Flasche und Wasser aus der Leitung wäre das Hauptgetränk der Menschen. Weil alles andere überflüssig und potenziell auch gesundheitsschädlich ist (Säfte mit viel Zucker) oder selbst hergestellt werden kann (Entsafter).

Vielleicht sind in 200 Jahren Bäder (in der Wanne) veraltet und jeder duscht nur noch für möglichst kurze Zeit, um Wasser zu sparen. Vielleicht ist Haustierhaltung ein Relikt der Vergangenheit. Vielleicht gibt es viel mehr WGs, damit Menschen nicht einsam sind und auch Miete und Wohnraum sparen.

Möglicherweise gibt es keine Ehe mehr, keine Vorteile der Ehe, sondern zahlreiche, gleichberechtigte Formen des Zusammenlebens mit oder ohne Sex, mit einem oder mehreren Partnern. Möglicherweise auch viel stärker altersunabhängig.

Vielleicht gibt es Pflegeheime, die wirklich Zuhause sind und offen, so dass dort auch Menschen aller Altersstufen aus der Umgebung freiwillig Zeit verbringen und ältere Pflegebedürftige nicht die meiste Zeit alleine verbirngen oder mit anderen Pflegebedürftigen oder Pflegern. Insbesondere, wenn man relativ lange dort verbringen könnte (heute soll der Durchschnitt 2 Jahre sein...). Wenn man mit 80 pflegebedürftig wird, aber 90 Jahre alt werden kann, braucht man zwar einerseits Wohnraum und genug Pfleger, aber auch attraktive Wohnformen im Pflegeheim, nicht nur Aufbewahrung bei Minimalleistung. Auch könnte es normal werden, dass Pfleger oder andere Mitarbeiter Bewohner nach draußen begleiten, so dass diese trotz Pflegebedürftigkeit noch am Alltag der anderen Menschen teilnehmen können.

Man könnte mit Abscheu auf unser heutiges Standardessen in Pflegeheimen und KH herabsehen und nicht glauben, dass Menschen so etwas zugemutet wurde.

Was ich mir heute kaum vorstellen kann, aber irgendwie attraktiv fände, wäre die Aufhebung von Ländergrenzen. Also, jeder würde einfach in Orten wohnen, aber nicht mehr in "Deutschland". Damit wären möglicherweise dann Kriege kein Thema mehr, weil es keine Territorien mehr gäbe.

Ebenso die gesamte Unterteilung in Menschengruppen: Inländer, Ausländer, Flüchtlinge. Arbeitnehmer, Arbeitslose. Geistig Behinderte, Hochbegabte, Normalbegabte. Diese ganzen Abgrenzungen die wir aktuell haben nach Einkommensgruppen, Altersgruppen, sexueller Orientierung etc. Nach politischer Haltung, Hobbys, Lieblingssportclubs etc. Möglicherweise wird man sich wundern, wie sich Menschen so einteilen und gegeneinander abgrenzen konnten und mehr Gemeinsamkeiten betonen.


JohnnyB1991  23.09.2024, 06:44

Wirklich extrem gute Antwort

treppensteiger  23.09.2024, 01:52

Schade das man hier noch nicht "die beste Antwort des Tages" bewerten kann.

Die nächste Form des progressiven Denkens ist die Erkenntnis. Die Rückkehr in die Vergangenheit.

Antikarbonisierung zum Beispiel, das ist progressives Denken für mich.

Woher ich das weiß:Hobby

Progressives Denken liegt nach meiner Einschätzung dann vor, wenn das Denken die vertrauten Bahnen verläßt und in neue und bis dahin unbekannte Gefilde vordringt, die als "Bereicherung" erlebt werden können. Das Kriterium der "Bereicherung" ist sehr wichtig, da z.B. die Entdeckung perverserer Tötungsmethoden sicher nicht als Ergebnis progressiven Denkens aufgefasst werden können.

Ob man allerdings alle neu entdecken sexuellen Abartigkeiten dann als Ergebnis progressiven Denkens werten sollte, halte ich für sehr zweifelhaft. Mit welchen Strategien jedoch in einer Partnerschaft die mögliche Monotonie der Begegnungsmöglichkeiten zu überwinden ist, da sind sicherlich progressive Denkprozesse hilfreich.

Gerade auch in der Philosophie, der Psychologie und der Soziologie kann man über die Entdeckung neuer Zusammenhänge, neuer Deutungsmuster, verfeinerter Analysen und innovativer Verhaltenskonzepte über das progressive Denken gute und hilfreiche Entwicklungen fördern.

Ganz besonders ist progressives Denken auch in den Kognitionswissenschaften und bei der Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz gefragt.

Bedenklich finde ich jedoch, Ansätze als progressiv zu bewerten, wo einst gute und hilfreiche Deutungsmuster durch Vereinheitlichung oder Abschaffung von Feinstrukturen oder durch globale Vermischung und Pauschalisierung zu ersetzen ("alle Menschen sind gleich"; "alle Völker sind gleich"; "es gibt beliebig viele Geschlechter" und ähnliche hochproblematische ideologische Ansätze).