Zirkularitätsvorwurf gegen Hans Jonas Minimalethik und Kants Pflichtethik?

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Allgemeines

Jede Aussage, etwas sei wahr bzw. gültig, bedarf einer Begründung. Diese kann z. B. versuchen, dies als evident (offensichtlich/einleutend), stimmig oder aus Denknotwendigkeiten abgeleitet darzulegen.

Eine Begründung ist nicht völlig ohne ein Ausgehen von irgendwelchen Grundlagen möglich.

Gegen Letztbegründungen gibt es einen Einwand, es komme zu einem unendlichen Rückgang (lateinisch: regressus ad infinitum), weil die Begründung wiederum zu begründen ist, zu zirkulärer Argumentation oder zu einem dogmatischen Abbruch.

Gegen einen solchen Standpunkt eines notwendigen Scheiterns von Beweisversuchen bis zu einem letzten Grund ist beispielsweise geltend gemacht worden, ein Weiterfragen in der Begründung sei da nicht sinnvoll, wo dies nicht mehr geeignet ist, eine Information beizutragen, die für die Problemlösung relevant (von Belang ist), bzw. es sei in einer reflexiven Argumentation möglich, etwas als unhintergehbar zu erweisen (etwas mit Hinweis auf einen Widerlegung des kontradikatorischen Gegenteils durch Widersprüche, die sich aus seiner Behauptung ergeben).

Allgemein handelt es sich um eine strittigen Bereich.

In der Ethik sind Begründungen, warum etwas gut oder richtig ist, insofern besonders schwierig, als nicht einfach auf Beschreibungen, wie etwas ist, verwiesen werden kann.

Immanuel Kant

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1. Auflage 1785. 2. Auflage 1786). Drittter Abschnitt. Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt. BA 104 – 111/AA IV, 450 – 453 geht auf einen scheinbaren Zirkel in seiner Ethik ein, der darin besteht, Menschen in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei anzunehmen, um sie in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und dann die Menschen als diesen Gesetzen unterworfen zu denken, weil sie sich die Freiheit des Willens beigelegt haben. Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens seien beides Autonomie, daher Wechselbegriffe, die nicht verwendet werden können, um den anderen zu erklären und von ihm den Grund anzugeben. Es erhebt sich ein Verdacht, zirkulär aus der Freiheit auf die Autonomie und aus dieser aufs sittliche/moralische Gesetz zu schließen, indem die Idee der Freiheit nur um des sittlichen/moralischen Gesetzes willen zugrundelegt wird, um dieses nachher aus der Freiheit zu erschließen. Kant bietet als Lösung eine Unterscheidung von zwei Standpunkten. Der Menschen ist einerseits Sinnenwesen, andererseits Vernunftwesen. Wenn Menschen sich als frei denken, so versetzen sie sich in die Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des Willens mitsamt ihrer Folge, der Moralität. Wenn Menschen sich aber als verpflichtet denken (Gedanke der Pflicht), betrachten sie sich als zur Sinnenwelt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig.

In dem Lexikon der Argumente bezieht sich an der Stelle eine eventuelle Zirkularität auf Formulierungen von Hans Jonas, nicht von Kant.

Die Internetseite, auf die in der Fragebeschreibung hingewiesen wird, ist für das Problem, ob Kants Ethik vorgeworfen werden kann, zirkulär zu sein, unbrauchbar. Es geht dort um Erkenntnistheorie, nicht um Ethik. Außerdem stehen dort falsche Behauptungen. Ein empiristisches Prinzip, im menschlichen Verstand könne nichts enthalten sein, was nicht zuvor in den Sinnen war, ist von John Locke vertreten worden, aber nicht von Aristoteles. Kants Ablehnung dieses empiristischen Prinzips verwirft nicht etwas, das richtig ist. Denn es gibt wirklich beim Erkennen etwas, das erfahrungsunabhängig (a priori: vor aller Erfahrung) ist. Kategorien, die der Verstand bei der gedanklichen Bearbeitung von Eindrücken von Gegenständen der Erfahrung verwendet, sind nicht nur erst nachträglich aus der Erfahrung gewonnen. Begriffliches Denken ist nicht allein über Sinneswahrnehmung möglich. Als eine ganz grundlegende Denknotwendigkeit ist der Satz von (zu vermeidenden) Widerspruch heranzuziehen, der Erfahrungen vorausgeht.

Erfahrung der Sinne (äußere und innere Sinneswahrnehmung) allein enthält nicht Notwendigkeit und Allgemeinheit, weil es von Notwendigkeit und Allgemeinheit keine direkte Wahrnehmung gibt. Wenn in der Erfahrung zeitlich auf eine bestimmte Art von Dingen eine andere bestimmte Art von Dingen folgt, ist damit allein nicht eine Notwendigkeit und Allgemeinheit des Abfolgens erwiesen. Eine Anzahl solcher Fälle bedeutet noch nicht, in Zukunft werde es auch immer so sein. Es ist ein Denken über Verursachung nötig. Dabei ist der Verstand tätig und verwendet Kategorien wie Kausalität und Dependenz (Ursache und Wirkung), Notwendigkeit und Zufälligkeit. 

Hans Jonas

1) ethische Grundgedanken

Hans Jonas ergänzt mit seinem neuen Imperativ den von Immanuel Kant dargelegten kategorischen Imperativ, wie er in einer auf den Menschen als Zweck an sich selbst bezogenen Fassung zum Ausdruck kommt.

Aufgrund einer inzwischen vorhandenen Möglichkeit zu Vernichtung einschließlich einer Selbstauslöschung der Menschheit und einer Zerstörung des Planeten Erde stellt Hans Jonas ein erstes Gebot der Ethik auf, das als Bezug auf die Zukunft und Überlebenschancen gedacht ist. Ein dauerhaftes Überleben der Menschheit ist nicht gesichert und keine Selbstverständlichkeit. Daher gehört zur Verantwortung, an ihre Erhaltung zu denken und dies bei Entscheidungen zu berücksichtigen.

Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. 1. Auflage. Frankfurt am Main : Insel-Verlag, 1979, S. 36:

„Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“

Dabei geht es vor allem um das Vermeiden eines Risikos einer umfassenden Vernichtung.

Hans Jonas versucht Pflichten gegenüber Angehörigen zukünftiger Generationen und gegenüber der nicht-menschlichen Natur zu begründen.

Es soll vermieden werden, etwas zu tun, was das Überleben der Menschheit gefährdet. Für dieses Gebot der Existenz/des Erhaltens der Menschheit und der Biosphäre versucht Hans Jonas eine Begründung zu geben.

Der Gedankengang in seinen großen Schritten ist:

a) Versuch des Aufweisens einer objektiven Zweckhaftigkeit des Seins/der Natur in sich, unabhängig von menschlicher Deutung

b) Versuch, die Zweckhaftigkeit als ein Gut an sich zu zeigen

c) Ableitung einer kategorischen Pflicht zur Erhaltung dieses Gutes aus diesem Gut

Hans Jonas vertritt als Grundannahme die Auffassung, es gebe in der Natur die Erfüllung von Zweckhaftigkeit, eine Zielausrichtung auf die Selbsterhaltung und das Nutzen von Möglichkeiten zur Weiter- und Höherentwicklung, eine dem Ganzen innewohnende Selbstbejahung. Bei dem Zweck, wozu etwas da ist oder geschieht, sei der Sachverhalt der Zweckerfüllung unabhängig von subjektiver Setzung/Beurteilung/Überzeugung.

Werte werden von Zwecken abgeleitet. Der Wert bezeichnet die Tauglichkeit für das Erreichen von Zwecken. Etwas an sich Gutes hat einen ihm innewohnenden Anspruch auf seine Wirklichkeit. Der Wert des Guten darin gründet letztlich darin, den Zweck als der Zwecklosigkeit überlegen zu verstehen, dem Sein Vorrang vor dem Nichts zu geben (Sein ist besser als Nichtsein).

Der Mensch ist das einzige Wesen, das Verantwortung übernehmen kann. Aus diesem Können folgt bei Hans Jonas ein Sollen. Die Menschheit ist zur Existenz und zu einer bestimmten Qualität des Lebens (Wohlergehen und Glück gehören dazu) verpflichtet. Die Menschen stehen in einem Treueverhältnis zur Welt. Träger von Verantwortung sind verpflichtet, das Dasein künftiger Verantwortungsträger zu ermöglichen.

Da nützliche Folgen zum Kriterium werden, rückt seine Ethik in die Nähe des Utilitarismus. Sie teilt damit dessen Schwächen (so ist das Krierium des Nutzens nicht selbst utilitaristisch als aufweisbar und bei einer Gesamtbilanz des Nutzens fehlt für die Verteilung von Nutzen und Schaden auf Individuen ein Prinzip, das Gerechtigkeit herstellt); der „neue Imperativ“ ist (gegenüber dem kategorischen Imperativ) ein weniger allgemeines Prinzip, das sich nicht auf alle Arten von Handlungssituationen bezieht, sondern auf bestimmte Arten von Handlungssituationen beschränkt ist. Denn nicht alle Handlungen beeinflussen die Überlebensmöglichkeiten der Menschheit und die Erhaltung der Biosphäre. Es gibt moralisch relevante Entscheidungen, die nicht zum Anwendungsbereich des „neuen Imperativs“ gehören. Dieser ist auf ganz elementare Dinge ausgerichtet.

2) Vorwurf der Zirkularität

Eine Zirkularität wird bei den genannten Formulierungen nicht konkret aufgezeigt, sondern nur auf eine Möglichkeit, sie zirkulär zu nennen, ohne Entscheidung, ob dies berechtigt ist.

In den genannten Formulierungen ökologischen Imperativen einer Minimalethik ist nichts offenkundig zirkulär.

Für eine derartige Untersuchung sind die Begründungen passender.

Zirkulär wäre beispielweise (kein Zitat, sondern nur hypothetisch): Der Mensch ist zu Verantwortung verpflichtet, weil er Verantworung schuldet.

Wer Hans Jonas Zirkularität vorwerfen will, hat die Aufgabe, ihm eine tatsächliche Begründung dieser Art nachzuweisen.

  • Es gibt einen Vorwurf der Zirkularität, der sich auf eine Argumentation bei Hans Jonas bezieht, die auf Intuition verweist, so in einem Beispiel auf einen Säugling, der als zu schützen wahrgenommen wird. Intuitiv werde im Verantwortungsgefühl das Sollen einer Verantwortungsübernahme erfasst.

Wenn bei Vorstellungen von den Fernwirkungen die Aufbietung eines dem Vorgestellten angemessenen Gefühls (vor allem der Furcht vor zukünftiger Bedrohung) Pflicht sein soll, aber sich das angemessene Gefühl nicht einfach von selbst einstellt, ist fragwürdig, wie Intuition dabei als Methode zur Wertwahrnehmung geeignet ist. Um ein angemessenes Veranwortungsgefühl aufbringen zu können, ist es notwendig, über ein Kriterium für die Angemessenheit von Gefühlen zu verfügen. Bei den Kriterien (Maßstäben) ist die auf Intuition verweisende Argumentation von Hans Jonas zirkulär. Einerseits wird vorausgesetzt, das moralische Subjekt verfüge schon über einen Maßstab für die Angemessenheit von Gefühlen, andererseits wird gedacht, dieser Maßstab sei durch die Intuition selbst gegeben.

solche Einwände zum Intuitionismus:

Micha H. Werner, Dimensionen der Verantwortung: Ein Werkstattbericht zur Zukunftsethik von Hans Jonas. In: Ethik für die Zukunft : im Diskurs mit Hans Jonas. Herausgegeben von Dietrich Böhler in Verbindung mit Ingrid Hoppe. München : Beck, 1994 (Ethik im technischen Zeitalter), S. 303 – 338

eine überarbeitete Fassung im Internet:

https://www.micha-h-werner.de/Werner-1994.htm

  • Denkbar ist auch ein auf eine naturphilosophisch-metaphysische Argumentation bezogener Vorwurf einer zirkulären Begründungsstruktur in der Ethik der Verantwortung, einerseits eine Existenz der Menschheit zu fordern und mit der Verantwortung gegenüber einer allgemeinen Seinsforderung zu begründen, andererseits die Verantwortung selbst als eine Wesenseigenschaft des Menschen (Wesenseigenschaft der Gattung, die sich in den einzelnen Menschen verwirklicht) zu verstehen.