Wie kann es verschieden große Unendlichkeiten geben?

6 Antworten

Der intuitive Fehlschluss ist, unendlich als eine Anzahl aufzufassen. Zu sagen, eine Menge hat unendlich viele Elemente heißt, die Menge hat nicht endlich viele Elemente - aber das ganze als Gegenteil zu einer beliebigen endlichen Anzahl aufzufassen, geht schief. Hat man zwei Mengen unterschiedlicher Kardinalitäten, kann man nicht sagen, dass die eine Menge mehr Elemente enthält.

Im Wesentlichen kann man Mengen bzgl. der "Größe"/Kardinalität in zwei Klassen unterteilen: Endliche Mengen und - das Gegenstück - unendliche Mengen. Dabei gibt es aber viele verschiedene unendliche Mengen, genauso wie es verschiedene endliche Mengen gibt. In der Mathematik klassifiziert man unendliche Mengen dann noch weiter in abzählbare und überabzählbare Mengen. Dabei heißt eine Menge abzählbar, wenn man die Elemente hintereinander aufstellen und mit Hausnummern versehen kann, sodass

  1. jedes Element genau eine eindeutige Hausnummer 1,2,3, ... hat und
  2. jede Hausnummer eindeutig (!) zu genau einem Element gehört.

Oder formal: Eine Menge heißt abzählbar unendlich, wenn eine Bijektion zwischen dieser Menge und IN existiert.

Zum Beispiel ist die Menge der natürlichen Zahlen trivialerweise abzählbar unendlich, wenn man als Hausnummern einfach die Zahlen selbst wählt. Genauso ist aber die Menge der ganzen Zahlen abzählbar unendlich, denn stellt man sie à la



hintereinander auf, formal kann man sich das so überlegen, dass die positiven Zahlen genau mit den ungeraden und die negativen Zahlen genau mit den geraden Hausnummern korrespondieren. Dass die Mengen beide abzählbar unendlich sind, heißt aber nicht, dass sie gleich viele Elemente haben.

Die Eigenschaft, gleich viele Elemente zu haben, macht nur im endlichen Kontext Sinn. Deshalb verallgemeinert man das auf den Begriff der Mächtigkeit/Kardinalität.

Weiter heißt eine Menge überabzählbar, wenn sie nicht abzählbar ist, d.h. wenn obiges Verfahren genau nicht funktioniert. Kann das überhaupt schief gehen? Ja!

Betrachten wir einfach mal das Intervall (0, 1), also die Menge aller reellen Zahlen zwischen 0 und 1. Nehmen wir mal an, wir können das Spiel mit den Hausnummern so treiben wie oben, benennen wir gleich die Nachkommastellen entsprechend, können wir die Zuordnung so beschreiben:



Wenn wir jetzt eine Zahl in (0, 1) finden, die definitiv nicht von dieser Zuordnung getroffen wird, wären wir fertig. Schauen wir uns mal die Zahl an, die wir bilden, indem wir alle unterstrichenen Nachkommastellen nehmen und jede einzelne um 1 abändern. Ist a_11 = 3, machen wir 4 draus, ist a_33 = 9, machen wir 8 draus, usw. Dann haben wir eine Zahl



gefunden und die ist:

  • nicht gleich der ersten Zahl oben, weil die erste Nachkommastelle verschieden ist.
  • nicht gleich der zweiten Zahl oben, weil die zweite Nachkommastelle verschieden ist.
  • nicht gleich der dritten Zahl oben, weil die dritte Nachkommastelle verschieden ist.
  • ...

Und das können wir für jede Nachkommastelle anwenden, weil reelle Zahlen unendlich viele Nachkommastellen haben dürfen. Sie wird also nicht von der Zuordnung getroffen. Das heißt, was wir gerade gezeigt haben: Wenn wir irgendeine Zuordnung von Hausnummern auf Zahlen in (0, 1) gegeben haben, können wir immer noch eine Zahl finden, die von dieser Zuordnung nicht getroffen wird - also keine Hausnummer hat. Damit sind die reellen Zahlen nicht abzählbar unendlich.

Jetzt kurz dazu, wann man zwei Mengen gleichmächtig nennt: Im endlichen Fall natürlich genau dann, wenn sie gleich viele Elemente haben. Im unendlichen Fall nennt man zwei Mengen gleichmächtig, wenn man die eine Menge wieder so hintereinander aufstellen kann, sodass man jede Zahl daraus so wie oben mit einer Hausnummer versehen kann - nur dass die Hausnummer in diesem Fall aus genau der anderen Menge kommt.

Oder formal: Zwei Mengen sind gleichmächtig, wenn eine Bijektion zwischen ihnen existiert.

Man kann nun ähnlich wie oben zeigen, dass eine Menge M und ihre Potenzmenge P(M) niemals gleichmächtig sind, wobei man als Potenzmenge von M die Menge bezeichnet, die aus allen Teilmengen von M besteht, formal:



Und die Tatsache, dass eine Menge nie gleichmächtig zu ihrer Potenzmenge ist, gibt uns die Möglichkeit, verschiedene "Mächtigkeitsklassen" zu definieren, wobei man bei den natürlichen Zahlen IN anfängt:



Diese Mengen sind alle nicht gleichmächtig, geben uns also Repräsentanten verschiedener Arten unendlicher Mengen. Diese Repräsentanten nennt man



und das sind die "verschiedenen Unendlichkeiten", von denen auch im Video gesprochen wird. (Man kann übrigens auch zeigen, dass die reellen Zahlen IR gleichmächtig zur Potenzmenge P(IN) von IN sind).

Trotzdem bieten die Kardinalitätsklassen keine wirkliche Verallgemeinerung des Begriffes unendlich als Gegenstück zu endlich, sondern splitten unendliche Mengen eher einfach in verschiedene "Arten" auf. Genauso wie man bei endlichen Mengen sagen kann, dass sie 2, 12, 56 Elemente haben, kann man bei unendlichen Mengen also sagen, dass die Mächtigkeit in der Klasse Aleph 2 liegt.

LG


2oh49t 
Beitragsersteller
 04.08.2020, 19:16

Also, ich danke dir wirklich für diese sehr lange und ausführliche Antwort, aber ich fürchte, das übersteigt meinen Horizont.
Trotzdem danke für die Antwort.

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Willibergi  06.08.2020, 16:26
@2oh49t

Ich habe versucht, es möglichst bildlich zu erklären. Du darfst gerne nachfragen, wenn du etwas nicht verstehst.

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Zwei Mengen sind dann gleich mächtig, wenn es eine bijektive Abbildung zwischen ihnen gibt. Nun lässt sich leicht zeigen, dass eine solche Abbildung zwischen den natürlichen und den rationalen Zahlen existiert

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Cantors_erstes_Diagonalargument

Es gibt also genauso viele natürliche Zahlen wie rationale Zahlen.

Fast genauso einfach lässt sich zeigen dass eine solche Abbildung zwischen den natürlichen und den reellen Zahlen NICHT existieren kann.

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Cantors_zweites_Diagonalargument

Es gibt also mehr reelle als natürliche Zahlen.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Dipl.Math.

Alle reellen Zahlen zwischen 1 und 2 sind unendlich und zwar mehr unendlich als alle natürlichen Zahlen

Das Problem dahinter ist dass man sich das ganze nicht vorstellen kann weil man sich schon unendlich alleine nicht vorstellen kann.

Mit hat dabei aber die Cantor Abzählbarkeit geholfen. Auch Cantors erstes Diagonalargument genannt. Wenn man sich das auf die Rationalen und Reellen Zahlen angewendet denkt, sieht man schnell dass es mehr Relle Zahle als Rationale geben muss wobei es von beiden unendlich viele gibt.

Darüber streiten sich auch die Mathematiker seit Jahren. Nimm's einfach als superintelligente Spielerei, der wir Normalbürger nicht folgen können.


rumar  03.08.2020, 21:09

"Darüber streiten sich auch die Mathematiker seit Jahren."

NEIN.

Über dieses Thema streiten seit über 100 Jahren kaum noch solche Menschen, die von Mathematik etwas verstehen !

Strittige Themen bzw. ungelöste Rätsel gibt es aber auch im Bereich der Mathematik noch viele.

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rumar  03.08.2020, 22:02
@StkKlaus

Naja, schön. Ultra-Finitisten und ähnliche seltene Arten ...

Aber die streiten sich doch gar nicht mehr, sondern publizieren einfach auf überlappungsfreien Plattformen ...

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