Wer findet Hundert Jahre Einsamkeit auch so schlecht?

2 Antworten

Vom Beitragsersteller als hilfreich ausgezeichnet

Auch ich.

Ich meine, dass Marquez einer der sehr wenigen Menschen der Welt ist, der jeden vieler Romane fast völlig anders schreiben kann, vielleicht sogar will.

Da ich seit Jahrzehnten den magischen Realismus liebe, selbst Kurzgeschichten und Romane auch ´mal derart schreibe, denke ich,

Hundert Jahre... ist kein magischer Realismus, sondern eine real-satirische Darstellung einer Dorfbevölkerung, die mit abergläubischen Ritualen ihrer Religion lebt und sich daraus zumeist entsetzlich primitiv den Alltag erklärt und auch noch so handelt,

Liebe in den Zeiten... ist magischer Realismus, weil man diese lebenslange unbefriedigende Liebesgeschichte als real annehmen kann UND erst am Ende augenscheinlich auf magischer Ebene in den Frohsinn durch glückliche Erfüllung des Lebens erhoben wird. Leider gibt es noch keine mehrteilige, um viel mehr die so feinen Details des Romans darzustellen, Verfilmung dieser epischen Poesie.


PierreVL 
Beitragsersteller
 22.09.2024, 15:49

Vielen Dank! Ja, das sehe ich auch so! Ich fand auch die Stimmung in der "Liebe in den Zeiten der Cholera" viel verzauberter und "magischer", obwohl ja gar nichts übernatürliches passiert. Ich muss da gerade an Tzvetan Todorov denken, der den phantastischen Roman so definiert, dass man immer in der Schwebe bleibt, ob sich die Ereignisse natürlich erklären lassen oder nicht. Nun ist die Liebe in den Zeiten der Ch. sicher kein phantastischer Roman, aber trotzdem bleibt man ähnlich in der Schwebe, ob diese lebenslange Liebesgeschichte eine realistische Erzählung sein will oder ob sie eher ein großer, langer, verzauberter Traum ist.

Skoph  24.09.2024, 07:52
@PierreVL

Genau dies empfinde ich auch als "wachsende Leichtigkeit trotz Melancholie der unerfüllten Liebesbeziehung" im Roman, aber bei Hundert Jahre... dachte ich: "Was sind das denn für bescheuerte Neandertaler!? Muss man das wirklich wissen?"

PierreVL 
Beitragsersteller
 24.09.2024, 07:56
@Skoph

Danke! Ja, das beschreibt ganz genau meine eigene Empfindung!

Nicht exzeptionell schlecht, aber: nichts für mich.

Ich habe mehr als nur ein paar dutzend Seiten gelesen und keinen Zugang gefunden. Die weiteren Werke habe ich - wenn überhaupt - nur kurz angelesen und bald aufgegeben.

Dagegen fand ich die Autobiographie von Gabriel García Márquez anregend und interessant; 2002 Vivir para contarla (Leben, um davon zu erzählen, dt. von Dagmar Ploetz; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002, ISBN 3-462-03028-0.

Leben, um davon zu erzählen, dt. von Dagmar Ploetz; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002, ISBN 3-462-03028-0. (Autobiografie)


Fontanefan  22.09.2024, 07:33

Ich habe gerade ein Lesezeichen bei S.34 entdeckt. Das Buch öffnet sich auch auf S.210, die Rezension von "Der Herbst des Patriarchen" lag etwa bei Seite 110. Ich habe es also versucht, hineinzufinden, aber vergeblich.

Fontanefan  22.09.2024, 08:49
@Fontanefan

Es geht auch bei "100 Jahre ...": "Er fühlte, wie Amarantas Finger, wie warme, begierige Würmer seinen Bauch absuchten. So drehte er sich zum Schein im Schlaf zu ihr um, um jede Schwierigkeit auszuschalten, und fühlte die Hand ohne schwarze Binde, wie eine blinde Moluske zwischen die Algen seines Sehnens tauchen. Wenngleich sie so taten, als wüssten sie nicht, was sie beide wussten, und wovon jeder von beiden wusste, dass der andere es wusste, waren sie von jener Nacht an durch eine unverbrüchliche Mitwisserschaft aneinander gekettet." (S.113). 

Er kann es, aber er versteckt es unter Klamauk. Und der ist - Millionen Leser bezeugen es - offenbar eben so oder weit besser gekonnt, aber leider nichts für mich.

PierreVL 
Beitragsersteller
 22.09.2024, 07:17

Ok, immerhin :) Ich war einfach total enttäuscht, weil ich die Liebe in den Zeiten der Cholera echt schön fand. Das fandst du also auch nicht gut?

Fontanefan  22.09.2024, 07:27
@PierreVL

Ich habe positive Rezensionen gelesen, aber keinen ernsthaften Versuch gemacht, mich hineinzufinden. Hundert Jahre Einsamkeit hat mich erfolgreich abgeschreckt.

Noch steht das Buch im Regal. Eingelegt ist eine Rezension (29.4.78) von "Der Herbst des Patriarchen". Ich bin überzeugt, dass Márquez ein bedeutender Autor ist, aber ich habe den Zugang zu seinem Werk 1976 verpasst.

PierreVL 
Beitragsersteller
 22.09.2024, 07:32
@Fontanefan

Ok, verstehe! :) Also bei mir ist die Lektüre (von der Liebe i.d.Z.d.C.) schon an die 20 Jahre her. Aber ich habe ein Buch in Erinnerung, wo der Autor sehr liebevoll seine Figuren entwickelt, mit ein bisschen Spleen und Weltfremdheit, aber insgesamt doch realistisch und sehr einfühlsam und berührend. Überhaupt nichts von dem Klamauk und Hokuspokus von 100 Jahre Einsamkeit. Also, falls du es irgendwann nochmal probieren möchtest! :D

Fontanefan  22.09.2024, 07:45
@PierreVL

Ich denke, ich habe gelegentlich kürzere Texte von Márquez gelesen. Von der Autobiographie hätte ich bestimmt mehr gelesen, wenn er sie weitergeführt hätte. Ich habe ihm also irgendwo Gerechtigkeit widerfahren lassen können. Aber es gibt viel zu viel anderes, als dass ich mir das Buch anschaffen würde. Wenn es mir in die Hände fiele, würde ich zwar den Versuch machen; aber selbst jetzt bin ich immer noch skeptisch. Meine Gratulation, dass du einen Zugang zur "Liebe ..." gefunden hast!

Fontanefan  22.09.2024, 09:00
@Fontanefan

Es geht auch bei "100 Jahre ...":

"Er fühlte, wie Amarantas Finger, wie warme, begierige Würmer seinen Bauch absuchten. So drehte er sich zum Schein im Schlaf zu ihr um, um jede Schwierigkeit auszuschalten, und fühlte die Hand ohne schwarze Binde, wie eine blinde Moluske zwischen die Algen seines Sehnens tauchen. Wenngleich sie so taten, als wüssten sie nicht, was sie beide wussten, und wovon jeder von beiden wusste, dass der andere es wusste, waren sie von jener Nacht an durch eine unverbrüchliche Mitwisserschaft aneinander gekettet." (S.113). 

Hier spürt man, dass er sich in seine Personen einfühlt. Er kann es, aber er versteckt es unter Klamauk. Und der ist - Millionen Leser bezeugen es - offenbar ebenso oder sogar weit besser gekonnt, aber leider nichts für mich.