Was versteht man unter Selektion, Selektionsdruck und wenn die Allelfrequenz ansteigt?

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Selektion bedeutet nichts anderes als "Auslese" oder "Auswahl". In der Evolutionsbiologie sind damit vor allem zwei Formen der Auslese gemeint, erstens die natürliche Selektion und zweitens die sexuelle Selektion.

Natürliche Selektion manifestiert sich durch eine Varianz der Lebewesen in ihrem Überlebenserfolg. Merkmale sind innerhalb einer Population nicht konstant, sondern variabel. Das kann z. B. die Körpergröße sein. Manche Individuen sind etwas größer, andere sind durchschnittlich groß, wieder andere sind kleiner. Die Selektion kommt nun durch die Umwelt zur Wirkung. Manche Individuen sind an ihre Umwelt besser angepasst als andere. Ist es z. B. sehr kalt (arktisches Klima) ist es vorteilhaft, groß zu sein, denn ein großer Körper besitzt in Relation zu seinem Volumen eine kleinere Oberfläche und verliert daher nicht so viel Wärme. In einer kalten Umgebung werden deshalb diejenigen Individuen, die größer sind, selektiert (ausgewählt). Sie überleben im kalten Klima eher, während ihre kleineren Artgenossen schlechtere Überlebenschancen haben und frühzeitig sterben (sie werden aussortiert oder ausselektiert). Weil die großen Individuen länger leben, pflanzen sie sich erfolgreicher fort und vererben ihre Gene, die ihnen diesen evolutionären Vorteil (die Größe) verschafft haben, an ihre Nachkommen weiter. Der Druck, den die Umwelt auf die Individuen ausübt und sie zur Anpassung zwingt, wird Selektionsdruck genannt. Er lastet am stärksten auf jenen, die schlechter angepasst sind und diesem Druck daher nicht standhalten können.

Der Selektionsdruck bewirkt, dass sich Merkmalsverteilungen innerhalb einer Population verschieben können. Wir unterscheiden deshalb unterschiedliche Formen der natürlichen Selektion, je nachdem, wo der Selektionsdruck lastet. Wirkt der Selektionsdruck vor allem auf die Extremwerte einer Merkmalsverteilung und begünstigt den Durchschnittswert, bezeichnet man dies als stabilisierende Selektion. Gerichtet oder transformierend ist die Selektion, wenn sie nur auf einer Seite wirkt und die Merkmalsverteilung somit in eine Richtung verschiebt (z. B. hin zu "größer"). Und schließlich kann Selektion auch spaltend oder disruptiv wirken, der Selektionsdruck wirkt dann vor allem auf den Durchschnitt und die beiden Extremwerte einer Merkmalsverteilung werden begünstigt. Man stelle sich z. B. eine Vogelart vor. Innerhalb der Population gibt es verschiedene Merkmalsausprägungen des Merkmals Schnabellänge, z. B. klein, mittel und groß. Wir stellen uns nun vor, die Vogelart lebt in einem Gebiet, in dem es sehr viele kleine Samen und sehr viele große Samen gibt. Ein kleiner Schnabel ist gut geeignet, um damit kleine Samen zu picken, kann aber keine großen Samen knacken. Ein großer Schnabel kann die harten und großen Samen knacken, für kleine Samen ist er nicht geeignet. Ein mittelgroßer Schnabel ist aber weder geeignet, um daimt kleine Samen zu sammeln (er ist zu groß) noch, um damit die großen Samen zu knacken (er ist zu schwach). In diesem Fall wirkt die Selektion daher disruptiv und es werden Vögel mit großem und mit kleinem Schnabel selektiert, während die mit mittelgroßem Schnabel aussterben. Disruptive Selektion kann daher zu einer Aufspaltung einer Population in zwei Teilpopulationen innerhalb eines Lebensraumes führen und damit die sympatrische Artbildung fördern. Das ist dann der Fall, wenn beide Populationen lange genug voneinander in ihrer Fotpflanzung getrennt sind, bis sie sich nur noch mit solchen Individuen der gleichen Population fortpflanzen können.

Sexuelle Selektion dagegen bezeichnet nicht die Varianz im Überlebens- sondern im Reproduktionserfolg. Manche Männchen haben z. B. einen höheren Fortpflanzungserfolg als andere, weil sie auf Weibchen attraktiver wirken. So bevorzugen Pfauenhennen solche Männchen, die ein besonders schönes und großes Rad schlagen können. Diese Männchen haben höchstwahrscheinlich die besten Gene und daher lohnt es sich, sich mit einem solchen Männchen zu paaren.

Gespeichert sind die Merkmale in der DNS in Form von Genen. Ein Gen ist somit sozusagen der Bauplan für ein Merkmal. Ein Gen kann aber verschiedene Ausprägungsformen haben. Diese Gen-Varianten werden Allele genannt. Die Gesamtheit aller Allele in einer Population wird als Genpool bezeichnet (dieser Begriff hat sich durchgesetzt, obwohl er eigentlich demnach falsch ist. Man sollte besser von einem Allelpool sprechen). Die Häufigkeit, mit der ein Allel in einer Population vertreten ist, wird als Allelfrequenz bezeichnet. Hat ein Allel z. B. eine Frequenz von 0.4, dann bedeutet es, dass sein Anteil am Genpool 40 % beträgt. Nehmen wir an, es gibt von einem bestimmten Gen zwei verschiedene Varianten, also zwei Allele. Wir nennen sie q und p. Jedes Individuum besitzt einen diploiden Chromosomensatz, das heißt, jedes Gen kommt auch doppelt in einem Organismus vor, wobei man das eine Allel vom Vater und das andere von der Mutter geerbt hat. Sind das väterliche und das mütterliche Allel identisch, so spricht man von Homozygotie. In unserem Beispiel gibt es zwei Möglichkeiten für Homozygotie: qq oder pp. Von Heterozygotie spricht man, wenn die Allele verschieden sind. Ein homozygotes Individuum hätte also folgende Allelausstattung: pq.

Nun müssen wir uns ein wenig mit dem Hardy-Weinberg-Gleichgewicht beschäftigen. Es ist ein theoretisches Modell zur Berechnung von Allel- und Genotypfrequenzen in idealen Populationen. In einer idealen Population gibt es weder Zu- noch Abwanderung von bzw. nach außen, Selektion findet nicht statt und alle Individuen können sich uneingeschränkt miteinander fortpflanzen (Panmixie). Mit Hilfe der Hardy-Weinberg-Gleichung lässt sich die Allelfrequenz der einzelnen Allele berechnen. Es gilt folgende Beziehung:



Berechnet man die Frequenzen für mehrere Generationen, stellt man fest, dass sich die Allelfrequenzen in den einzelnen Generationen nicht verändern, sondern konstant bleiben. Kommt in einer idealen Population das Allel q z. B. mit 40 % vor und das Allel mit 60 %, so ändert sich diese Frequenz nicht. Man sagt, die Population befindet sich im Hardy-Weinberg-Gleichgewicht (HWE).

In der Realität gibt es jedoch keine idealen Populationen. Das HWE ist deshalb ein so genanntes Null-Modell. In Wirklichkeit kommt es in wirklichen Populationen aber immer wieder dazu, dass Individuen zu- und abwandern. Außerdem können sich nicht alle Individuen einer Population gleichermaßen miteinander fortpflanzen, denn das Dispersal einzelner Individuen ist begrenzt und somit sind z. B. Individuen am einen Ende einer Verbreitungsgrenze einer Art unter Umständen für Individuen am anderen Ende nicht erreichbar. Und außerdem bewirkt die natürliche Selektion, dass ein bestimmtes Allel in der jeweiligen Umwelt möglicherweise von Vorteil ist. Daher weichen natürliche Populationen mehr oder weniger stark vom HWE ab. Trotzdem befinden sich Populationen oft sehr nahe am HWE. Nehmen wir nun an, dass zwei benachbarte Populationen miteinander in genetischem Austausch stehen (es kommt zum Genfluss), verändern sich die Allelfrequenzen der Population und weichen von dem Wert ab, den man erwarten würde, wenn die Population sich im HWE befände. Ist eine Population nicht im HWE, ist das deshalb ein Hinweis darauf, dass es hier Genfluss aus anderen Populationen geben könnte.

Auch zufällige Ereignisse können bei der Verteilung von Allelfrequenzen eine Rolle spielen. Diese werden als Gendrift bezeichnet. Man unterscheidet hierbei zwischen Gründereffekt und dem genetischen Flaschenhals. Vom Gründereffekt spricht man, wenn ein Teil der Population eine neue Population begründet, etwa wenn einige Individuen eines Vogelschwarms von einem Sturm auf eine entlegene Insel verdriftet werden. Sie gründen dort eine neue Population und weil sie nur einen Teil des ursprünglich viel größeren Genpools repräsentieren, fehlen unter Umständen einige Allele in der neuen Population. Auch kann nun ein Allel, das zuvor sehr selten war, plötzlich viel häufiger sein, es kam zu einem Anstieg der Allelfrequenz. Seltene Allele können sich beim Greifen des Gründereffekts daher in einer Population etablieren, wie werden fixiert. Das gilt selbst dann, wenn das Allel in der Ursprungspopulation eigentlich nachteilig gewesen ist.
Vom genetischen Flaschenhals spricht man, wenn eine Population durch ein zufälliges Ereignis wie eine Naturkatastrophe, z. B. einen Vulkanausbruch oder eine Seuche, stark dezimiert wird und nur wenige Individuen übrig bleiben. Auch sie repräsentieren dann nur einen kleinen Ausschnitt des ursprünglichen Genpools mit ähnlichen Folgen wie beim Gründereffekt. Ist die Anzahl der Individuen so gering, dass es dabei zu einem genetischen Austausch zwischen Verwandten (Inzucht) kommt, wird außerdem der Anteil homozygoter Träger in der Population steigen - es werden ja immer wieder die gleichen Allele miteinander gemischt und Verwandte haben mit großer Wahrscheinlichkeit identische Allele. Daher ist ein hoher Anteil homozygoter Individuen in einer Population ein Hinweis darauf, dass eine solche Population durch einen genetischen Flaschenhals gegangen sein kann und infolge von Inzucht genetisch verarmt ist.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig

Ottavio  21.01.2020, 17:30

Ein wahrhaft stattlicher Wortschwall, gegen den schwerlich anzustinken ist.

Aber würdest Du im Ernst tatsächlich sagen, dass der Selektionsdruck auf dem Individuum lasten, nicht auf der Population ? Ein Individuum kann sich doch gar nicht genetisch anpassen, der Druck kann nur seinen Untergang bzw. mangelhafte Vermehrung bewirken.

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Darwinist  21.01.2020, 18:02
@Ottavio

Ja, Selektion wirkt auf der Ebene der Individuen. Denn selektiert werden kann nur am Phänotyp, also dem, was Gene bewirken. Als "erweiterter Phänotyp" schließt dies sämtliche Wirkungen von Genen mit ein, nicht nur die, die sich im eigentlichen Phänotyp manifestieren, sondern auch solche Gene, die sich auf das Verhalten eines Individuums auswirken, z. B. die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen oder besonders vorsichtig zu sein. Innerhalb einer Population lastet aber auf jedem Individuum der gleiche Selektionsdruck, denn alle Individuen leben ja in der gleichen Umwelt unter den gleichen Bedingungen. Dabei werden solche Individuen bevorzugt, die mit dem auf ihnen lastenden Druck am besten klar kommen, weil sie (zufällig) aufgrund ihrer Merkmalsausprägung einen Überlebensvorteil besitzen. Ich habe es vielleicht etwas unglücklich formuliert, der Selektionsdruck zwingt die einzelnen Individuen nicht zur Anpassung (obwohl natürlich jedes Individuum auf Umweltparameter schon einen gewissen Spielraum besitzt und diesen auch ausschöpft) in dem Sinne, dass sie sich genetisch anpassen. Das können sie gar nicht, denn das würde lamarckistische Evolution bedeuten, bei der man davon ausging, Lebewesen würden im Lauf des Lebens erworbene Eigenschaften vererben (dass dies nicht der Fall ist, sollte ich vielleicht an einem kurzen Beispiel skizzieren: ein Bodybuilder trainiert sich im Lauf seines Lebens einen muskulösen Körper an. Lamarcks Theorie zufolge würde er diesen athletischen Körperbau an seine Nachkommen vererben. In Wahrheit muss sein Nachwuchs aber, wenn er so aussehen will, wohl oder übel auch Krafttraining machen, erworbene Eigenschaften können daher, mit Ausnahme epigenetischer Muster -aber das ist ein ganz anderes Thema- nicht vererbt werden). Was der Selektionsdruck macht ist, dass er viel eher jene auswählt, die bereits am besten an ihre Umwelt angepasst sind (daher heißt es ja auch survival of the fittest, also zu deutsch: Überleben des Angepasstesten). Diese Individuen haben eine höhere biologische Fitness (das Vermögen, seine eigenen Allele erfolgreich im Genpool zu verbreiten) als jene, die schlechter angepasst sind. Im Extremfall geht die biologische Fitness der weniger angepassten gegen Null, weil sie sterben, noch ehe sie auch nur einen einzigen Nachkommen gezeugt haben.

Es braucht nicht viel Vorstellungskraft, was nun passiert. Da die angepassten Überlebenden einen höheren Fortpflanzungserfolg haben, werden sich ihre Allele im Genpool auch stärker ausbreiten, d. h. mit höherer Freqeuenz vorkommen.

Was nun folgt, ist die gleiche Prozedur von vorne. In der neuen Generation gibt es wieder eine bestimmte Varianz, möglicherweise kommen durch Mutationen auch neue Varianten (Allele) hinzu oder durch Zuwanderung von außen. Auch auf die neue Generation wirkt (auf jedes einzelne Individuum) der Selektionsdruck und abermals werden diejenigen unter ihnen selektiert, die am besten angepasst sind. Sie haben einen größeren Reproduktionserfolg und verbreiten daher ihre Allele erfolgreicher. Auf diese Weise nimmt schließlich die Frequenz der besonders vorteilhaften Allele zu, während die der nachteiligen Allele abnimmt, ein ganz und gar überhaupt nicht erfolgreiches Allel wird so mit der Zeit aussterben. Damit verändert sich natürlich die gesamte Population, das ist richtig. Die Selektion selbst wirkt aber am Individuum.

Dass Selektion am Individuum wirkt und nicht an der Population, kann man sich durch folgendes Gedankenexperiment noch einmal verdeutlichen. Stellen wir uns vor, wir haben eine Population und in dieser taucht nun ein Individuum mit einer neuen Mutation auf, die aber sehr stark vorteilhaft ist. Es wächst heran, kommt in seiner Umwelt überdurchschnittlich gut zurecht, weil es z. B. erfolgreicher vor Räubern fliehen kann. Es lebt daher länger als seine Artgenossen und hat mehr Nachkommen als diese - zumindest ein Teil seiner Nachkommen wird seine vorteilhafte Mutation erben und so kann sie sich mit jeder neuen Generation schließlich ausbreiten. In diesem Fall kann die Selektion zu Beginn ja nur an diesem einen Individuum ansetzen, denn allen anderen Individuen fehlt diese vorteilhafte Mutation. ;-)

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Ottavio  21.01.2020, 19:26
@Darwinist

Zu Beginn, ja. Aber manches endet anders, als es begonnen hat. Wenn eine ganze Population hellhäutiger, blonder Langobarden aus der nördlichen Lüneburger Heide (die damals noch Kiefernwald war) aufbricht und schließlich die Poebene erobert, wo sie sich zum Adel erhebt, spätestens dann hat der Selektionsdruck die Population erreicht. Er kann dann auch zum Untergang dieser Population führen durch Sonnenstich und Sonnenbrand.

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Darwinist  22.01.2020, 08:34
@Ottavio

Auch dann nicht. ;) Die Selektion kann nicht an der Population ansetzen, wo sollte sie das denn? Selektion setzt immer an jedem einzelnen Individuum einer Population an. Das betrifft natürlich die gesamte Population, da alle Individuen den gleichen Selektionsdruck erleben. Er wirkt aber bei jedem einzelnen und nicht bei der Gemeinschaft.

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Liebe EliteHighSchool, bevor ich solche Fachfragen mit meinem Halbwissen beantworte, schaue ich lieber erst mal bei wikipedia nach. Den Brockhausband Biologie und Sexualität hat meine Tochter in München.

Und siehe da, diese Begriffe sind dort sehr gut erklärt, sodass auch ein Laie wie ich, der Bio nach der Elften abgewählt hat, das gut versteht.

Das Wort "Allel" mag zwar nicht sonderlich glücklich gewählt sein; es heißt auf Deutsch "einander". Aber immerhin, parallel heißt beieinander, und mehrere Allele sind so etwas wie "parallel". Verschiedene Ausprägungen eines Merkmals, z.B. des Merkmals Haarfarbe. Ein Allel sind blonde Haare.

Menschen lebten zuerst nur in Afrika, hatten braune Haut und schwarze Haare - alle, bis auf ein paar Mutanten, die aber frühzeitig an Sonnenbrand und Sonnenstich verendeten.

Dann wanderten einige nach Europa aus, nach Mitteleuropa gar. Da erwiesen sich die vielen dunklen Pigment als hinderlich, denn der Mensch braucht Sonnenlicht in der Unterhaut, um Vitamin D zu bilden. Plötzlich waren die bisher wenigen hellhäutigen Blonden unter ihnen im Vorteil, Sonnenbrand und Sonnenstich waren selten, Vitamin D - Mangel häufig. Es entstand ein Selektionsdruck derart, dass die hellen Menschen plötzlich bessere Gesundheit und bessere Vermehrungschancen hatten als die dunklen. Damit stieg auch die Frequenz = Häufigkeit des hellhäutigen blonden Allels an, bis es sich in der Lüneburger Heide fast ganz durchsetzte. Aber dann kam wieder eine Zeit der großen Vermischung, und die Frequenz dies Allels ging wieder zurück, selbst in der Lüneburger Heide. Das ist doch eigentlich ganz einfach, oder ?

Woher ich das weiß:Recherche