Warum wird es oft so dargestellt, als ob die 60er ein einziger Kaufrausch gewesen wären?

6 Antworten

Wo wird das denn so dargestellt?


earnest  02.01.2021, 11:49

Was für dich hier "Dekadenz" ist, war und ist sicher für Millionen von Menschen völlig "normal".

Achte vielleicht auch auf deinen Blutdruck.

Beim Wirtschaftswunder geht es um den Bezugspunkt. Mit heute verglichen war das sicherlich nicht der große Konsumrausch und Wohlstand, keine Frage.

Allerdings hatten die Menschen damals die Kriegs- und Nachkriegsjahre gerade überwunden. Da ging es nicht um Fernseher oder Autos - sondern ums nackte Überleben, um Hunger, Kälte und lebensbedrohliche Not!

Wenn man DAS als Bezugspunkt nimmt, waren diese Jahre dann durchaus eine 180-Grad-Wende, eine Zeit des Überflusses und Konsums. Und es ging eben immer weiter bergauf, mit jedem Jahr ein bisschen mehr, wie du ja auch bei deiner Familiengeschichte sehen kannst. DAS ist gemeint mit dem Wirtschaftswunder und den "fetten Jahren".

Man muss das in Bezug setzen zu den Jahren davor.

1933-45 war Gewaltherrschaft und Krieg

Nach dem Krieg war man froh, ein Dach über dem Kopf zu haben und was zu essen, Lebensmittelrationierung, Millionen Flüchtlinge, nicht aus Afrika sondern Deutsche aus den Ostgebieten. In den 50gern hat man dann langsam das Nötigste wieder aufgebaut, man war froh Arbeit zu haben und eine Wohnung.

Die erste Wohnung haben meine Eltern 51 erst bekommen, als sie geheiratet haben, und mit etwas Glück weil der Arbeitgeber meiner Mutter ein Grundstück hatte und das Haus dort neu gebaut hat.

In den 60gern war man dann soweit, an "Luxus" zu denken, den ersten Schwarz Weiss Fernseher, das erste Auto (ein Käfer mit 34 PS war das was heute der Golf mit 150 PS ist), ein Telefon, Urlaub im Ausland (Holland, Italien). Also alles das was für die unteren Einkommen heute selbstverständlich ist. Auch das Feiern war ein Luxus, sich satt essen zu können, der Sonntagsbraten.

Bitte was?

60er war Twist, Beat, Soul, Folk, Psychodelic und beginnender Hardrock, in Deutschland auch Krautrock. Abgesehen von natürlich ganz viel Schlager und in der Bildungsschicht noch vorrangig klassischer Musik.

Petticoats waren Anfang der 60er schon out. Pencilskirts ("Audrey Hepburn Stil") und bald schon Miniröcke waren Mode. Immer häufiger auch Hosen, anfangs gerne in Pastelltönen und gegen Ende der 60er zunehmend mit Schlag.

Rock n Roll war 50er Jahre und kam in Deutschland sowieso gar nicht richtig an. Aber das ist ein Thema für sich. Eine Single Schallplatte kostete 4-5 DM, eine LP 18-20DM. Egal ob 50er Jahre, 60er, 70er oder 80er Jahre. Best Price, billige Compilations und Aktionspreise gab es in den 50ern aber noch überhaupt nicht. Das konnten sich Jugendliche der Arbeiterschicht damals gar nicht leisten. Wenn, warfen sie mit mehreren zusammen, um mal eine Platte zu kaufen, zumal viele Arbeiterfamilien eh gar keinen Plattenspieler hatten. In den 60ern hatten Jugendliche bereits etwas mehr Geld und vorallem richteten sich die dann aufkommenden Welt-Trendrichtungen mehr an die Jugend aus solventerem Hause. Bill Haley - Rock around the Clock ist tatsächlich der einzige Rock n Roll Track, der in Deutschland Platz 1 der Charts erreichte und auch der einzige, der dort jemals in die Top Ten der Jahresverkäufe kam. 1956. Nicht mal Elvis schaffte das in Deutschland. (Später, als er bereits keinen Rock n Roll mehr spielte, war er dann auch in deutschen Charts eine große Nummer.)

"ein Telefon gab es meist im ganzen Ort nicht" und das auch noch in Zusammenhang mit 70er Jahren, ist absolute Einbildung. Es existieren in jedem Gemeindearchiv die alten Adressbücher. Dort steht drin, welcher Haushalt ein Telefon hatte und du kannst sogar zusammenzählen, wieviel es in jeder einzelnen Straße gab. In Hessen (du hast es in den Kommentaren angesprochen) kam bereits 1950 ein vergebener Telefonanschluss auf je 3,9 Haushalte.


Fraganti  02.01.2021, 22:23

Die Absatzzahlen von TV Geräten waren ab 1955 explodiert und so gab es 1960 bereits 5 Millionen Stück in Westdeutschland. Der Reguläre Sendebetrieb war erst 52 aufgenommen worden. 1 Sender, wenige Stunden am Tag.

Es setzte 1960 eine Krise auf dem TV Markt ein, die allerdings auf rein politischem Hickhack basierte und keine wirtschaftlichen Gründe hatte.

Die CDU geführte Bundesregierung hatte die Einführung eines 2 Senders beschlossen, was die Verkaufszahlen in 1959 noch einmal ansteigen ließ und auch dazu führte, dass Menschen die vorhandenen Altgeräte aufrüsten ließen, um bald 2 Programme empfangen zu können.

Die SPD regierten Bundesländer begannen allerdings die Einführung eines 2. Senders mit allen Mitteln verhindern zu wollen, inkl. Klage vor dem Verfassungsgericht. Gleichzeitig brachten sie aber plötzlich auch Pläne zur Sprache, selbst bald einen 3. und 4. Sender einführen zu wollen.

Die Verbraucher waren komplett verunsichert, ob nun überhaupt ein 2. Sender kommen würde oder sogar bald auch 4. Viele kauften lieber erst mal kein Gerät und keinen Umrüstsatz mehr, weil man einfach nicht wusste, ob und was man bald zum Empfang braucht.

Die Klage scheiterte und als 1962 klar wurde, dass 1963 ein zweiter Sender in Betrieb geht, stiegen die Verkaufszahlen wieder sprunghaft an, was dann gerne als Aufschwung bezeichnet wird, obwohl es keiner war. Die Marktbremse war einfach wieder verschwunden.

Das stimmt in gewisser Weise. Die Leute konnten und wollten sich was leisten. Besser leben. Aufatmen nach dem Krieg und dem Wiederaufbau. Man hatte es geschafft. Man hatte endlich wieder Perspektiven für eine gute Zukunft.


Hessen001 
Beitragsersteller
 01.01.2021, 23:47

Ja, da stimme ich ja zu. Aber ein solcher Konsumrausch, wie dargestellt, war es wohl kaum.