Waren die 90er eine friedlichere schönere Welt als heute?

7 Antworten

Ich bin in den 90ern/frühen 2000ern aufgewachsen und fand die Zeit eigentlich gut, wobei ich sagen muss - sie hatte ihre eigenen Probleme. Jede Zeit hat ihr Gutes wie auch ihr Schlechtes und früher war nicht alles besser, dafür aber ist heute auch nicht alles optimal.

https://www.youtube.com/watch?v=J-8OMiqgoas

Meine ältesten Erinnerungen dürften ca. 30-31 Jahre alt sein. In meiner Kindheit habe ich schon relativ viel mitbekommen, über die 90er kann ich einiges sagen und soviel, dass es nicht durchweg einfacher war, aber oft gemütlicher. Ich persönlich vermisse im direkten Vergleich aus den 90ern am ehesten den relativ ruhigen Alltag und den Umstand, dass die Menschen sich eher treu blieben und nicht jeden Tag aufgrund "gesellschaftlicher Quasi-Diktate" meinten sich selbst und ihr Umfeld komplett neu erfinden zu müssen. Man konnte sich auf alles eher verlassen, der Alltag und das Leben in diesem waren insgesamt berechenbarer; es ging ruhiger zu und es gab nicht nur Mainstream.

Man sollte dennoch nicht die rosarote Brille aufsetzen: Damals war nicht alles besser.. es gab genügend Kriminalität, genauso Sexualdelikte, nur wurde das damals einmal pro Monat bei Eduard Zimmermann im "Aktenzeichen XY" gezeigt und nicht in jedem semi-seriösen Klatschblatt und TV-Magazin schamlos aufgewärmt als gäbe es kein Morgen mehr, weil es weniger Medien gab als heute ... Spiegel, Stern, ab 1993 den Focus, paar Magazine, Tageszeitungen regionaler und überregionaler Art, das war's; Internet war was für die "oberen Zehntausend" oder Nerds, die auch ein C-Netz-Handy besaßen. Mein Opa hatte so was (ich glaube schon D-Netz, bin mir aber nicht sicher) in seinem Opel Senator, eine ziemlich imposante Sache damals - so ungefähr sah das aus, unserer hatte aber keinen Digitaltacho.

Andererseits ... die Kriminalitätsrate war damals höher, auch das Denunziantentum untereinander war sehr stark verbreitet und die Stimmung war eher feindseliger und verkrampfter als heute. Leute aus dem Nachbarhaus, die einen freundlich grüßten, verpfiffen einen anonym bei der Neuen Heimat, weil man nach 20 Uhr geduscht hat oder die Kehrwoche nicht 120-prozentig ausgeführt wurde. Man machte sich gegenseitig hinterrücks klein ohne den Mumm zu haben, sich gegenseitig anzusprechen. Freundlicher war der Umgangston früher nicht sondern eher rauer. So habe ich das aus meiner Kindheit teilweise noch in Erinnerung, damals redete man oft nicht mit- sondern über- oder hintereinander. Ansonsten gab es auch Konsumrausch und Konsumdenken, nur in geringerem Ausmaß. Ich kenne noch aus Mitte der 90er die Situation, wo man nicht am Ende der Welt wohnte und trotzdem 20-25 Kilometer zum nächsten Aldi auf sich zu nehmen hatte und man sich auf den "Langen Donnerstag" bis 20 Uhr freute, weil das Geschäft sonst um 18 Uhr zu war - es gab nicht überall ein großes Geschäft.

Es war vielleicht in den Dörfern ganz gemütlich, aber da ist es oft heute noch wie in den 90ern und in meinem Umfeld waren auch die 90er nicht einfach... ich erinnere mich an eine Situation ca. 1996, wo die ganze Gegend unsicher war und kein Kind aus dem Haus durfte, weil irgendwo der Kinderschänder Rolf Diesterweg (siehe hier), der damals in ganz deutschland regelmäßig angeblich mit einem 8er BMW gesichtet wurde, ein paar Kilometer weiter angeblich gesehen worden war wie er auf die Autobahn fuhr oder von der Autobahn runter ging - ich weiß bis heute nicht, ob das stimmte, aber es war schon heftig. Angst vor Fassadenkletterern, Einbrechern, Lug und Trug usw. gab es ebenfalls, aber das gab es schon weit vorher wahrscheinlich.

Auch in den 90ern war die Welt nicht so lässig und "in Ordnung", wie sie einem heute als "die guten alten Zeiten" zu sein scheinen ... in Sachen Verbrechen braucht man sich wie gesagt nur mal alte "Aktenzeichen XY" Folgen bei YouTube anzusehen, da gab es Räuberpistolen genug.

https://www.youtube.com/watch?v=V6L2svvmd5M

https://www.youtube.com/watch?v=PMwRJk-jmh4

Außerdem gab es gesellschaftliche und politische Probleme zuhauf: Stichworte wären die Nachwendezeit mit Arbeitslosigkeit und VEB Abwicklung in den frühen 90ern, die letzten RAF-Attentate und Fremdenhass/aufkeimender Neonazismus! Das waren grob auch die Themen der "Tagesschau" mit Wilhelm Wieben am Mikro und die Themen, über die sich mein Opa am Abendbrot Sorgen machte oder über die in von ihm abonnierten "Spiegel" und "Focus" Heften berichtet wurde. Mit Helmut Kohls Kabinetten war auch nicht jeder glücklich, spätestens ab 1990 und die Wahl 1994 hat seine CDU damals nur knapp gewonnen: Politische Unruhen gab es auch!

Hier ist mal eine Tagesschau-Ausgabe vom 1. Januar 1994, wahllos ausgesucht - und man merkt, es war allerhand los da draußen und viele betreiben heute nur eine Glorifizierung der Vergangenheit.

https://www.youtube.com/watch?v=YZCxuE1B8qA

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

Nein, es gab auch den Bürgerkrieg in Jugoslawien und den brutalen Krieg im großen Kongo, Rwanda, Burundi und Uganda. Und außerdem auch damals schon Krieg in Afghanistan, im russischen Tschetschenien, Somalia, in den zentralamerikanischen Staaten gab es Guerilla-Kriege, ebenso in Kolumbien und der Irak war damals auch nicht friedlich, sondern in Kämpfen verwickelt, genauso wie Israel und die Palästinenser. Und Anfang der 90er Jahre hörte der libanesische Bürgerkrieg erst auf. Die 90er Jahren werden nur gerne verklärt.

Ich bin auch in den 90ern Jugendlicher und Erwachsener gewesen. Und der größte Nachteil heutzutage gegenüber den 90er Jahren ist diese oberflächliche, asoziale Besessenheit von Smartphone und Tick-tock und Verbreitung von Hetzkampagnen und Verschwörungsideen über das Internet. Die letzten beiden gab es früher auch, aber die Möglichkeiten zur Verbreitung sind größer geworden.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

Weil damals der Putin noch ein kleiner russischer Spitzel des KGB war, und damals ebenso unbedeutend, wie die anderen politischen Hasardeure Kim Jong Un, Xi Ping und Erdogan.

Die 90er waren ein tolles Jahrzehnt. Ich bin Ende der 80er volljährig geworden und hab so die 90er als junge Erwachsene erlebt. Zunächst Ausbildung, erstes eigenes Auto, erste eigene Wohnung, danach der erste richtige Job, ständig mit Freunden unterwegs, die Nacht zum Tag gemacht und den Tag zur Nacht. Ja, ich hatte definitiv die meisten Freiheiten in den 90ern. Was aber natürlich auch daran lag, dass ich da gerade erwachsen geworden bin, tun und lassen konnte was ich wollte, jung und sorglos war und einfach nur eine Menge Spaß hatte.

Wenn ich mir aber vorstelle, ich wäre heute in dem Alter... Oh je, oh je. Langsam darf man ja gar nichts mehr. Nicht mal mehr normal reden. Immer fühlt sich jemand entweder angesprochen oder nicht richtig angesprochen. Egal was man sagt oder macht, es ist immer falsch. Neue Worte werden konstruiert, damit sich ja niemand benachteiligt fühlt. Jeder hält sich für wichtig genug, dass alle anderen nur noch auf Zehenspitzen um einen herumschleichen dürfen, um ja niemandem auf den Schlips zu treten.

Die Politik stößt uns seit Jahren von einer Krise direkt in die nächste. Man hat das Gefühl, es hört gar nicht mehr auf und darf schon gespannt sein, was sie sich dieses Jahr für uns ausgedacht haben. Man ist ja schon geneigt zu sagen, schlimmer kann es nicht mehr werden, aber bisher haben sie uns immer wieder aufs Neue überrascht.

Dinge, die noch bis vor kurzem selbstverständlich waren, wie z.B. eine warme Wohnung, ein warmes Bad oder ein voller Kühlschrank, sind plötzlich zum Luxus geworden, den sich bald nur noch Superreiche und Grünenwähler leisten können. Für viele geht es derweil immer mehr an die Existenz. Und jetzt ist auch noch in so manchem Ex-Pazifisten eine neue Kriegslust erwacht, dass einem fast schon angst und bange wird.

Ganz ehrlich, vor 30 Jahren hätte ich nie und nimmer gedacht, dass wir uns trotz Fortschritt derart zurückentwickeln, dass wir uns 30 Jahre später in einem solchen Szenario wiederfinden. Und irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass das erst der Anfang ist. Hoffentlich nicht vom Ende.

Es war sicher keine schlechte Zeit,

aber der Arbeitsplatzmangel war schon enorm!

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

Ursusmaritimus  07.02.2023, 21:36

In den 90ern im Osten, Ja im Westen, Nein!

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Josie258  07.02.2023, 21:40
@Ursusmaritimus

In Österreich war es damals sehr schlimm - Firmen wanderten nach Osteuropa ab -

Lehrstellen waren Mangelware, Plätze auf weiterbildenden höheren Stellen wie ein Lottogewinn, der Jugoslawienkrieg vor der Haustür.......ich hatte damals echt oft Existenzängste!

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Ursusmaritimus  07.02.2023, 21:41
@Josie258

Das kann ich nicht beurteilen wie es in AU war, aber gut vorstellen das du Ängste hattest!

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Josie258  07.02.2023, 21:47
@Ursusmaritimus

Da haben es doch tatsächlich die heutigen Jugendlichen besser, denen die Ausbildungsplätze nachgeworfen werden!

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Ursusmaritimus  08.02.2023, 07:28
@Josie258

Da muss ich dir recht geben eine solche Zeit für Heranwachsende mit Arbeitswillen habe ich in >45 Jahren Berufsleben nicht erlebt.

Aber das gilt für alle <40, die geburtenstarken Jahrgänge hinterlassen die nächsten zehn Jahre Riesenlöcher welche gestopft werden müssen.

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Ursusmaritimus  08.02.2023, 12:25
@Josie258

Ja, das ist es und das habe ich die letzten Jahre jedem meiner Azubis und auch meinen Kindern klar gemacht.....eine Riesenchance!!

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Josie258  08.02.2023, 12:32
@Ursusmaritimus

Es müsste nur noch der soziale Status der Arbeiter und Handwerker erhöht werden!

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Ursusmaritimus  08.02.2023, 12:48
@Josie258

Das erledigt sich von alleine wenn genügend Akademiker als Taxifahrer, Call Center Agents oder Finanzberater ihr Leben fristen......

Ich habe zumindest mit dem Schwarzen unter dem Fingernagel meine Familie ernährt und das nicht schlecht......

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Josie258  08.02.2023, 12:52
@Ursusmaritimus

Das erledigt sich von alleine wenn genügend Akademiker als Taxifahrer, Call Center Agents oder Finanzberater ihr Leben fristen......

Ich schätze es wird so sein - und ich freue mich darüber!

Ich habe zumindest mit dem Schwarzen unter dem Fingernagel meine Familie ernährt und das nicht schlecht......

ich auch......;)

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Ursusmaritimus  08.02.2023, 15:00
@Josie258

Danke; ein Eisbär!

Tapsig, friedlich....aber wenn er sich aufrichtet und stinkig wird; flüchten!

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CorgiMcweasel  30.05.2023, 13:06
@Ursusmaritimus

im Westen gab es auch mehrere Regionen, wo Millionen von Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen waren (einschl. Kinder und Kinderarmut), z.B. im Ruhrgebiet und vielen norddeutschen Hafenstädten

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