Punk: Nadel im Ohr, Klinge am Hals?
Inwieweit entspricht folgender Artikel der Realität?
Häßlich geschminkte Jugendliche tragen in Müll-Klamotten, mit Nazi-Insignien und Hundeketten Protest gegen Arbeitslosigkeit und Langeweile in der Industriegesellschaft zur Schau. Ihr primitiver »Punk-Rock« wird von Plattenfirmen erfolgreich vermarktet. Jet-Setter von New York bis München empfinden die Lumpen-Mode als letzten Schick. Doch echte Punker sehen den Rummel schon kritisch: »Da läuft irgendwas schief.«
Der Lärm aus den Marshall- und Hiwatt-Verstärkertürmen ist so groß, daß das Trommelfell nur noch ein undifferenziertes Pauken registriert. Die Wörter »Gib mir Tod, ich will nicht leben, also gib mir Tod«, die ein pickliger Teenager namens Johnny Blood, Sänger der Band »Dead Dogs«, hektisch ins Mikrophon heult, sind kaum zu verstehen.
Von den Neonröhren, Metallrohren und Eisenträgern an der Decke des überfüllten, mit etwa 200 Quadratmetern viel zu kleinen Kellers tropft Kondenswasser auf die schwitzende, dampfende, auf und ab hüpfende Menge: Pogo-Tanz im Londoner »Roxy« am Covent Garden.
Die Tanzenden tragen zerfetzte T-Shirts; ihr Zottelhaar ist grün, rosa oder violett gefärbt und mit einer Pomade aus Vaseline und Talkumpuder aufgetrimmt. Manche haben sich Sicherheitsnadeln durch Wangen, Lippen, Nase oder Ohrläppchen gesteckt. Irgendwann schleudert der Sänger eine leere Bierbüchse unter die Tänzer, die ihre Arme wie Windmühlenflügel schwingen, um in der Underground-Meute einen winzigen Platz zu behaupten.
Einige, zumeist Jungen zwischen 15 und 20, halten sich am Hals umfaßt, als würden sie sich würgen. Schlägen und Tritten der Nachbarn ist dennoch kaum auszuweichen. Manche Nase blutet, aber allen scheint das zu gefallen.
Plötzlich zerschmettert ein Halbstarker eine Bierflasche an der Bühne, droht mit dem Scherbenhals um sich und schlägt einen gekonnten Magenhaken. Der Getroffene reißt dem Schläger, der gleich darauf zu Boden geht, mit der Sicherheitsnadel vom Ohr das halbe Ohrläppchen ab. Blut strömt, aber die Pogo-Ekstase geht weiter, niemand kümmert sich darum.
Die Szene ist heute schon Literatur -- oder was man dafür halten mag. Der 16jährige Gideon Sams, ausgeflippter Sohn eines Londoner Nahrungsmittel-Großhändlers, vermittelt sie in seinem Kurzroman »The Punk"*, der vom Regisseur Michael Same ("Myra Breckinridge") für eine Million Dollar verfilmt werden soll.
Denn einmalig ist dieses gewalttätige Vergnügen keineswegs: So geht das jede Nacht, nicht nur im »Roxy«. Auch im Londoner »Vortex«, das knapp 500 zu menschlichen Horrorfiguren gestylten Jugendlichen (zu wenig) Platz bietet, im »Marquee«-Club und in zahllosen ähnlichen Pinten bis hinauf nach Manchester und Liverpool bringt derzeit aggressiver Primitiv-Rock aufgestaute Ängste und Ärger eines halbwüchsigen Lumpenproletariats und frustrierter Bürgerkinder zur Entladung.
Weiterer Artikel: https://www.google.com/amp/s/www.spiegel.de/politik/punk-nadel-im-ohr-klinge-am-hals-a-f0e4c3ba-0002-0001-0000-000040694217-amp
6 Antworten
Ich kann mich an die Punk-Zeit Anfang der 80er noch lebhaft erinnern... Der Artikel in der Fragestellung passt absolut in diese Zeit. Das war klar die echte Punk-Bewegung.
Die 80er waren ja sowieso die Ära der Subkulturen - Es gab Punks, New Waves, Poppers, Neons, New Romantics, Rocker ... Ich glaube, die wenigen, die wirklich eine politische Aussage vertraten, waren die Punks (Anarchie und gegen alles) und Rocker. die sich in den USA nach den Kriegen zusammenschlossen, weil sie in der Gesellschaft keinen Raum mehr finden konnten.
In den 90ern wurden die Punks dann eher Styler - die politische Aussage geriet in den Hintergrund, der Style trat hervor. Der Punk zu der Zeit war penibel in der Auswahl seines Outfits. Manchmal habe ich mich schon gewundert, wovon der Schnorrer die coolen und sicher nicht billigen Klamotten bezahlt hat, wenn er doch pleite ist... :)
Heute geht der Punk-Style doch absolut zum Mode-Standard. Und die politische Aussage findet man heute doch auch wieder. Nur die politischen Punks sind doch weitestgehend aus dem Stadtbild verschwunden - auch in der Hauptstadt.
Aber ich hatte immer etwas übrig für Subkulturen. Ein bisschen `was Rebellisches trage ich auch in mir, vielleicht auch deshalb....
Zum Pogo: Bei einem Ärzte-Konzert 1983 im Metropol in Berlin wurde auch Pogo getanzt. Und es wurden Bierbüchsen quer durch die Menge geworfen, auch auf die Bühne. Und da traf Bela B. eine Bierbüchse am Kopf und das Konzert musste unterbrochen werden. Wenn man mal sieht, wie die Leute beim Pogo abgehen, dann kann einem schon mulmig werden...
Das ist ein alter artikel. Außerdem waren das extreme Beispiele mit denen man nicht gleich das ganze Genre verurteilen kann.
Dir ist klar, dass das ein Archiv Artikel von 1978 ist, oder?
Ob das heute noch so ist wage ich grundsätzlich zu bezweifeln, aber die hoch zeiten des punk waren durchaus nix für Schwache Nerven und bis heute gibt es zumindest noch vereinzelt durchaus ziemlich extreme Bands bzw. Events in diese Richtung.
Ich persönlich habe solche extremen Szenen eigentlich nie auf nem punk oder auch metal Konzert erlebt, zumindest nicht in dem Sinne, als das es hier um "spass" ging. Wenn, dann waren es die shows der Bands selbst die bewusst mit irgendwelchen Aktionen schocken und oder unterhalten wollten in irgendeiner Form.
Die Punkszene ist nunmal der Mut zur Hässlichkeit, außer man ist so ein kleiner Edelpunk der gewissenhaft drauf achtet was er am Leib trägt.
Punk war schon immer provokativ, sei es der Charakter, die Klamotten oder die Musik, es sollte schon immer zeigen das man nicht 08/15 ist und das man durchaus seinen eigenen Kopf hat.
Für mich persönlich war es in den 90er Jahren die geilste Zeit überhaupt, das kannst du mit heute überhaupt nicht mehr vergleichen, viele davon nennen sich lediglich Punks weil sie es chic finden. Kenne einige Jungspunde die brav das Haus verlassen, sich umziehen, ein wenig auf der Platte abhängen und sich dann um Punkt 5 wieder umziehen und wieder ein auf braves Kind machen *rofl*
Uns hat das damals absolut nicht interessiert was die Eltern gesagt haben diesbezüglich, je abgerockter wir aussahen desto mehr hat es uns amüsiert wie andere sich darüber aufgeregt haben 🤣
Außer dass der Verfasser ein paar Sachen wie 'Zottelhaar' usw. benutzt, war das am Anfang der Punkwelle (Ende der 70er) durchaus realistisch.Nicht nur in London....auch in Deutschland ging damals die Post ab.....wenn man das salopp sagen kann.Also man sollte sich damals schon sehr genau überlegen, ob man zu einer Punk-Sause geht oder nicht.Schon bei einem 'Konzert' der Sex Pistols wurde nicht nur Pogo getanzt.^^
Nachtrag : Ich selbst hatte auch eine Sicherheitsnadel im Ohr.Ohne die lief gar nix.^^
Heute sind die meisten am rumheulen wenn man Pogo tanzt 😂 hab ich schon mit meinem Mann erlebt, da kamen mehrere 19 jährige an von wegen "Lass Mal Pogen"... Mhm... Die haben an dem Abend 1x richtig in ihrem Leben gepogt und waren dann am heulen 😂