Mathematisch denken lernen?

3 Antworten

Tja, wenn es darauf nur die Antwort gäbe...

Letzten Endes ist das Verständnis mathematischen Stoffs ein Zusammenspiel aus dem Beweise nachvollziehen können und dem Wissen, wie man auf einen Beweis kommt. Ersteres ist dabei der viel einfachere Part, letzterer benötigt Erfahrung, die man im Laufe seines Studiums sammeln muss.

Jede Aussage, die man in einem mathematischen Kontext trifft, benötigt eigentlich einen Beweis. Nur ist der eben oft "trivial" - aber manchmal nur für den Dozenten - oder eine Fleißaufgabe für die Nachbereitung. Wenn man keinen konkreten Beweis angibt, sollte man es aber trotzdem tun können. Das ist das A und O. Behaupte nichts, für das du nicht vollkommen stehen kannst (übrigens auch generell ein guter Tipp). Im Prinzip braucht man dafür zwei Dingen:

Radikales Auseinanderpflücken. Oder auch: Beweise verstehen können. Am Ende des Tages ist jeder Beweis nur eine Aneinanderreihung von Implikationen. Ein ganz triviales Beispiel: Die Summe gerader ganzer Zahlen ist gerade. Der Beweis:



Was braucht man jetzt, um den ganzen Beweis zu verstehen? Man muss jede Implikation verstehen. Man würde einen Beweis natürlich niemals so aufschreiben, aber das ist einfach die genaue Struktur des Beweises - radikal auseinandergepflückt. Das hilft zu erkennen, welche Implikation man im Beweis nicht versteht. Der Beweis ist kurz, aber jede Implikation fußt im Prinzip nochmal auf weitere Prämissen (wie z.B. dass Addition und Multiplikation distributiv sind), die ich aber weg gelassen habe, weil sie entweder trivial sind oder die Übersichtlichkeit stören würden. Was tun wir jetzt, wenn wir eine Implikation nicht verstehen? Wir suchen genau diese Prämissen.

Angenommen, wir verstehen die Folgerung von 2 nach 3 nicht:



Dann überlegen wir uns, was noch eingehen könnte: Wir folgern hier aus einer Existenzaussage eine andere Existenzaussage. Die einfachste Möglichkeit, eine Existenzaussage zu beweisen, ist ein Beispiel anzugeben (auch wenn so ein allgemein konstruktiver Existenzbeweis nicht immer möglich ist): Hier könnten wir einfach versuchen, explizit ein k anzugeben, das die Eigenschaft erfüllt. Wir wissen, dass die linke Seite gilt und wollen zeigen, dass die rechte Seite gilt. Es gibt also ganze Zahlen n, m, die die Eigenschaft links erfüllen. Nehmen wir das als gegeben an und versuchen, damit zu arbeiten:



Es gibt hier also eine solche Darstellung. Der Clou hier ist jetzt, auszuklammern. Dass wir ausklammern dürfen, rechtfertigt das Distributivgesetz der ganzen Zahlen (das wir hier als bewiesen annehmen).



Und nu - wir haben jetzt eine solche Darstellung gefunden, die die rechte Seite postuliert. Wir können



setzen und haben damit Existenz



gezeigt. Was theoretisch noch fehlt und ebenfalls eingeht, ist, dass die Summe zweier ganzer Zahlen wieder eine ganze Zahl ist. Aber das ist zum Beispiel so trivial, dass man das in der Regel nicht im Beweis erwähnt.

Mit diesem radikalen Auseinanderpflücken fährt man im Normalfall sehr gut. Denn es ermöglicht, einen Beweis so weit herunterzubrechen, dass man irgendwann bei einer Aussage ankommt, die man versteht (und wenn es nur ist, dass die Summe ganzer Zahlen wieder ganz ist) und sich dann davon wieder hocharbeiten kann, bis man die gewünschte Implikation nachvollzogen hat.

Und das ist ein fundamentaler Part, zu sehen, wie andere Dinge beweisen. Mathe ist faktisch auch viel Abgucken, denn es erwartet niemand, dass man auf ein Konstrukt, das in hunderten von Jahren entwickelt wurde, in ein paar Jahren Studium selbst aufstellt. Der Erfolg eines Studiums lässt sich dann aber daran messen, ob man es könnte.

Erfahrung. Eigenes Beweisen. Wer immer nur fremde Beweise liest, wird Mathematik nicht verstehen können. Würde man hunderte von Beweisen lesen und sich jede einzelne Strategie merken, könnte man per Trial & Error sicher viel selbst beweisen. Aber man kann sich nicht alles merken. Wichtiger als zu wissen, was funktioniert, ist zu wissen, was nicht funktioniert. Und das wird man beim idealisierten Lesen von fremden Beweisen nie sehen. Der Beweis steht da als wäre er vom ersten bis zum letzten Satz einfach heruntergeschrieben worden, aber was zwischen den Zeilen steht, wie erkannt wurde, dass es sinnvoll ist, einen Beweis so zu führen und warum man ihn nicht anders führt, kann man nicht rauslesen.

Das ist aber der wichtigere Teil, dadurch lernt man das "drauf kommen". Um eine Implikation zu beweisen, spielt man mit den gegebenen Voraussetzungen herum. Man kann aus jeder Aussage unendlich viel folgern, muss aber genau den Weg finden, der zur Behauptung führt. Und das geht nur durch Rumprobieren. Natürlich sieht kein Beweis am Ende nach viel Rumprobieren aus, er sieht straight aus, als hätte man ihn so heruntergeschrieben und wäre sofort auf dem richtigen Pfad gewesen. Das ist aber faktisch nicht so.

Wer nie Dinge falsch macht, wird versagen. Durch das alleinige Lesen von Beweisen wird man aber nie etwas falsch machen, wenn die Beweise richtig sind. Ich wiederhole mich wahrscheinlich, aber: Man muss wissen, was nicht funktioniert. Man muss einen falschen Weg gehen, diesen dann wieder über den Haufen werden, dann einen anderen versuchen, auch den über den Haufen werfen, dann vielleicht den ersten wieder gehen, aber ab der Hälfte anders abbiegen und irgendwann kommt man dann am Ziel, der Behauptung an. Das allgemeine Verständnis erhält man aber nicht durch das Verständnis einer konkreten Aufgabe. Und das ist der Punkt.

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Wenn du das Skript nicht verstehst, gehe es Satz für Satz durch. Marker dir jeden Satz an, den du nicht verstehst und zerpflücke ihn. Woraus könnte er folgen? Wie könnte er folgen? Bemühe Google, Lehrbücher oder Frageplattformen. Das ist unfassbar mühsam, aber der Schlüssel zum Erfolg. Man kann mit einem seidenen Verständnis weit kommen, aber nicht bis zum Ende.

LG

Morgen,

vorab bin ich noch kein Student, jedoch bin ich sehr Mathematik passioniert und das schlägt eben auf die engen Freunde um, aus diesem Grund hat einer mir von seiner Cousine erzählt, die bereits studiert und er meinte zu mir, sie hätte am Anfang Probleme v.a. mit dem Beweisen und dass sie nie wirklich auf die Schlüsse gekommen sei. Mit der Zeit und insbesondere am Ende des Studiums hat sich dieses Problem gelöst. Sie meinte, dass es irgendwo auch Erfahrung sei.
Das zum Einen, außerdem gibt es diverse Beweis Bücher mir fällt gerade folgendes ein: Wie man mathematisch denkt von Kevin Housten. Das wäre vllt interessant für dich, solltest du dies noch nicht gelesen haben.

Falls die Frage auf inhaltliche Hilfe abzielte, kann ich leider nicht behilflich sein.

Bleib gesund!

Thorax

Woher ich das weiß:Hobby

Es gibt einige Grundlagen der mathematischen Sprache, die du dir sicher aneignen kannst, z.B. die Bücher von Beutelsbacher

https://www.amazon.de/Das-ist-trivial-mathematischer-Studienanfänger/dp/3834807710

https://www.amazon.de/gp/product/B004WCJLRK/ref=dbs_a_def_rwt_hsch_vapi_tkin_p1_i4

https://www.amazon.de/Albrecht-Beutelspachers-Kleines-Mathematikum-wichtigsten/dp/3406697062

https://www.amazon.de/gp/product/B01L0AG2BY/ref=dbs_a_def_rwt_hsch_vapi_tkin_p2_i1

Tatsächlich ist aber der Weg zum Erfolg in Mathematik hart und steinig. Und er besteht aus Üben, Üben, Üben. Mit Abschreiben Üben, ohne Abschreiben Üben. Nicht traurig sein, wenn es ohne Abschreiben nicht klappt. Nochmal mit Abschreiben Üben, nochmal ohne Abschreiben Üben. Dann noch mal alte Klausuren Üben. Mit Lösungen, dann ohne Lösungen. Dann wieder Üben. Hatte ich Üben, Üben und Üben schon erwähnt?

Ein weiterer Punkt ist, sich nicht ausschließlich auf die Scripte zu verlassen, die bleiben vom Umfang her meist an der Oberfläche. Gute Lehrbücher sind gefragt, das ist sehr gut angelegtes Geld. In Analysis kann ich dir das Buch von Heuser: Analysis I empfehlen. Für Lineare Algebra den Kowalsky, der aber schon ein wenig veraltet ist und dem die modernen, algebraischen Ansätze fehlen. Es gibt auch ein LA Buch von Beutelsbacher. Für Numerik den Klassiker Stoer/Bulirsch oder das Buch von Schwarz/Köckler. Bei Stochastik habe ich leider keine Ahnung.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Dipl.Math.